Wilhelm von Frerichs – Ein Denkmal für die Kederbacher

Zeitung des deutschen und österreichischen Alpenvereins

1929, S. 169ff

Die Kederbacher aus der Ramsau

 Eine deutsche Führerfamilie

 Von W. F. b. Frerichs, Berchtesgaden

In steigendem Maße wird der Alpinismus zu geschichtlichem Rückschauen genötigt; mit allen anderen Erscheinungen dieses Zeitalters der Wende teilt er die historische Einstellung. Überall ertönt die Frage, wie es doch kam, daß wir in dieser so janusköpfigen Gegenwart stehen. Kein Zweifel, daß wir uns einem Abschluß nähern, der zwingt, für einen Augenblick haltzumachen und rückwärts gewendet im Geist den Weg nochmals zu durchmessen, der hinter uns liegt. Dieser Trieb zur Rechenschaft hat nichts gemein mit jenem Historizismus, der wie eine schleichende Krankheit auf dem letzten Jahrhundert gelastet hat. Nicht um ein Zurückrufen endgültig abgelebter Zeiten handelt es sich, nicht um Romantikerwunsch des Wiedererweckens der Vergangenheit, sondern um ein klares überblicken der Richtlinien, die unbewußter Trieb früherer Geschlechter einst zog. Auch der Alpinismus unterliegt solchem Zwange. Die Rückschau leitet aber nicht nur zu den großen, seelengeschichtlichen Geisteskurven, zu deren Auswirkungen die so verschieden gearteten Epochen der Beziehungen zwischen Mensch und Berg ebenfalls gehören, sondern auch zu der Kleinwelt der handelnden Personen, den vielköpfigen Trägern der Bewegung. Die Pioniere der Alpen, ihr Leben und Erleben, stehen heute von neuem im Vordergrund der Betrachtung für jene Alpenfreunde, deren Empfinden nicht auf dem dünnen Querschnitt des Ewig-Gegenwärtigen allein fußen mag, die vielmehr ihr Weltbild um die Dimension der Vergangenheits-Tiefe abzurunden sich mühen, um ahnend die Zukunfts-Weite fühlen zu können. Die Schar der Vorläufer, der Pioniere der Alpen, formt sich aus Liebhabern, Führern und Berufs-Bergsteigern; zu diesen zählen auch die Grills aus der bayerischen Ramsau, die einzigen großen Führer, die den deutschen Berglanden entsprossen sind.  Ihnen gelten diese einfachen Worte des Gedenkens, obwohl — oder vielleicht gerade weil — ihr Wirken dem heutigen Geschlecht schon sehr fernsteht.

 Heimat und Vater

Schmal nur ist der Alpensaum, der vom Hagengebirge im Osten bis zum Bregenzer Wald im Westen Deutschlands Südwall bildet. Nicht in eisige Höhen ragen seine bescheidenen Voralpengipfel. Waldige Täler, zierliche Hörner, dunkle Seen, wuchtig lastende Kalkklötze, rauschende Flüsse und Wiesenmatten fügen ein Erdbild, das immer klein, eng, anspruchslos bleibt, nirgends die Größe klastischer Gebirgslandschaften auch nur streift; ein behagliches Bürgerhäuschen im Vergleich mit den schimmernden Palästen der westlichen Alpentäler. Bajuvaren, Bergschwaben, Alemannen besiedelten einst dies Land, rangen armem Boden, rauhem Klima kärgliches Leben ab.

Ehe das Tal der Ache stromaufwärts zur bayerischen Ramsau sich weitet, schnüren die Uferwände sich zu enger Klause, über deren Felswall eine sonnige Berghalde sich dehnt. Dort Hausen seit Jahrhunderten die Grills auf dem Kederbach-Lehen, als vom fürstlichen Stift Berchtesgaden angesiedelte Lehensbauern. Klein nur war von jeher der ihnen zugewiesene Besitz, klein ist er noch heute. Zehn Hektar nur umfaßt er, zu gering, um auf karger Erde unter rauhem Himmel auch bei Anspannung aller Kräfte eine Familie zu nähren. Neben der Viehzucht mußte deshalb seit alters her noch ein anderer Erwerb die Führung des Lebens erzwingen.

In diesem Lande, auf diesem Fleck Erde ward 1835 Johann Grill geboren, der größte der deutschen Führer, ebenbürtig den Pionieren der Westalpen, ja überlegen gar manchem unter den berühmten Vorkämpfern der Schweiz und Frankreichs. Noch seltener als anderwärts erblühen Genies im Schoße der Bergbayern. Kleine Talente sprießen wohl häufig auf in diesem leicht bewegten Volke, aber hohe Gaben sucht man dort vergebens in den verschiedenen Bezirken menschlichen Wirkens. In Grill aber wurde der göttliche Funken künstlerisch bildender Bergmeisterschaft geboren. Auf seine Wiege blickten über den Kranz der Wälder hinweg der flache Rücken des Watzmanns, die grauen Kalkmauern des Hochkalters: die ersten Berge, die das junge Auge erspähte. In den Forsten zu ihren Füßen, auf den bröckelnden Graten ihrer Höhen wurde der Jüngling heimisch, als Holzknecht, als Treiber bei den Gemsjagden der Oberhäupter des Staates. Denn noch waren die Berchtesgadener Voralpen das bevorzugte Jagdgefilde der neuen Landesherren, der bayerischen Könige, wie zuvor das der Fürstpröpste des Stiftes. Hier betrat Kederbacher zum ersten Male das unwegsame Berggelände, übte Auge und Fuß, lernte die Schönheitswerte heben, die im dürren, krummholzbehangenen Kalk schwerer zugänglich sind als im lichteren Reiche der Hochwelt.

Schweiften seine Wünsche vielleicht damals schon hinüber zu den blinkenden Eishörnern der Tauern?

Die Liebe zur Schönheit der Berge war früh in ihm aufgegangen; ein echteres, einfacheres, geraderes Gewächs als das Naturgefühl des stadtgebundenen Menschen, das, aus dem tiefen Zwiespalt zwischen Erde und Mensch gezeugt, um so heißer betont ist, je größer und unschließbarer die Kluft geworden. Des noch naturverbundenen Bergbauern Liebe zur Alpenschönheit, umweglos unromantisch, nicht aus Abkehr geboren: ein seltenes Ding.

Abenteuerlust brannte heiß in seinen Adern, die Dynamik der wilden Europäerseele, jenes wunderlichen Gemisches aus Mittelmeergeist und Nordlandssturm. Das, was man heute den Sportgedanken nennt, lebte schon damals in ihm: der Drang, das Neue, unmöglich Scheinende zu erzwingen, die Grenzen weiter vorzurücken und immer weiter. Dies war die Triebfeder, die den Körper hinaufriß auf noch unbetretene Höhen der Heimatberge, allein, oder mit gleichgesinnten Genossen; innerem Rufe folgend, nicht von den Wünschen der Alpenfreunde angefeuert. Denn damals, in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war im Osten das Bergsteigertum erst schwach entwickelt, lebte es noch vom Geist der wissenschaftlichen Gebirgsforscher, von der romantischen Naturliebe der nachsentimentalen Zeit, während im Westen die ersten Schritte empor zur klastischen Höhe des Alpinismus getan werden. In Kunst, in Weltanschauung, in sozialem Geschehen bedeutet diese Epoche einen Einschnitt, einen Wendepunkt des europäischen Geistes, von dem aus ein neues Lebensgefühl seinen Anfang nahm — früher im Westen, später im Osten.

Kederbacher war von Jugend an aus sich selbst heraus Alpinist im vollen Sinne des Wortes ohne die Einwirkungen äußeren Zeitgeschehens, ohne den Antrieb durch die im Entstehen begriffene Gilde der Bergsteiger. Stets hat er diesen Wesenszug zur Schau getragen, auch noch als er Bergführer von Beruf geworden war. Unbeugsamer Wille, höchster Tatendrang wohnten in dem schmächtigen Körper, der von seltener Verstandesschärfe gelenkt wurde. Denn nicht physische Kraft allein, Geist und Seele machen den Meister der Berge. Wahre Herzensbildung, freundliche Sitten, echte Menschlichkeit rundeten sein Wesen zu einem vollen Akkord. Kederbacher war nicht nur ein idealer Bergsteiger, sondern auch eine harmonisch ausgeglichene Natur. Diese reichen Gaben waren ihm vom Schicksal in die Wiege gelegt; er aber hat sie genützt und mit seinem Pfunde gewuchert. Ein verbreiteter Wahn ist der Glaube, daß der Alpinismus den Menschen charakterlich, moralisch, geistig, veredle und auf ein höheres Niveau trage. Wer seltenere Gaben des Willens, Verstandes, Gemütes in sich birgt, der kann sie auch im Gebirge vervollkommnen, wer ohne solche Mitgift geboren, der bleibt in den Bergen das, was er zuvor im Tal gewesen.

Ans Licht der Firne, in die Tauern, zog den schon reifen Kederbacher zuerst Albert Kaindl aus Linz, einer jener schlichten Bergsteiger der Ostalpen, die liebevoll-bedächtig die Höhen ihrer Heimat erstiegen und erschlossen. Es war um das Jahr 1870; Grill stand damals im fünfunddreißigsten Lebensjahr. Im Westen war die Zeit der klassischen Höhe, der Probleme voll Größe und Einfalt, schon fast vorüber; die Pioniere hatten sich teilweise von den, wie es schien, erschöpften Alpen gewendet. Langsam erst, mit spürbarem Zwischenraum, begann sich die Barockperiode neuerer Problematik im westlichen Alpinismus zu entfalten. Im Osten hatte sich der hohe Stil nicht so folgerecht und geradlinig emporbilden können, fehlte hier doch der rechte Stoff für Werke dieser Art. So brach in den deutsch-österreichischen Bergen schon früh die zweite Zeitstufe der Kleinkunst an, in der bald das rasch wachsende Gewimmel des führerlosen Demos sich zu üben beginnen sollte. Neben dem neuen Wesen lebte freilich in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts noch eine kleine ostalpine Pioniertätigkeit kräftig weiter. Zu den Vertretern dieser Richtung gehörten mehr oder weniger F. Arning, K. Babenstuber, G. Hofmann, A. Kaindl, G. Merzbacher, V. Minnigerode, O. v.  Pfister, I. Pöschl, R. v. Lendenfeld, E. Richter, O. Schück, I. Stüdl, B. Wagner: Eisrinnen, Grate und Hütten bewahren noch heute die Namen eines Teiles dieser Männer, welche mit Kederbacher die Alpen vom Ennstal bis zum Montblanc durchzogen und manchen unerstiegenen Gipfel mit seiner Hilfe betraten. Der oft belagerte Tribulaun (1874), der Ödstein (1877) fielen unter seinem Ansturm, zahlreiche neue Wege fand er von der Ortlergruppe im Süden bis zu den bayerisch-österreichischen Kalkalpen im Norden, darunter den Pfad durch die riesenhafte Ostwand seines heimatlichen Watzmanns (1881). Der verwegene Geist Otto Schücks, auf große Dinge gerichtet, stand Pate zu jenem Unternehmen, das später Ludwig Purtscheller, ein großer Freund Kederbachers, mit diesem zu wiederholen versuchte.

Im Jahre 1874 hatte Heinrich Loschge aus Nürnberg den nun schon lange wohlbekannten Führer in das Oberland und Wallis mitgenommen. Seitdem betrat Grill fast alljährlich die Westalpen, oftmals mit nur schwach befähigten Bergsteigern, denen er als einziger Führer diente. Nicht leichtsinnig unterfing sich Kederbacher solcher Dinge, die damals in der Schweiz unerhört waren. Seine Meisterschaft war so groß, daß er es wagen durfte, nicht nur allein den Weg auf die höchsten Berge sicher zu finden, sondern auch noch hilflos-ungeschickte Begleiter glücklich hinauf und hinunter zu lotsen. Die ungeheure geistige Anspannung, die zu solchem Tun gehört, trug er spielend. Und der Lohn für solche Mühen? Es muß festgestellt werden, daß wohl fast alle Ostalpen-Bergsteiger, die mit Kederbacher in die Schweiz zogen, sich in erster Linie aus Ersparnisgründen seiner bedienten, weil sie die hohen Schweizer Führertarife, noch verschärft durch das Zwei-Führer-System, nicht zahlen wollten oder konnten. Ganz zu schweigen davon, daß Grill früher in den Ostalpen, wie er einst selbst unmutig bemerkt hat, schwere Arbeit für fünf Mark täglich geleistet bat. Auch vom geldlichen Standpunkt aus sind ihm manche deutsch-österreichischen Alpinisten zu hohem Dank verpflichtet.

Für seine Laufbahn wurde 1882 ein wichtiges Jahr. „Dessen Sommer sah“, so schreibt Mr. Farrar, „Kederbacher und Peter Dangl von Sulden, einen ebenfalls ausgezeichneten Mann, bekannt durch verschiedene großartige Unternehmungen in seinen Heimatlichen Bergen, in Zermatt, im Dienste zweier brillanter junger Alpinisten, Louis Friedmann und Carl Blodig. Sie bestiegen die üblichen hohen Berge und schickten schließlich ihre beiden Leute auf den Riffel zum Warten und zum Beobachten, wie ihre Herren die Besteigung des Weißhorns führerlos wiederholten. Dies war zuviel für die Selbstachtung Dangls, der sich eines ihm von mir angebotenen Engagements entsann und zu mir nach Paznaun in Tirol entfloh. Dort fand er die Berge zu niedrig für mich. Verschmitzt meinte er: „Das ist nichts für Sie, Herr!‘ und so eilten wir Hals über Kopf nach Zermatt, wo wir, das Weißhorn in der Tasche, sehr zufrieden mit uns selbst eintrafen.

Ich merkte, daß ein Grund für Dangls Vorliebe für Zermatt darin bestand, daß der diplomatische Herr Seiler die Tiroler, die gerade damals mit ihren Herren nach Zermatt zu kommen begannen, an feinem Hoteltisch essen ließ. Dangl erklärte mir mit großer Höflichkeit und ebenso großer Entschiedenheit, ich möge in jedes mir passende Hotel gehen, was ihn aber anbeträfe, so stiege er stets im Mont-Cervin ab.

Dort fanden wir Kederbacher, dessen Ruf mir damals wohlbekannt war; ich war eher enttäuscht, als ich seine nicht sehr imponierende Erscheinung sah, mit ziegelrotem Gesicht, langem braunen Bart, zusammengekniffenen und vom Wetter angegriffenen Augen, und soweit man sehen konnte, nur zwei großen Eckzähnen, was seine Aussprache einigermaßen undeutlich machte. In gewisser Weise erinnerte er mich an die kaum imponierendere Gestalt Christian Almers. Wenig ahnte ich von den Herzen, die in den Körpern der beiden wohnten, noch von der Bergkunst, die in ihren klugen Köpfen steckte. Wer es will, der mag in manchem Aufsatz von Kederbacher lesen, namentlich in der Ö. A.-Z. in den Artikeln Friedmanns, des seinerzeit vorzüglichsten österreichischem Bergsteigers, von einer fabelhaften Geschwindigkeit, und dazu ein sehr belehrender Schriftsteller, wie seine brillante Monographie der Ortlergruppe beweist.

In diesem Winter verstand es Dangl, den ich für drei Wochen engagiert hatte, und der ein großer Verehrer Kederbachers war, es irgendwie so einzurichten, daß Vlezinger (ein württembergischer Amtsrichter, ein ganz reizender Mann, der nun schon lange tot ist) — er hatte Kederbacher engagiert — mich auffordern sollte, unsere Kräfte zu vereinen und mir die Aufstellung des Programms zu überlassen 1).“

1) A. I. XXXI S. 262 sf.

Dieses ist die Vorgeschichte des großen Tages, den ihm das Jahr 1883 bringen sollte, als er im achtundvierzigsten Jahr, zum achten Male innerhalb eines Jahrzehnts die Schweiz wiederum betrat. Die Partie Blezinger-Farrar unternahm zunächst die Besteigung des Wetterhorns, sodann die des Schreckhorns und überschritt die Jungfrau vom Guggi nach Concordia. Darauf vollführten sie die dritte Ersteigung des Finsteraarhorns über den Südostgrat, eine Tur, die später das Sonderstudium des englischen Bergsteigers werden sollte. Ihm vertraute Kederbacher seinen Herzenswunsch an, endlich einmal „etwas wirklich Schwieriges“ unternehmen zu dürfen. Die Ziele des Ramsauers lagen also viel höher als die nicht gerade leichten Wege auf verschiedene Viertausender, die er bereits kennengelernt, ganz zu schweigen von den Normalanstiegen. Sein Augenmerk hatte sich auf die wahrhaft furchtbare Nordwand des Eigers gerichtet, an deren Fuß er bei Alpiglen vorbeigezogen war. Zwar sieht man von dort die Wand stark verkürzt, so daß sie ihren wahren Charakter hinter scheinbar harmlosem Aussehen verbirgt. Trotzdem ist kaum anzunehmen, daß Kederbacher die Wand völlig verkannt haben sollte; denn er hatte zuvor sowohl den Eiger selbst einmal, wie auch das Wetterhorn viermal bestiegen, so daß er von verschiedenen Standpunkten aus mit der wahren Neigung und Länge des Objektes seiner Wünsche vertraut sein mußte. Sein Herr hatte Mühe, ihn von der Wand loszureißen. Bis heute ist diese Mauer undurchstiegen geblieben 2).

2) Die Ciger-Rordwand ist bereits 1874 von den Brüdern Hartley mit Peter Rubi und Peter Kaufmann versucht worden. Sie schlugen einige Stunden lang Stufen gerade empor, zweigten dann aber nach links zum Mittellegigrat ab. Mr. Farrar hatte die Güte, dem Verfsasser diesen beachtenswert frühen Versuch englischer Vesteiger mitzuteilen. Ferner stieg Mr. Claude Macdonald in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts vom Mittellegigrat durch den unteren Teil der Nordwand nach Alpiglen ab, nachdem ein Versuch aus den Grat gescheitert war. (Alpine Journal November 1928.)“

Der sie begrenzende Mittellegi-Grat trotzte durch vier Jahrzehnte allen Aufstiegsversuchen und wurde erst 1921 bezwungen. Niemand weiß, ob Kederbachers Wand möglich ist, ob nicht Steinschläge ein Begehen verbieten. Bewundernswert bleibt, daß er als einer der ersten den Entschluß gefaßt, seine Kunst dort zu erproben. Aus sich selbst heraus, ohne Anreiz von außen; als reifer Mann den Fünfzigern nahe, dem die großen Berge der Schweiz auf schon begangenen Wegen nicht genügten.

An die Stelle dieses allzu abenteuerlichen Unternehmens setzte Mr. Farrar für seinen Bayern ein anderes Problem: die Westwand des Walliser Weißhorns. Einmal erst war diese eisige Plattenflucht durchstiegen worden. Ferdinand Imseng, der Sieger an der Macugnaga-Flanke des Monte Rosa — sein späteres Grab —, hatte mehrfacher Anläufe bedurft, ehe er dies gewaltige Unternehmen zu einem glücklichen Ende hatte führen können. Kederbacher besah die Wand nur flüchtig und durchstieg sie im ersten Ansturm. Eine zweiköpfige Seilschaft: Grill und Farrar. Welcher Schweizer Führer der damaligen Zeit hätte es gewagt, diese Fahrt ohne einen oder gar zwei Berufsgenossen zu unternehmen, mit einem Herrn, den er erst seit etwa zwei Wochen kannte und auf nur vier vorherigen Türen beobachtet hatte? Freilich ging Alexander Burgener mit Güßfeldt und Mummery allein auf verwegene Taten aus, und andere Westalpengrößen mögen manchmal ähnlich gehandelt haben, aber stets nur als seltene Ausnahme und mit Bergsteigern, deren Fähigkeiten sie genau und lange geprüft hatten. Nicht Übermut und Vermessenheit bewogen den Ramsauer zu solchem Handeln. Seine scharfe Beobachtung, sein heller Verstand hatten ihm in wenig Tagen gezeigt, wessen der junge englische Bergsteiger fähig war, und sein eigenes Vermögen hat Grill nie überschätzt.

So kämpften sich denn die beiden in gemeinsamer Arbeit durch diese noch heute zu den schlimmsten Plattenschüssen der Alpen zählende Wand, verbrachten schutzlos eine leidensvolle Frostnacht in mehr als 4300 m Höhe 1), erreichten anderen Tages den Gipfel und stiegen über den langen Ostgrat wohlbehalten nach Randa hinunter.

1) Kein Wort verlor Kederbacher, als die Nacht hereinbrach und das Biwak unvermeidlich wurde. Er zuckte die Achseln und sagte nur: „Wir müssen hier bleiben.“ (Alpine Journal XXXI.) — Captain Farrar bezeichnet sich selbst als „bescheidenen Zweiten“ aus dieser Tur. Hat er auch den Führer vielleicht aktiv nicht zu unterstützen brauchen, so war er doch sicherlich ein starker moralischer Rückhalt für den Ersten, man müßte denn annehmen, daß Grill die Fahrt auch als Alleingänger hätte ausführen können.

„Ich gab ihm“, schreibt Farrar, „fünf Pfund und einen Napoleon, alles was ich hatte, außer ein paar überzähligen Franken für meine Heimreise. Ich erinnere mich, daß er mir genau ebenso dankte, wie wenn ich ihm fünfhundert Franken oder auch nur deren zwanzig gegeben hätte. Aus wundervoll stolzer Unternehmungslust heraus hatte er seine Arbeit geleistet, nicht des Gewinnes halber 2).“

2) Die Weißhorn-Westwand hat auch in der Neuzeit ihren Rang voll bewahrt. Die junge Generation hat sich, soweit bekannt, an ihr bisher nicht erprobt. Es gibt kaum einen Berg von 4500 m Höhe, der eine ähnliche Plattenflucht aufweist, wenn man von der anders gearteten, noch undurchstiegenen Nordwand des Matterhorns absieht. Seit Georg Winklers Tod in der Westwand (1888) ist sie nicht mehr ernstlich angegriffen worden.

Das Jahr 1883 blieb das einzige, in dem Grill die Schweiz mit Mr. Farrar betrat, der gleich darauf Europa für längere Zeit verließ. Man muß sagen: leider, denn welche Leistungen blieben dadurch unvollbracht, daß Kederbacher zuvor und später die Westalpen nur mit deutschen Bergsteigern aufsuchen konnte, deren Höhendrang meist schon mit den üblichen Gipfeln gestillt war. Hier liegt eine Tragik in Kederbachers Geschick; sein Genius ruhte ungenutzt in einem stillen Bergwinkel, aus dem er nur selten hervorgezogen wurde an das volle Licht. Die Heimat bot ihm kein Feld für große Taten, das Ausland stand ihm nur bedingt offen: ein echt deutsches Schicksal. Kein Zweifel, daß er es nicht so empfand. Zufriedenen und heiteren Gemütes führte er, heimgekehrt aus den Hochalpen, wiederum auf den Watzmann und die anderen Kalkhöhen, wandelte auf Pfaden, die nicht mehr als Trägerarbeit heischten. Hätte sich je einer unterfangen dürfen, Alexander Burgener zu einer Besteigung des Breithorns oder gar des Gorner Grates aufzufordern? Mit verächtlichem Stolze hätte der Walliser solche Einladung abgewiesen.

Viermal noch durfte Grill die Schweiz Wiedersehen; dort war es ihm im Jahre 1885 beschieden, den von Christian Almer und anderen stets unberührt gelassenen und auf gefährlichem Wege umgangenen Roten Turm des Vietschhorn-Westgrates zu erklimmen, und so einen neuen sicheren Weg zu eröffnen. Zwei Jahre darauf nahm er auf dem Gipfel der Dent Blanche, begleitet von seinem ältesten Sohne, Abschied von den Westalpen.

Sein Gefährte vom Weißhorn aber hatte ihn nicht vergessen. Wenn es auch zu keiner gemeinsamen Fahrt ins Hochgebirge mehr kam, so suchte ihn Captain Farrar doch, einem alten Versprechen getreu, nach neun Jahren in der Ramsau auf und ließ sich das damals größte Schaustück der Nördlichen Kalkalpen, die Ostwand des Watzmanns, von Vater und Sohn Grill im Aufstiege zeigen. Nach einem Ausflug in die Dachsteingruppe und das Glocknergebiet nahm Kederbacher in Huben den letzten Abschied von seinem Engländer.

Dann kam der Lebensabend als Pächter des Watzmannhauses, das er schon 1887 übernommen hatte. Mit sechzig Jahren noch erklomm er im Oktober 1895 bei tiefem Neuschnee die ihm unbekannten Dolomitgipfel der Kleinen Zinne und der Croda da Lago, wohl die letzte größere Leistung, die ihm beschieden. Fortan nahm ihn seine Wirtschaft ganz in Anspruch, der er bis 1905 Vorstand, um sie dann an seinen ältesten Sohn abzugeben. Als fast Achtzigjähriger erstieg er noch einmal seinen besten Freund, den Watzmann.

Als ihm zu seinem achtzigsten Geburtstage eine besondere Ehrung erwiesen wurde, schrieb er in seinem Dankesbriefe: „Ich hätte niemals gedacht, daß meine wenigen Bergführerdienste, welche ich seinerzeit mit Freude, Lust und Begeisterung pflichtgemäß mit vielen Alpenfreunden ausgeführt hatte, mir an meinem Lebensabend solch eine Ernte von Freuden, Lob und Ehrenbezeigungen eintragen könnte. War ich doch damals schon bei meinen Land- und Bergfahrten der glücklichste Mann in der Welt, weil ich alle Schönheiten mit meinen Bergfreunden unentgeltlich mitansehen durfte, und überdies noch reichlichen Lohn nach Hause brachte 1).“

1) Der Brief befindet sich in der Alpenvereins-Bücherei in München.

 

Er zeichnet seinen Brief als „altersgrauer ehemaliger Bergführer und Alpenfreund“. Ruhig ging er hinüber im zweiundachtzigsten Jahre am 14. Februar 1917.

Ins Grab ruft Farrar dem Vater Kederbacher nach: „Du läßt mir Erinnerungen zurück an herrliche Tage. Immer wirst Du für mich das Sinnbild unbeugsamer Unerschrockenheit bleiben. Du flößtest Deinen Leuten eine Willenskraft ein, die schon die Hälfte des Sieges bedeutete. Oft noch werde ich Dich in der Erinnerung sehen, immer auf dem verantwortlichen Posten, vorsichtig, ruhig und gefaßt in den Stunden der Gefahr — ein großer Pilot — ein Mann, der sich stets ganz einseht 2).“

2) Der einzige würdige Nachruf für Kederbacher ist von Mr. Farrar im A. I. XXXI veröffentlicht worden. Captain Farrar schätzte Grills Können außerordentlich doch ein. Kein Westalpen-Führer sei dem Bayern in seiner Vollkraft überlegen gewesen, höchstens ein halbes Dutzend ihm gleich gekommen. Dies ist das sehr wohlerwogene Urteil, das einer der besten Bergsteiger im Jahre 1917 fällte, nach reichlicher Überlegung und gestützt auf langjährige, unvergleichliche Kenntnis der Alpen und vieler großer Alpinisten. „Er war in jeder Beziehung ein großer Mann.“ (Nach einem an den Verfasser gerichteten Brief Farrars.)

Uns aber bleibt sein Bild, wie er im Zenit seines Lebens in die Hochalpen stieg:

Der kurze, stämmige Mann mit großem, wehendem Bart, nicht in der Berchtesgadener Tracht, sondern mit langen, zugebundenen Hosen, den Hut mit einem roten Taschentuch unterm Kinn festgeknüpft. So steigt er auf eisigem Grat für uns hinüber in die Zeitlosigkeit, ein großer Mensch und ein großer Führer.

Die wichtigsten von Johann Grill Vater bestiegenen Westalpen-Gipfel

Die zahlreichen Hochpässe sind weggelassen:

Verninagruppe:

Piz Bernina 2, Piz Corvatsch 2, Piz Kesch (Reutur) 2

Berner Oberland:

Finsteraarhorn 6, Aletschhorn 2, Jungfrau 5, Mönch 1, Schreckhorn 4, Eiger 3

Bietschhorn (Reutur) 2, Balmhorn 3, Wetterhorn 5, Blümlisalphorn 1, Gspaltenhorn 1

Peters Grat 1.

Titlisgruppe:

Titlis 1

Tödigruppe:

Tödi 1

Dammagruppe:

Galenstock 1

Wallis:

Monterosa 5, Dom 1, Täschhorn 1, Lyskamm 1, Weißhorn 8, Matterhorn 6, Dent Blanche 3

Zinalrothorn 3, Breithorn 2, Ober-Gabelhorn 2, Allalinhorn 1, Mittaghorn 1

Montblancgruppe:

Montblanc 2, Aiguille Verte 1) 1

1) Im Führerbuch Johann Grills des Älteren findet sich eine Eintragung des Herrn H. Loschge-Rürnberg, laut der er mit Kederbacher im Jahre 1875 die Aiguille Verte von Argentiere aus auf neuem Wege bestiegen habe. Es ist schwer zu glauben, daß Herr Loschge die furchtbare östliche Eiswand der Verte vor O. Maund, Th. Middlemore und H. Cordier (1876) eröffnet habe. Vielleicht hätte auch Kederbacher allein die nötige Eisarbeit nicht leisten können. Zwar war ein Venediger-Führer bei dem Unternehmen beteiligt, doch muß man zweifeln, ob er Grill bei einer derartigen Arbeit hätte unterstützen und ablösen können. Zudem hat Kederbacher oft und gern von der Weißhorn-Wand fabuliert, nie aber von der Aiguille Verte, deren Ostwand ihm ebenfalls den stärksten Eindruck hätte hinterlaffen müssen. Andrerseits sind die Eintragungen Loschges stets knapp, genau und durchaus glaubwürdig. Man sollte fast annehmen, daß die Partie Loschge den üblichen Verte-Anstieg von Lognan aus erreicht habe. Dem scheint aber der hierfür erforderliche Zeitaufwand entgegen zu stehen. Der Verfasser überläßt die Lösung dieses Problems den alpinen Historikern. Übrigens ist die Route O. Maunds und Genossen bisher nur einmal wiederholt worden, und zwar 1924 durch französische Führerlose.

Der Sohn

Die Kederbachers gehören zu den Aristokraten unter den Bauern des Berchtesgadener Landes. Freilich nicht im Sinne des Besitzes, sondern in dem schöneren des geistigen und sittlichen Vorranges. Ihre engere Heimat — die entlegene Ramsau — bildet überhaupt hinsichtlich ihrer Bewohner einen Gegensatz zu dem Rest des Landes, das schon seit Jahrhunderten eine an Industriegegenden gemahnende Bevölkerungsdichte mit all ihren charakterlichen Folgeerscheinungen aufweist, so daß der böse Einfluß des Fremdenzustroms dort üppigen Nährboden findet. Von jeher lagen in der Ramsau die Verhältnisse anders und besser. Dort herrschen noch Geradheit, Ehrenhaftigkeit, einfache Sitten. So ist es nicht zu verwundern, wenn der große Name des Vaters dem Sohn nicht zum Hemmnis ward, wie solches sonst wohl die Regel bildet.

Am 12. Juli 1862 kam er zur Welt, stand also in der Glanzzeit seines Vaters schon in einem Alter, um den Erzählungen des Heimkehrenden von seinen Abenteuern mit Verständnis folgen zu können. Roch heute entsinnt er sich lebhaft der Sorge, die oft viele Tage auf der Familie lastete, wenn vom Alten keine Nachrichten eintrafen und die Möglichkeit eines Unfalles schwarze Schatten vorauswarf. Um so größer war dann die Freude über die glückliche Heimkehr und die Schilderungen der kühnen Taten. So ward ihm schon die Kinderzeit erfüllt von Bergabenteuern und Belehrung über die Hochwelt. Als Knabe übte der junge Grill sich an den Wänden der Preißenklamm, mit denen sein heimatlicher Hof zur Ache abstürzt, ein Klettergarten, wie er ihn sich näher und schöner nicht wünschen konnte. Mit zwölf Jahren ging er als Hüterbube auf die Kematenalm, hoch über dem grünen Pinzgau und dem Zeller See, in dem die weißen Tauern sich spiegeln. Dort war er schon mitten im Gebirge, das nahe Kammerling-Horn lockte ihn oft hinauf und ward sein erster Gipfel, während fern die geheimnisvolle Gletscherwelt winkte. Dann nahm ihn der Vater in ernste Schule, lehrte ihn mit Wort und Tat und ließ ihn an einem sonst nie betretenen scharfen Felsgrat des Watzmannstockes sein Probestück als Geselle ablegen. Schon mit siebzehn Jahren ward er im Herbst 1879 zum Bergführer autorisiert.

Als Dr. Arning und Herr R. Mitscher im Jahre 1881 den Vater Grill in die Schweiz riefen, durfte auch der neunzehnjährige Sohn mitziehen, den Fuß auf seinen ersten Viertausender, die Jungfrau, setzen und die strahlende Bernina erblicken. Hier lernte er Peter Dangl kennen, den Bewunderer des Vaters, den Stifter der Freundschaft mit Mr. Farrar.

Die alten Ostalpen-Bergsteiger Carl Arnold, Demeter Diamantidi, Gustav Curinger, Eduard Lanner, Bruno Wagner verknüpfen sich auch mit des Sohnes Berg-Erleben und verweben seine Jugend mit der ausgehenden Zeit der Erschließung der deutschösterreichischen Gebirge. Anekdotenhafte Erinnerungen tauchen auf und bringen Leben in die trockenen Besteigungslisten: So eine Neujahrsfahrt mit dem Vater und Dr. B. Wagner auf den Hochkönig, Gegenstand einer Fünfhundert-Gulden-Wette, wenn die Tur Wien—Hochkönig—Wien in bestimmter knapper Frist beendet sei. Die Grills sorgten dafür, daß Wagner seine Wette gewann. Dann kam die Militärzeit bei den Landshuter Jägern, die ihm, obwohl vorzüglicher Soldat, durch die Sehnsucht nach den Bergen getrübt wurde.

Erst sechs Jahre nach seiner ersten Schweizer Reise kam er wieder in den Westen, auch diesmal als Gehilfe seines Vaters, mit dem er Herrn G. Curinger auf manchen der Riesen des Oberlandes und des Wallis geleitete. Die Zeiten hatten sich gewandelt. Den früh schon unternommenen, aber vereinzelt gebliebenen Fahrten Führerloser und Alleingänger war nun das erste Anschwellen der neuen Bewegung gefolgt. Auf die kühnen Taten der Mesirs. Gardiner und Pilkington antworteten die österreichischen Vorkämpfer Purtscheller, Zsigmondy, Lämmer, während langsam der Stern Mummerys zum Zenit emporstieg. Aber noch immer herrschte der Fachmann, der Führer, wie er ja bis heute im friedlichen Wettbewerb mit den Liebhabern, dem neuen Salz der Berge, seinen großen Anteil am alpinen Geschehen bewahrt hat. In zwölf von den Jahren, die zwischen 1881 und 1902 liegen, hat Grill fünfzehn Reisen in die Westalpen unternommen, die bedeutendsten Gipfel fast sämtlicher Schweizer Gruppen betreten und in den Gebieten des Montblanc und des Grand Paradis sein Können gezeigt. An fünfzigmal hat er auf Viertausendern gestanden. Auch er hat, wie sein Vater, oft ohne zweiten Führer im Vertrauen auf sein Können zu dritt oder auch nur zu zweit am Seil auf hohe Berge den Weg gebahnt. Den Ruhm führerloser Kalkalpen-Größen sah er als ihr Begleiter einmal an den Rottal-Wänden der Jungfrau im Schneesturm zerflattern 1).

1) Grill erzählte dem Verfasser, daß Mr. Farrar, der sich damals in Südafrika befand, von dieser Tur gehört und ihm einen Brief geschrieben habe, in dem er den Führer vor derartigen Unternehmungen mit Nur-Kletterern ohne Zuhilfenahme eines zweiten Führers gewarnt habe.

Auf der anderen Seite gewann er von den Fähigkeiten eines gewissen Führerturisten eine ganz andere Ansicht als Norman-Neruda, der vor einem Menschenalter die ätzende Lauge seines Spottes über die Unglücklichen ergoß, der es wagte, die damaligen Modeturen der Dolomiten allzu niedrig einzuschätzen. In der alpinen Geschichte steckt viel Wahrheit und Dichtung, gar oft nur dünn verhüllt. Wie vor seinem Kammerdiener ist auch vor seinem Führer niemand ein Held, und umgekehrt zeigt sich mancher, der vor die Augen der Welt als Tropf hingestellt wurde, als Mann vor dem Berggefährten.

Mr. Farrar, der den jungen Führer 1892 an der Watzmann-Ostwand kennengelernt hatte, durchstreifte fünf Jahre später mit ihm die nördlichen Kalkalpen vom Allgäu bis zum Karwendel und nahm ihn darauf zu ernster Arbeit in das Berner Oberland mit, wo die Partie, verstärkt durch den großen Meister Daniel Maquignaz 1) manch schwere Tat vollbrachte.

1) Der Neffe und Schüler des berühmten Jean Joseph Maquignaz, des Erstersteigers der Dent du Geant. Mr. Farrar und D. Maquignaz haben 1893 den Ostaufstieg auf die Aiguille Blanche de Peteret und den Übergang zum Montblanc als Erste erkundet und geplant. Güßfeldt kam ihnen in der Ausführung zuvor, doch konnten sie kurz darauf die zweite Begehung der Route durchführen.

 

Das Ergebnis weniger Wochen war: das Kleine Viescherhorn von Norden, Versuch auf das Lauteraarhorn vom Schrecksattel 2), das Wetterhorn auf neuem Wege über die Westflanke und den Nordgrat, die Überschreitung des Schreck-Horns von Lauteraar zur Schwarzegg, der Mönch über den Nöllen im Auf- und Abstieg, und schließlich nochmals das Wetterhorn.

2 ) Schlechte Verhältnisse zwangen zum Abbruch des Versuches.

Abgesehen von der letztgenannten Tur sind sämtliche übrigen Fahrten außergewöhnliche Unternehmungen. Erst fünf Jahre später gelang es, das Lauteraarhorn auf dem von Mr. Farrar versuchten Wege zu erreichen. Das Schreckhorn war, soweit bekannt, zuvor erst zweimal von Ost nach West und einmal von West nach Ost überschritten worden. Der Nordgrat des Wetterhorns bedeutet eine Erstlingstur, und der Mönch über die Eiswand des Nöllen wird von manchen Sachkennern als eine der härtesten und schwersten Arbeiten im Eis gewertet.

Das folgende Jahr 1898 sah ihn wiederum als Gefährten von I. P. Farrar und D. Maquignaz. Die Grivola wurde über den Nordgrat bezwungen, eine zweite Besteigung, dann der gesamte Grat mit allen Erhebungen vom Grand Paradis bis zum Mont d‘ Herbetet überschritten. Im Montblanc-Gebiet wurde der Gipfel des Monarchen zum ersten Male von der Aiguille de Bionnaffay über den Dome du Goüter erreicht, und vom Col de Miage bis zum Col du Midi der gewaltige Halbkreis gezogen. Bisher war es nur einmal gelückt, über den Ostgrat der Aiguille de Bionnaffay bis zum Dome zu gelangen.

Den Abschluß bildete ein zweitägiger Versuch, den Nordostgrat der Aiguille Verte vom Col des Grands Montets aus zu bezwingen. Sechs Jahre darauf glückte die Ersteigung des abweisenden Berges von dieser Seite, wenn auch nicht über den Grat selbst, vier italienischen Führerlosen nach mehrtägiger Arbeit und zwei Biwaks unter ungeheuerlichem Zeitaufwand. Der Grat fiel erst 1925 unter dem Angriff französischer Führerloser 3), freilich nur teilweise, da verschiedene Türme umgangen wurden.

3 ) Der Partie P. Dalloz, I. Lagarde, H. de Segogne.

Streng genommen ist der Grat bis heute noch nicht überschritten worden. Daher ist die Kühnheit des so frühen Versuches von 1898 besonders bemerkenswert. Es ist klar, daß Aufgaben solchen Umfanges erst nach längeren Versuchen gelingen können. Ebenso verständlich ist es, daß der geistige Leiter einer Führer-Partie seine Leute nicht einem solchen Risiko auszusehen vermag, wie er es für seine Person vielleicht übernähme. Es ist daher sinngemäß, daß die endliche Lösung Führerlosen glückte. Als Denkmal des Versuches bleibt ein zum ersten Male erreichter Turm, der heute den Namen Pointe Farrar trägt 4).

4 ) Der Mangel eines genügend langen Reserveseiles ließ den Versuch scheitern, überdies hatte die Partie eine schwere Campagne hinter sich und wollte daher nicht die Gefahr eines oder mehrer unvorbereiteter Biwaks laufen. In jüngster Zeit hat übrigens auch der vorzügliche junge Chamonix-Führer Armand Charlet mit M. de Eigord die Aiguille Verte von dieser Seite bestiegen. Die Umgehungsroute soll nichts Ungewöhnliches bieten, hingegen wäre die Verfolgung der Gratlinie selbst etwas sehr Schwieriges. — Es scheint, daß die Partie Farrar-Maquignaz-Grill am zweiten Tage auch die große Nordost-Rippe der Aiguille Verte ernstlich, aber erfolglos angegriffen hat. Diese Rippe gehört der furchtbaren Argentiere-Flanke des Berges an und ist bis heut unbezwungen. (Alpine Journal XXXVI S. 398.)

 

Das Jahr 1900 sah Grill wiederum in der Schweiz, als Gefährten der Herren Dr. G. Meyer und Dr. F. Pflaum, der später sein Leben der Unfähigkeit eines Schweizer Führers zum Opfer bringen sollte. Mit ihnen betrat er die Hauptgipfel des Oberlandes und des Wallis. Auf dieser Reise hatte er gleich zu Beginn Gelegenheit, durch sofort handelsbereite Geistesgegenwart und mutige Tatkraft ein Menschenleben zu retten. Es war auf dem Wege zur Dossenhütte. Dr. Meyer und sein Führer stiegen über steile, schmelzwasserüberronnene Platten empor, die teilweise mit riesigen Geröllmassen bedeckt waren. „Da rutschte plötzlich ein großer Block“ — so schildert Dr. Meyer den Unfall — „andere kamen aus dem Gleichgewicht, und dann setzte sich die ganze Masse aus glatter Platte mit mir in Bewegung. Vergeblich suchte ich frei zu kommen, ein Schlammstrom unter dem Geröll hob jede Reibung aus und die Mure rollte unaufhaltsam mit mir dem nahen Absturz entgegen. Schon war ich bis fast zur Brust in dem Steinstrom versunken und ungefüge Klötze trafen meinen Kopf. Blitzschnell war Kederbacher zu meiner Rettung auf einen riesigen Felswürfel gesprungen, an dem die Mure brandete. Niederkniend reichte er mir seinen Pickel, den ich zuerst nicht annehmen wollte, da ich jede Hilfe für aussichtslos hielt. Aber unter Grills Belastung wankte der nur scheinbar feste Riesenblock und gleich daraus stand auch der Führer bis zu den Knien im Steinstrome. Doch glückte es ihm, sich auf eine geröllfreie Platte zu retten, an die er sich mit aller Kraft klammerte, um mich schließlich herauszureißen.“ Während banger Augenblicke hatte Grill gezweifelt, ob er dem übermenschlichen Zuge würde standhalten können oder mit seinem Gefährten den Weg in die Tiefe werde nehmen müssen. Für ihn hieß es: Beide oder keiner, und das Schicksal war ihm gnädig. Es war ein Anfall, wie er dem Besten ohne Verschulden zustoßen kann. Nur die nie, auch auf den Wegen zu Hütten — die freilich in der Schweiz anderer Natur sind als im Osten — erlahmende Aufmerksamkeit des Führers und sein opfermutiges rasches Zugreifen verhinderten einen verhängnisvollen Ausgang.

Seine letzte Fahrt in die Schweiz fällt in das Jahr 1902, in welchem er vier Monate lang als Begleiter Dr. Gilems, eines holländischen Bergsteigers 1), die Ost- und Westalpen durchstreifte und — außer den alten bekannten Viertausendern — den sehr schwierigen Monte Scerfcen über die Eisnase bezwang.

1) Abgestürzt am Lol du Geant i. 1.1907.

Die vergletscherten Gebiete der Ostalpen hat er ebenfalls oft betreten. Wiederholt waren die Hohen Tauern, das Zillertal, das Stubai und das Otztal, sowie der Ortler der Schauplatz seiner Tätigkeit. Bezeichnenderweise beträgt die Zahl der von ihm im Osten erstiegenen Gletschergipfel und überschrittenen Hochpässe nur wenig mehr als die Hälfte seiner Westalpenturen. Im Zillertal glückte ihm mit Mr. W. F. Kendrick die erste Begehung des Grates vom Hochfeiler zum Weißzint 2).

2) 29. 8.1892.

Der heimische Kalk ist ihm natürlich vom Dachstein bis zum Allgäu aus das engste vertraut. In seinem Führerbuche, das die Jahre 1881—1900 und 1917—1927 umfaßt 3), sind fast anderthalb hundert Besteigungen des Watzmanns verzeichnet.

3 ) Das Buch von 1901—1916 wurde ihm von einem Bergsteiger entwendet.

Welch eine Vergeudung solcher Begabung, und zugleich welch rührendes Beispiel von Bescheidenheit! In fast unendlicher Wiederholung hat er wohl sämtliche Gipfel der Heimat erwandert, als Begleiter von bergunkundigen Sommerfrischlern, von oftmals gewiß auch jener wenig gewählten Art, wie sie für das Berchtesgadener Land kennzeichnend ist. Gegen die selbstischen Quäler, die im Führer nur den Packesel erblicken, wird er sich schon zur Wehr gesetzt haben, denn die Grills sind stärkeren Charakters, als ihr armer Berufsgenosse Preiß, der unter der erbarmungslos ihm aufgepackten Belastung schließlich körperlich zusammenbrach.

Immerhin, es klingt verwunderlich, daß der Mann der Walliser Riesen, dem der Ehrenposten des Letzten im Abstieg auf dem Vionnassay-Ostgrat anvertraut war, in der Heimat sich zu Waldausflügen wie dem Vlaueisgletscher hergeben mußte. Man atmet wieder auf, wenn man liest, daß er im letzten Jahrzehnt zweimal den schwierigen Blaueis-Nordgrat erklettert hat, ein würdigerer Gegenstand seiner reiferen Jahre, als die anderen mühsamen Wanderungen.

Spät erst im Leben, und nur ein einziges Mal ist Grill nach Südtirol gekommen. Es war im Jahre 1901, als der alte Freund der Familie, Mr. Farrar, ihn mit den Dolomiten vertraut machte. Damals waren der Schmitt-Kamin, der Winkler-Turm, die Rosengarten-Ostwand noch nicht so alltägliche Unternehmungen geworden, wie dies heute vielleicht der Fall ist. Auf diesen Fahrten, wie auch auf die Grohmannspitze und die Häupter der Pala-Gruppe ließ der mitgenommene Ortsführer dem Berchtesgadener ohne weiteres den ersten Platz.

Mit 1902 schließen Grills Wanderungen in größere Fernen. Seine Taten beschränkten sich fortan auf die nördlichen Kalkalpen und die nahen Tauern. Ein Armbruch, den er 1903 erlitt, hielt ihn längere Zeit von den Bergen fern und festere Bande ketteten ihn bald darauf an die Heimat, als er das Watzmannhaus übernahm und von 1905—1910 dies Gasthaus leitete.

Doch blieben ihm die alten Bergfreunde stets getreu und suchten ihn immer wieder auf, um auf neuen Fahrten alte Erinnerungen wieder aufleben zu lasten. Manche Namen tauchen in seinem Führerbuche regelmäßig von neuem auf, wenn auch zwischen dem ersten und dem letzten Eintrag manchmal fast vier Jahrzehnte liegen 1).

1) So Dr. Bertram, der schon 1881 mit dem Vater gegangen war und 1886 mit dem Sohn  eine Winterbesteigung des Watzmanns gemacht hatte. 35 Jahre später zogen Dr. Bertram und Grill in die Glocknergruppe, wo der Führer den erkrankten Bergsteiger mit seltener Auf opferung in der Stüdlhütte pflegte.

Solche Anhänglichkeit zeugt beredter als alle Worte von den menschlichen Werten, die Grills Charakter in hellstem Lichte erscheinen lasten.

Die letzten Julitage des Jahres 1922 sollten ihm eine unerwartete Begegnung bringen. Er war aus einer der üblichen Fahrten über das Steinerne Meer und die Riffelscharte zum Glöckner gewandert; schlechtes Wetter trieb die Partie hinunter nach Heiligenblut. In der Gaststube des Wirtshauses stärkte man sich nach den erlittenen Unbilden. An einem nahen Tische saßen mehrere Bergsteiger, darunter ein älterer. Wieder und wieder zog der Kopf des Grauhaarigen Grills Auge auf sich. Auch der Bergsteiger blickte immer von neuem forschend auf Kederbacher und dann plötzlich erkannten sich die beiden: der junge Engländer des alten Grill, nun nicht mehr jung, Captain I. P. Farrar und der einstmals junge Kederbacher trafen sich wieder, zwei Jahrzehnte nach ihrer letzten gemeinsamen Fahrt. Die Leistungen, die der Sohn der Voralpen im Hochgebirge vollbracht, sprechen eine beredte Sprache. Voll gewürdigt können sie nur werden vom Standpunkt der nun abgetretenen Generation, und nicht aus dem Geiste der Jungen, welche die Vrenva-Flanke des Montblanc in wenigen Stunden durchmessen. „Er ist nach meiner Ansicht in jeder Beziehung erstklassig — völlig gleichwertig mit seinem Vater in besten Tagen 2).“

2 ) Führerbuch Grills des Jüngeren. — „Beide Kederbachers waren ganz außerordentlich anständige Leute. Man konnte ihnen in jeder Beziehung vertrauen und sie verfehlten nie, ihre Pflicht voll und ganz zu tun. Ich habe noch heute die allerbeste Erinnerung an sie und die größte Achtung vor ihnen.“ (Aus einem Brief Mr. Farrars.)

Dies Zeugnis gibt ihm der — kürzlich verstorbene — seit fünfundvierzig Jahren weitgereiste englische Bergsteiger Mr. Farrar, einer der besten Kenner der Geschichte des Alpinismus. Es ist überflüssig, die zahllosen gleichartigen Urteile anderer Alpinisten über Grills Meisterschaft auf Fels und Eis anzuführen. Aber nicht das technische Können allein, auch die Gaben des Herzens und des Verstandes gehören zu seinem Bilde. Vielen war er „nicht nur ein meisterlicher Führer, sondern ein Freund, der den ihm Anvertrauten mit treuester Fürsorge umgibt, und ein Mensch mit Auge und Sinn für die Schönheiten der Bergwelt“.

In seines Vaters Buch hatte einst eine Bergsteigerin geschrieben: „Es gibt nur einen Kederbacher.“ Daran anknüpfend bemerkt einer der Herren des Sohnes, er müsse nach seinen Erlebnissen auf schwerer Kletterfahrt sagen: „Es gibt zwei Kederbacher, Johann Kederbacher Vater und Sohn.“ Mit diesem Urteil aus dem Jahre 1919 wollen wir das Führerbuch schließen.

Einer der besten Alpenführer und ein ganzer Mensch steht vor uns, wenn wir seine Taten an uns vorüberziehen lasten. Auch Johann Grill der Jüngere nimmt, wie sein berühmter Vater, einen würdigen Platz ein unter den Pfadfindern der Alpen.

Die wichtigsten von Johann Grill Sohn bestiegenen Westalpen-Gipfel

Die zahlreichen Hochpässe sind weggelassen : 1)

1) Das verlorene Führerbuch Grills des Jüngeren (1901—1916) konnte nur annähernd ergänzt werden. Seine hier angeführten Westalpen-Turen find daher nicht ganz vollständig.

Verninagruppe:

Piz Bernina 1, Piz Roseg 2, Monte Scerscen 1, Piz Lorvatsch 1

Berner Oberland:

Finsteraarhorn 4, Metschhorn 1, Jungfrau 5, Mönch 1, Schreckhorn 4, Eiger 1, Metschhorn 2

Kl. Mescherhorn 1, Balmhorn 1, Wetterhorn (Neutur) 3, Petersgrat 2

Wallis:

Monterosa 5, Dom 2, Täschhorn 1, Lyskamm 1, Weißhorn 4, Matterhorn 5, Dent Blanche 1

Grand Combin 1, Castor 1, Zinalrothorn 3, Dem d’Herens 1, Breithorn 2, Ober-Gabelhorn 2

Weißmies 1, Kleines Matterhorn 1, Limes Manches 1, Almagellhorn 1

Montblancgruppe:

Montblanc 2, Aig. de Bionnaffay (Neutur) 1

Aig. du Midi 1, Pointe Farrar (1. Erst.) 1

Mg. des Grands Charmoz 1

Paradis-Gruppe:

Grand Paradis 1, Grivola 1, Petit Paradis 1, Bec de Montandeyne 1, Mont d’Herbetet 1

Benutzte Schriften

2t. 3. XXIII 6.308, XXIV 6.303, XXV 6.51, XXVII 6.263, XXXI 6.262, XXXVII 6.363.

Voll. L. A. I. 1904,5 6. 311, D. A. Z. X 6.191, XV S. 244.

Ib. 6. A. C. XXI 6.127, M. A. V. 1886 6. 79, 1917, 6.3, M. A. V. 1892 6.247.

A. V. 1883, S. 507, 1885 S. 266, 1914 6.195.

Dübis Hochgebirgsführer durch die Berner Alpen II S. 167, III (1909), S. 131.

Guide Kurz, La Chaine du Montblanc 1927.

Purtschcller-Heß, Der Hochturist in den Ostalpen (1911).

Führerbuch Johann Grills des Älteren (Abschrift).

Führerbücher Johann Grills des Jüngeren 1880—1900, 1916—1927.

 

 

 

Seilschaften : Andreas Hinterstoißer und Toni Kurz

Andreas Hinterstoißer und Toni Kurz waren die Kletterstars der 30’er Jahre in den Berchtesgadener Bergen. Sowohl kletter- als auch hakentechnisch eröffneten sie beide Dimensionen bis in den VI Grad der Schwierigkeit.

Toni Kurz hinterlässt seine Spuren am Westriss des kleinen Watzmanns, zusammen mit Karl Dreher, und zusammen mit Andreas Hinterstoißer an der direkten Südkante des dritten Watzmannkindes.

Die beiden Bad Reichenhaller Gebirgsjäger griffen am 18.07.1936 die grosse Nordwand des Eigers an und fanden, in Seilgemeinschaft mit Willy Angerer und Eduard Rainer, unter dramatischen Umständen den heldenhaften Bergtod.

Grabstätte Andreas Hinterstoißer auf dem Friedhof St. Zeno in Bad Reichenhall

Inschrift

In diesem städtischen Ehrengrab ruht der Reichenhaller Bergsteiger Anderl Hinterstoißer, Gefreiter der 11. Kompanie des Gebirgs.Jäger-Regimentes 100, geboren am 3. Oktober 1914, der vom 19. bis 21. Juli 1936 die Eiger-Nordwand zu bezwingen suchte und dabei einen heldenhaften Bergtod starb.

Grabstätte Toni Kurz auf dem Alten Friedhof Berchtesgaden

Inschrift

RIP Unser lb Sohn und Enkel Toni Kurz Gefr. im Gebirgsjäg. Reg. 100 † 22. Juli 1936 im 24. Lebensj. im Kampfe um die Eigernordwand.

Hans Reinl und Karl Domenigg – Erstbegehung des Westgrates des fünften Kindes

Westlichstes  Watzmannkind (2100 M.?).

Erste Ersteigung über den Westgrat und Ueberschreitung nach Osten. 27. August 1908.  Nachdem wir Jlsank bei Berchtesgaden um ¾ 6 Uhr früh verlassen hatten, stiegen wir anfangs auf dem zum  Watzmannhaus führenden Steig, später durch Wald, den vom Unterkunftshause gegen die Kührointalm leitenden Pfad querend, gegen das mächtige Kar empor, das von den prächtigen Formen des kleinen Watzmann, der Watzmannkinder und des Großen Watzmann umschlossen  wird und in seinen obersten Teilen den im heurigen Sommer arg zerklüfteten Watzmannaletscher birgt. Ueber Trümmerfelder und Blockgebiet auf den steilen Firn und in die breite Scharte zwischen dem westlichsten Watzmannkind und der Watzmannmittelspitze. 10 Uhr. In anregender, stellenweise nicht leichter Kletterei teils auf, teils neben dem Grat in 40 Minuten auf den Gipfel. (Großartiger Einblick in die Bartholomäwand des Großen Watzmann).

Abstieg über Platten und Firnlager in die Scharte zwischen dem westlichsten Kind und der Watzmannjungfrau.

Hans Reinl und Karl Domenigg – Über die Ostwand des Hochecks

Watzmann-Hocheck (2680 M.).

Erste Besteigung über die Ostwand. 28. August 1908. Watzmannhaus ab 6 Uhr früh. So wie am Tag vorher in das riesige Trümmerkar am Fuße der Ostwand. Einstieg zur Linken eines etwa in der Fallinie des Hocheckgipfels am weitesten in das Kar des Watzmanngletschers vortretenden Felspfeilers. Hier führt eine zur Linken von Ueberhängen flankierte, etwa 80 Meter hohe Kaminreihe gegen die Schrofen, die den oberen Teil des Pfeilers bilden. Durch diese gerade auf aufwärts, höher oben dann nach rechts über eine Platte in eine Mulde (Schneelager). In der Kluft zwischen Schnee und Wand über eine große, steile Platte abwärts, die in ein Gesimse übergeht. Schwieriger, plattiger Einstieg in die ansetzende Kaminreihe. Nun drei Seillängen über einige sehr schwierige Ueberhänge auf einen Schuttplatz und wieder rechts in die Fortsetzung der Kaminreihe.

Einen neuerlichen Ueberhang passierend, auf eine zweite Schutterrasse, wo bereits die langen, markanten Platten und Schichtenbänder zutage treten, die sich zur Gipfelfläche ziehen. Von rechts nach links steil ansteigend in der Richtung der Spitze und schließlich nach rechts über Schrofen zum Ausstieg, etwa 60 Meter nördlich des Hocheckgipfels. Dauer der Kletterei 8 Stunden. Wandhöhe zirka 600 Meter. Der Anstieg durch die Ostabstürze des Hochecks ist eine an großartigen Felsszenerien reiche, ununterbrochen spannende, erstklassige Klettertour. Den Schlüssel zur „Ersteigung bildet die obenerwähnte lange Kaminreihe.

Übergang zum Mittelgipfel (2714 M.) und Abstieg auf dem gewöhnlichen Wege zum Watzmannhaus.

Karl Domenigg – Wien, Ingenieur Hans Reinl – Hallein.

Hans Reinl und Karl Domenigg – Über die Westwand auf die Jungfrau

Höchstes Watzmannkind (Watzmannjungsrau, 2260 M.).

Erste Ersteigung über die Westwand und Ueberschreitung nach Nordosten. Im Anschlüsse an die obige Tour wendeten wir uns der ungemein abschreckend aus aussehenden, ganz eigenartig geschichteten Westwand des höchsten Watzmannkindes zu und kletterten von der Scharte über brüchigen, steilen Fels eine gute Seillänge senkrecht empor, dann nach links durch eine plattige Verschneidung an den Fuß eines Ueberhanges, über diesen sehr schwierig auf ein schmales Gesimse, auf diesem weiter nach links und über einen zweiten plattigen Ueberhang, der unmittelbar zum Fuße des oberen, senkrechten Wandgürtels führt. Hier scharf nach links über leichte Schrofen, endlich auf ein etwa einen Meter breites, ein wenig nach abwärts führendes Band, bis es möglich wird, die ober  diesem aufragende Wand, deren Neigung im oberen Teil abnimmt, direkt zu erklimmen. Nun auf den Grat und in 10 Minuten zur Spitze. Dauer der Kletterei 1 ½  Stunden.

Im ganzen eine hochinteressante, schwierige und dabei sehr ausgesetzte Klettertour. Abstieg auf dem gewöhnlichen Wege über die charakteristische Riesenplatte ins Kar.

Watzmannhaus 6.45 abends.

Friedrich Thiersch und die Münchener Alternative

Akademischer Alpenverein München

Jahresbericht 1928/1929

Watzmann-S.-Spitze (2712 m). Neuer Durchstieg durch die 0.-Wand unter Vermeidung der Schöllhornplatten und der Schwierigkeiten des Salzburger Weges. Durch Fritz Thiersch am 15.Juli 1929.

Der Weg führt durch die große Gras- und Karmulde, die links neben der Gipfelfallinie der Südspitze zum Südgrat hinaufzieht und etwa 400 m über dem Einstieg nach rechts gegen den deutlichen Vorbau hin, der unter der Mitte des ersten Bandes liegt.

Von der Eiskapelle am besten rechts in der Nähe des Baches aus dem Eiskar, über die Dolomitstufe hinauf. über Gras und brüchiges Gestein zu einem großen Schuttfleck (1 St.). Weiter über die rechts hinter ihm (südl.) ansetzenden glattgewaschenen Felsen und Rinnen auf einen wagrechten Absatz rechts (Steinmann). Auf einem Plattenband 50 m nach links und dann rechts aufwärts zu Schrofen. In dem oberen grasbewachsenen Spalt, der hier sichtbar wird nach rechts hinüber bis über die nächste Rippe. Dann auf das tiefer ansetzende Grasband. Der Durchstieg führt dann hinter dem Turm am Ende des Bandes in die Schlucht hinein, die zwischen Wand und Turm eingeschnitten ist. Etwas rechts ihrer Mündung über die Wandstufe hinauf und in der Schlucht empor. (Die schweren Stellen werden seitlich umgangen.) Die Schlußwand hinter einem kleinen Geröllfleck wird von links nach rechts ansteigend überwunden. Nun auf den Grat des Turmes und nach Süden zur Wand hin. Leicht nach rechts zu den Platten, die vom ersten Band herab ziehen und über sie hinauf auf das erste Band. Hier Treffpunkt mit dem Salzburger Weg. Mit Ausnahme der nun folgenden 20 m hohen Stelle (sehr schwer) nur schwierige Kletterei.

Bis zum Erreichen des I. Bandes (4-5 Std.), zum Gipfel weitere 2 ½ Std.

Friedrich Thiersch V & VII – Kleiner Watzmann ohne grossen Schinder

Der klassische Anstieg auf den kleinen Watzmann erfolgt in der Regel von Kühroint kommend über den Kederbichel mit der Schlüsselstelle Gendarm.

Relativ spät eröffnete sich durch die Seilschaft Thiersch V, Thiersch VII und Meindl eine Alternativroute.

Nachträglicher Bericht über eine Erstbegehung am Kleinen Watzmann

Die üblichen Anstiege von nicht zu großer Schwierigkeit auf den Kleinen Watzmann haben das Unangenehme, daß man am Anfang jedesmal einen sog. großen Schinder zu erledigen hat.

(Kederbichel auf der normalen Route; Watzmannkar, wenn man von der Watzmannscharte aus die Südwand oder den Südwestgrat benützt.)

Daher ist folgender Anstieg empfehlenswert, der zum erstenmal am 30. August 1926 von Friedrich Thiersch V, Christoph Meindl und Friedrich Thiersch VII gewählt wurde.

Er geht vom Schneeloch (1 Std. Kühroint) aus und benützt die große Plattenflucht, die zu ihm von der breiten Scharte herabfällt, welche in dem zum Mooslohnerkopf ziehenden Ostgrat des Kl. Watzmanns von weitem sichtbar ist. Von der höchsten Stelle des Schneefeldes aus wurde in einigen schwierigen Rissen die untere Steilstufe der Plattenflucht erklettert und durch Benutzung von Plattenrillen die erwähnte Scharte erreicht; nun erhebt sich der Ostgrat in einigen Türmen, deren zwei größte schwierig überklettert wurden. (Umgehung rechts leicht.) Dann auf dem rasendurchsetzten breiten Rücken zum Südgipfel. Der Weg verbindet mit anregender Kletterei schönste Tiefblicke auf den Königsee.

Schneeloch unterhalb des „Fensters“

Kühroint – Optimales Basislager für Expeditionen am Watzmann

Von Kühroint aus steht einem die Watzmannwelt offen.

Die Sektion Berchtesgaden des Deutschen Alpenvereins unterhält auf Kühroint eine Selbstversorgerhütte, welche den Sektionsmitgliedern zur Nutzung zur Verfügung steht.

Die Hütte wird mit viel Engagement durch die Hüttenreferenten Christel und Heinz Zembsch betreut und gepflegt.

Heinz Zembsch gilt, mit inzwischen 411 Durchstiegen, als Ikone der Watzmann Ostwand. Seine Frau engagiert sich, nicht nur im Bereich der Kührointhütte, innerhalb der Sektion mit interessanten Fahrtenangeboten.

Abseits der sektionsbezogenen Unterkunftsmöglichkeit gibt es eine privat bewirtschaftete Hütte in Form der Kühroint-Alm.

Mit Josef Aschauer und Elisabeth Dabelstein auf der Wiederroute

Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins, 1924

Die Wieder-Route

Von Elisabeth Dabelstein

 

Mit edeln Purpurröten

Und hellem Amselschlag,

Mit Rosen und mit Flöten

Stolziert der junge Tag!

F. Mener.

 

Ich stand am Herd und schaute der Mutter des Freundes zu, wie sie den Tee für unsere Feldflaschen mit Zucker und Rum würzte. Er selbst lehnte in der offenen Hoftür und prüfte beim letzten Licht des versinkenden Sommertages langsam und sorgfältig das Seil, das in diesem Jahr zum ersten Mal wieder benutzt werden sollte und das mir bekannt und gewohnt genug geworden war.

„Mei,“ seufzte die Mutter auf, „i weiß halt nimmer, was i dazu sagen soll — immer und immer gehts Ihr auf die Berg und allweil die wildesten müssens sein!“

Ich selbst wußte auch nicht, was ich dazu sagen sollte. Es war so behaglich gewesen, all diese letzte Zeit, wo ich allein im Hagengebirge herumgestrolcht und dann in die Hochkaltergruppe hinübergewechselt war. Aber mit dieser Behaglichkeit würde es nun vorbei sein, und nebenbei gesagt, es war gar nicht auszudenken, wie der Tag morgen verlaufen sollte, denn der Freund schwieg sich über Genaueres von unserem Ziel hartnäckig aus und sagte mir: „Ich führ Dich schon an ein schönes Platzerl!“ Irgendwo zwischen Himmel und Erde.

Schön, ja, das mußte ich selbst an diesem verzagten Abend zugeben, schön waren seine Patzerl allerdings.

„Weißt Beppi, i glaub fast, die Lili hat so recht keinen Schwung.“ fuhr die Mutter fort.

Joseph hob seinen Krauskopf und sah kritisch hinüber. „Dös war a Schlager, kein Schwung nicht!“ spottete er.

„Bleibts daheim und rastets aus!“ sagte sie, aber ihr Junge erklärte unumstößlich:

„Na, Muader, dös geht nicht. Aufi müssen mir, da kannst nix machen.“

Aufseufzend schraubte sie die Flaschen zu und schickte uns hinüber ins kleine Landhaus, wo mein Stübchen gegenüber dem der Söhne des Hauses lag. Wir packten das letzte in die Rucksäcke, und als wir uns schon niedergelegt hatten, kam die liebe Frau noch und stellte uns einen Rudel zum Frühstück bereit.

Es war vor drei Uhr und noch tiefdunkle Nacht, als wir dann vor eben diesem Rudel saßen. Entsetzlich schnarrend hatte der Wecker geraffelt, hohläugig hatte mich die ungelöste Frage dieses Tages angestarrt, als ich den Freund mit sanftem Puff geweckt hatte. Nun brodelte der Tee auf dem Spirituskocher und der Junge aß in Gemütsruhe eine Scheibe Rudel mit Marmelade nach der andern — nachts um 3 Uhr, wenn man noch halb schläft, wie kann man es nur? —

Wir waren fertig. Ueber den kleinen Hof und durch den Gang, den ein fast venezianisch anmutender Bogen überwölbt, an der Schnitzwerkstätte vorbei, traten wir auf die stillen Straßen Berchtesgadens hinaus. Jetzt waren sie einmal frei von all dem vielen fremden Volk, das sich hier sonst bewegt und mit seiner Buntheit nicht in das Bild solches Alpenstädtchens paßt, so frei wie sonst nur im späten Herbst und ersten Frühling, den wir darum liebten.

Letzte Sterne über einem Sommermorgen und Wandertag scheinen uns immer selten klar und leuchtend zu sein, und an diesem Tag waren sie es noch ganz besonders. Sie blinzelten freundlich zu diesen zwei Menschen hinab, deren rascher Schritt in so gutem Takt zueinander klang, die sich so gut kannten, daß jenes Schweigen zwischen ihnen war, das aus selbstverständlicher Kameradschaft entspringt. Und als die Sternlein sahen, daß es stetig vorwärts ging und es nichts weiter zu beobachten gab, da erloschen sie und überließen die Herrschaft dem sich mählich nähernden Tagesgestirn.

Die Nebel über der Königseer Ache hingen noch dicht, und ihr Wasser sah an diesem frühen Morgen so kalt aus, daß wir unwillkürlich zusammenschauerten und schneller gingen. Aber es wandert sich köstlich, wenn so ein sprudelnder Bach an unserer Seite sein Lied plätschert von der Höhe dort oben, aus der er kam, von der Ebene in der Ferne, zu der er will und von deren Trostlosigkeit der muntere Gesell so wenig weiß wie wir von den Jahren, die vor uns liegen — nun, froh wollen wir sein, daß wenigstens heute unser Weg die umgekehrte Richtung hat!

Ein fleißiges Bäuerlein steht in seiner nassen Wiese und beginnt zu mähen. Ich will daraufhin etwas Landwirtschaftliches zu meinem Freunde sagen, aber ich kann mich nicht aufraffen, und die Dinge ringsum reden auch so eindringlich mit mir, daß ich sie nicht unterbrechen kann. Da ist eine Bank, auf der einst zwei Leutchen zu sitzen pflegten, die jetzt nicht mehr beieinander sind. Und da ist inmitten blumenreichster Matten ein trauliches, weißes Haus, in dem nicht das Glück, bewahre, in dem eine ältere Schulvorsteherin wohnt, die Schuld daran hat, daß diese Bank jetzt leer bleibt. Ich kann ein Lachen nicht unterdrücken — was zwitschert doch die Meise auf jenem Buchenast dort? Wahrhaftig: „’s kommt wieder, ’s kommt wieder, bald, bald, bald.“ Nun, das muß ich Joseph denn doch erzählen, zumal er am Ende an der Sache beteiligt sein könnte!

Die Schönau liegt hinter uns, und gleich darauf nimmt unser Wog einen so mutigen Anlauf hinauf gen Herrenroint, daß uns die ersten Schweißtropfen auf die Stirn treten. Man kann es wohl kaum schildern, dies fröhliche Steigen dem jungen Tag entgegen — wie da die Kraft im wohlgeübten Körper erwacht und im mühelosem Spiel Höhe gewonnen wird. Nur in ein paar Liedern klingts an und da

jauchze ich hinaus, wie es mir gerade kommt:

Wir wollen zu zweit ausfahren

Ueber die Berge weit,

Jenseits zu den klaren

Gipfeln der Seligkeit! —

Hier auf diesem Wege zum Watzmann gibt es ein kleines Fleckchen, das wiederzusehen mich jedesmal unendlich erfreut, und das zu dem Lieblichsten gehört, was ich in den Alpen überhaupt getroffen habe. Eine Bergwiese ists, schon ziemlich weit oben, von machtvollen, dunklen Fichten umstanden, sanft geneigt und von verlorener Einsamkeit, da die gewöhnlichen Anstiegswege sie nicht berühren. Die langen, üppigen Halme dieses Grasteppichs kennen scheinbar keine Sensen und wiegen ihre schlanken Aehren sorglos im Morgenwind. Hier scheinen die Blumen niemals aufzuhören zu blühen und immer, wenn Ich drüberhin ging, in der Morgenstunde beim Ausstieg und abends zur Heimkehr, lag Tau auf ihr, so rein und frisch, daß ich auch jetzt wieder die Hände nah davon werden lasse und sie so gekühlt gegen mein heißes Gesicht drücke. Ich möchte einmal einen langen, törichten Tag über auf ihrem Grunde liegen und zusehen, wie die steigende Sonne die Tautröpfchen wegküsst, wie die Falter über ihre Blüten taumeln und die Schlange, schillernd und sündhaft schön, lautlos übers Moos gleitet. Ich werde den Duft der Tannen atmen und den Ruf des Kuckucks zählen. Und wenn ich satt wäre von all der kleinen Lieblichkeit, dann würde ich hinübersehen zu all den gewaltigen Bergen, die der Blick von hier schon frei erreicht. Der Untersberg, der alte Märchenerzähler, blaut inmitten des weiten Tales, und Göll und Brett winken zu ihm herüber, daß das Zauberreich ihrer Felsen dem Bergsteiger noch wunderbarere Tore öffnet, als fein Schoß einst dem sterbenden Kaiser Karl.

Nach Süden zu schließt sich das Hagengebirge an, in lauter, grauen, ebenmäßig gestalteten Formen, die ihre ganze Schönheit für den Schiläufer aufbewahren. Ich würde müde werden von all dem Schauen, und eh ichs denke, liegt Mondnacht über meiner Wiese, ein Reh zieht äsend herüber, und wieder, fällt der Tau. Wenn ich einst älter bin, will ich mich an dieses, Fleckchen erinnern und zu ihm hinaufsteigen und in all der stillen Feierlichkeit an die Zeit denken, wo ich flüchtig an ihr vorüberzog, so wie heute.

Kurz vor Herrenroint grüßt einmal ganz kurz zwischen den Stämmen des Hochwalds die Schönfeld spitze herüber, und ich gehe nie vorbei, ohne auf sie zu achten, war sie doch mit ihrer, schlanken, formenschönen Pyramide der Lieblingsberg meiner, ersten Wanderjahre hier. Bei der Jagdhütte dann kommen wir zuerst in den vollen Sonnenschein des strahlend schönen Morgens. Die Felsen des Großen und Kleinen Watzmann rücken uns näher und wirken in dieser starken Verkürzung fast ein wenig plump und tölpelhaft. Aber gleich darauf nimmt uns der Wald wieder auf, der sich erst bei den Almen von Kühroint lichtet. Glockengeläut, träge sich erhebende Kühe und über den Hütten aufsteigender blauer Rauch kann uns, nicht verlocken, den raschen Schritt zu hemmen. Wir sind vernarrt alle beide, in die bleichgrauen Felsen des Watzmann, der hier schon bedeutend mehr von seinen Riesenwänden enthüllt als in Herrenroint.

Immerhin ists noch ein gutes Stück, bis wir vom Verbindungsweg nach Mitterkaser scharf links abbiegend und dann lange — zuerst noch durch schütteren Wald — steil ansteigend, den unteren Blockwall des Kars erreichen, wo wir uns nach drei Stunden scharfen Marsches zu einer Rast, die nur kurz war — denn hierher dringt noch kein wärmender Sonnenstrahl und wir zittern bald vor Kälte — mitten in Felder blühender Alpenrosen ausstrecken. Der Freund hebt lächelnd hervor, wie gut es ihm taugt, daß nun wieder jemand bei ihm ist, der die Butterbröte für ihn zurecht macht! Ueber diese realistische Erwägung schleicht sich unversehens eine kleine Traurigkeit ein und setzt sich da nieder, wo die beiden andern sonst zu sitzen pflegten, wenn wir hier rasteten. Denn vier Kameraden sind wir gewesen — der eine schnürte sein Ränzlein und grüßt nun nach altem deutschen Brauch in einer Hansestadt das Handwerk: die andere, deren goldbraune Augen immer solch merkwürdige Verwirrung im alpinen Tatendrang meines Freundes, solch Verlangen nach vielen und langen Rasten auszulösen pflegten, ist unausdenkbar fern, mehr als der halbe Kontinent liegt zwischen uns und ihr. Nun, komm, wir, zwei, die wir zurückgeblieben sind, wir wollen dennoch den sonnigen Tag genießen wie einst!

Wir rücken nun mehr und mehr zwischen jene unsagbar gewaltigen Mauern, die aus stolzer Höhe jählings zum schutterfüllten Boden des Watzmannkars abstürzen. Zu unserer Linken baut sich die Westwand des Kleinen Watzmann fast in einer einzigen Plattenflucht völlig senkrecht empor. Sie liegt im Schatten und scheint eisigen Hauch auszuatmen, der das Düstern, das ihr eignet, doch hervorhebt. Er ist ein wilder, und eigensinniger Bursche, dieser „Kleine“, und wer ihn nur über seinen gutmütigen Nordgrat bestieg, auf den Latschengassen und Moospolster sonst hinaufleiten, der ahnt nicht, wie kalt und böse er ins Kar hineindroht und welch dämonisch lockende Aufgabe er dem Kletterer stellt, der es nicht lassen kann, die naßglatten Gesimse, die bauchigen Ueberhänge und die in die dicken Kalkbankungen sich einstemmenden, dunkel trotzigen Kamine mit den Augen zu suchen, aneinander reihen, bis er es eines Tages nicht mehr erträgt und hinauf und hindurch muss wie einst mein Freund, der sie als erster in der Fallinie des Gipfels durchstieg und mit dem ich noch nie hier vorbeiging, ohne daß wir stehenblieben und hinauf starrten und zu tiefst empfanden: welch ein Weg!

Zur rechten erstrecken sich in der reichen Fülle ihrer majestätischen Bergschönheit die Ostwände des Großen Watzmann, in edler Linienführung gewinnt der Berg vom Watzmann Haus seine Höhe am Hocheck und führt seinen wuchtigen und zerklüfteten Grat über 1000 Meter weit bis zur Südspitze, um erst hier in der Schönfeldschneid sich wieder zu senken. Zwei Drittel der so begrenzten enormen Flanken fallen ins Kar ab, das südliche Drittel dagegen wirft sich ohne Unterbrechung und Absatz 2000 Meter tief zur Eiskapelle hinab und bildet die Östwand im engeren Sinn die durch den Anstieg von Bartholomä ihre wilde Berühmtheit erworben hat. Dieser Teil ist vom Kar selbst aus nicht übersehbar, dagegen zeigen sich die Abstürze vom Watzmannhaus an bis südlich über die Mittelspitz hinaus so ausbauend und so gewaltig, daß man an ihrem Bau herumrätselt, ohne doch einen Ueberblick zu gewinnen.

Zwischen Haus und Hocheck werden sie durch ungeheure Plattenlaqer charakterisiert, deren bleiches Grau von einem dünnen Geäder schmaler, schwarzer Erosionsrinnen überwogen wird Zwei kleine Dauben überragen sie, nur einem scharfen Auge von hier aus erkennbar — ein schlichtes und dochberedtes Denkmal, für die, die bis in den Tod getreu waren.

Unbegreiflich an diesem Sonnentag ist meinem Freund die Erinnerung an Schneesturm und Kälte, die sie hervorrufen und deren Widerschein augenblickslang seine Züge verdunkelt.

Unter dem Hocheck durchsetzt eine Reihe tiefer Kamine die Wand, die sich teilweise schluchtartig nach unten erweitern und in ihrer hochtypischen Art in dieser an Mannigfaltigkeit der Formation doch überreichen Wand einzig sind. Wendet sich der Blick südwärts, so ist es ein Riesen-Band, nach dem Erstbegeher Wieder-Band genannt, das ihn sofort gefangennimmt und bezaubert. Von Norden nach Süden ansteigend, zieht es breit und mächtig durch die unermeßliche Mauer, und Schneeauflagerungen, die in den meisten Sommern nicht abtauen, betonen durch ihr schimmerndes Weiß noch seine ununterbrochene Länge. Wem bei seinem Anblick nicht das Herz schneller schlägt in dem jähen Verlangen, darüberhin zu steigen, der trank noch nie den Atem des Felsens.

Zwischen diesen beiden Wällen nun hocken im Firn des Gletschers vor uns jene fünf prächtigen Felsklötze, die „Watzmannskinder“. Bei dem Gerippe einer Wettertanne, das da, wo die scharfkantigen Felsenblöcke längst alles Pflanzenleben zurückgedrängt haben, noch vereinsamt emporragt, gewinnt man den ersten Blick auf sie. Dominierend zeigt sich dem überraschten Steiger hier plötzlich das schmale und schöne Felisenriff der  Watzmannjungfrau (4. Kind), dem Ankommenden seinen messerscharfen Bug, den Nordgrat, zukehrend. Wie sie uns eine alte Liebe aus vergangenen glücklichen Wandertagen ist, so ihre beiden kleineren Nebengipfel (3. und 5. Kind), die sich auch zu dieser Jahreszeit tief unter den Firn ducken, aus schneefroher Schizeit. Nach links hin (Osten) stellen die zerrissenen Zacken des 2. und 1. Kindes die Verbindung mit dem Kleinen Watzmann her, während sich nach rechts (Westen) Mischen 3. Kind und Ostwand in sanftem Bogen eine Scharte spannt, deren Schnee geradezu blendend vor dem tiefen Blau des Himmels steht.

Und über der Wildheit all dieser Gipfel, Grate und Wände, über den Geröllhalden und den weiten Schneefeldern liegt, beruhigend wie eine weiche, zärtliche Hand, die Stille des einsamsten Hochgebirges.

Wir standen am Saum des Firns, als mein Freund sich zu mir wandte und lachte:

„So, Du. Ostwand, Kleine Watzmann-Westwand oder Überschreitung der Kinder, jetzt such Dir aus.“

Die Zaghaftigkeit von gestern Abend überfiel mich hinterrücks.

„Weißt Du,“ schlug ich vor, „ich bleib halt hier und schau Dir zu, wie Du kletterst und geh ein bißchen zur Scharte hinauf“.

„Ja. gibt’s denn dös al“ höhnte er. „Moanst, das tat mi freuen? I alloan? Ja was tut er denn!“

„Ich zwing’s am Ende nicht. Beppi,“ sagte ich kleinlaut.

„A, Schmarrn, da fehlt nix, das sag Dir i. Also?“ war die ganze Antwort.

Was halfs, ich mußte Umschau halten wie weiland der alte Hesekiel unter den Töchtern Israels. War es ein Wunder, daß sie in ihrem Mantel von Sonnenglanz, durch jene Schneestreifen so zierlich verbrämt, mit ihrer stolzen und erdabgewandten Gebärde, sie, die Watzmann-Ostwadb, mir als das Köstlichste ringsum erschien? Und dann jenes herrliche Band, wie konnte ichs nur vergessen! „Die Wieder-Route!“ bat ich den Jungen, der alte Bergherrlichkeit zu verschenken hatte. Mit einem Schlage versank das letzte Bedenken, und jene starke Freude, die allen Sieg in sich trägt, verband uns wieder, wie sie es noch auf allen Türen getan hatte.

Wir hielten uns nun mehr nach rechts. Die Steilheit der langen Schneehänge nahm rasch zu.

„Kannst Di hier noch derfangen, wenn’s abi geht?“ Ich meinte es wohl und gab auch keine Veranlassung zu derartigen Reflexionen. Dennoch seilten wir an, als wir uns über einer Randkluft bewegten, und ich erkannte darin meines Freundes alte Gewissenhaftigkeit wieder, die jedoch niemals irgendwie die Ueberlegenheit andeutet, aus der sie erwächst.

Ich wußte nun wieder, daß niemand meine besten Kräfte so wachrufen imstande ist wie dieser junge Mensch, und unbegreiflich war mir die leise Angst, die mich noch gestern vor der Kühnheit seiner Wege erfüllte. Wir sprachen noch niemals von diesen Dingen miteinander, aber ich denke, sie sind ihm bewußt wie mir, denn man lernt sich kennen am Berg, bis ins letzte. Und der frohe Blick zum andern hinüber und der feste Händedruck, die haben ihre tiefen und guten Gründe.

Der Einstieg zu unserer Route, die vom Ansatz der Wand im Kar direkt zur Mittelspitze hinaufführt und somit einen Höhenunterschied von 800 Meter in strenger Felsarbeit überwindet, befindet sich ziemlich verdeckt in einer Schlucht, die man vielleicht am ehesten an ihrem rötlichen Gestein und ihrer süd-nördlichen Richtung — man hat die Wand also zur linken — erkennt. Das Gestein ist gut gestuft, aber von Geröllauflagerungen nicht ganz frei. Man gewinnt rasch an Höhe, von der man jedoch ein wenig aufgeben muß, um über plattigen Fels, der heute naß war, den Beginn des Bandes zu erreichen, das über uns in umgekehrter Richtung emporführt. Hier kam ein breiter Strahl Schmelzwasser aus großer Höhe mit solcher Gewalt herabgedonnert, daß wir nur mit Müh? in ihm unsere Flaschen auffüllen konnten, und ich mir einige Schelte wegen naßgewordener Kletterschuhe holte.

Mir schlug das Herz laut vor Freude und Erwartung, als wir jetzt, nach der Wendung südwärts und Ueberwindung einiger luftiger Steilstufen, das Band betraten. Und wirklich, ich weiß nichts, was ich der Eigenart und der Macht dieser Szenerie vergleichend an die Seite stellen kann. Bis zu 40 Meter breit, von einigen tiefgekerbten, seltsam verästelten Kannelüren überspannen, völlig glatt, ohne jede Steigung nach außen, steigt dieses Band ohne Unterbrechung durch die Wand empor. So wie ein edles Thema durch alle Sätze einer Symphonie geht, so wie ein starker Wille schlicht durch die Wirrsal des Lebens führt, so leitet dieses Band hinauf. Es haftet der Landschaft etwas Heroisches an. und wollte man es versuchen, ihr Bild in Worte zu spannen, so würde man unwillkürlich ein schweres und feierliches Versmaß, eine alte und klassische Sprache wählen. Uns segnete die Sonne den Weg. Sie ließ die mächtigen Schneewälle, die noch im Winkel der Wand lagen und uns stellenweise bis scharf an die Kante drängten, in weißer Pracht aufleuchten. Sie machte das Gestein so bleich und eintönig, daß es sich kaum abhob vom Schnee. Zuerst tastete der weichbesohlte Fuß zögernd auf den Platten, bald aber gewöhnte er sich an diese scheinbare Haltlosigkeit und vertraute den kleinen Rauhheiten, die das Auge nicht mehr wahrnimmt. Hand in Hand gehen wir mühelos nebeneinander empor, ohne Worte und hingegeben an die Erhabenheit unseres Weges.

Er findet sein Ende an einem Turm („Bandwächter“), der — zierlich und fast wie künstlich aufgerichtet — einer Hermessäule an griechischer Straße gleicht. Nun links von ihm über die senkrechte Wand in köstlichster Kletterarbeit empor und man stößt bald auf einen Steinmann, der in einer alten Blechdose die Karten der Ersteiger enthält. Sie waren völlig durchnäßt und von braunem Rost überzogen. Da wir hier rasteten, hatten wir Muße genug, sie sorgfältig zu trocknen und ihr Datum abzulesen. K. Wieder (Salzburg) führte den Anstieg am 29. Mai 1923 unter erschwerenden Umständen mit H. Lapuch zum ersten Mal durch und wiederholte ihn dann am 17. Juli 1921 mit drei anderen Begleitern. Die nächste Durchsteigung erfolgte am 31. Juli 1921 durch Aschauer, eben meinem Gefährten, mit dem Berchtesgadener Schelle. Wir konnten nicht alles entziffern, obwohl wir uns viel Mühe gaben, um festzustellen, wie oft die Wand in den drei Jahren ihrer Erschließung begangen worden ist. Nach dem, was wir herauslesen konnten, handelte es sich heute um das 7., höchstens 10. Mal, was in Anbetracht der überragenden Schonheit dieser Wand, ihrer bequemen Lage und ihrer klettertechnisch äußerst günstigen Struktur erstaunlich gering ist.

Vielleicht liegt es daran, daß die benachbarte Bartholomäwand sie in den Schatten stellt, aber doch wohl zu unrecht, denn wenn auch die Länge derselben dieser ohne Weiteres den Vorrang als alpine Leistung sichert, so trägt doch die Kletterei, von einigen wenigen schwierigeren Stellen in der Bartholomä-Wand abgesehen, naturgemäß denselben Charakter. Und was, die landschaftliche Schönheit betrifft, so waren der Freund und ich uns darin einig, daß es uns ganz unmöglich sei, der einen oder der andern den Preis zu erteilen. Gewiß ist der Tiefblick beim Bartholomäweg ein größerer, dafür hat man aber hier zu seinen Füßen den schimmernden Gletscher, mit dessen Weihe und prachtvoller Ausdehnung der schmutzige Firn der Eiskapelle am Rande der Wälder von Bartholomä nicht wetteifern kann. Ja. hier hat man noch den gewaltigen Blick in die ungeheure Wandflucht der Südspitze, der, wenn man sich in ihr selbst befindet, in den nächsten Wellen von Fels hängen bleibt, durch die man sich emporringt.

Ein leichter tänzelnder Wind gesellte sich zu uns, als wir nun weiterstiegen und milderte die Glut der Mittagsstunden, in der es mehr und mehr schwül lauerte. Es war so froh, so leichtgemut, dieses Klimmen im Fels, und obwohl ich es lange kenne, entzückte mich die Sicherheit, mit der mein Kamerad kletterte, doch wieder aufs neue. In seinen Bewegungen war jene Mühelosigkeit und Feinheit, die nur organisch werden und wachsen kann. Mit langausgreifenden ruhigen Bewegungen wurde er der schwersten Stellen Herr und die unbegreifliche Grazie, mit der er sie überwand, hätte mich wohl manches Mal über die Natur dieser Stellen getäuscht, wäre er dann nicht stehen geblieben, um sichernd das Seil einzuziehen. Er hatte eine eigene Art, die Hände behutsam auf das Gestein zu legen, um sich kaum merkbar in seichten Rillen zu verklammern, fast wie Streicheln war es. Niemals entstand die bange Frage, ob das Ziel unser würde — das stand ‚ganz außer Zweifel. Nirgends ward unser Weg zu jenem verbissenen und trotzigen Ringen, das den Berg wie einen Feind bezwingt. Wohl war es immer noch redlicher Kampf, wohl leuchte die Luft oft schwer in meinen ausgepumpten Lungen, aber es blieb genug Freiheit, sich der kleinen vereinzelten Blüte zu erfreuen, die ihr zartes Köpfchen in einer Ritze wiegt; genug, um dem huschenden Flug der Gipfeldohlen nachzusehen, genug auch, um den dürstenden Blick in die Weite der Berge hinauszusenden. Die Zeit steht uns still, und jede Unrast verklingt: alles was uns groß und begehrenswert dünkt, ist unser.

Den langen Quergängen, aus denen sich die untere Anstiegshälfte bewegt, folgt in der oberen eine mehr direkte Richtung. Man hält sich vorwiegend in einer seichten Schlucht in der Fallinie des Gipfels. Da er ein „Vielbesuchter“ ist, so ergibt sich für den „Ostwandler“ das zweifelhafte Vergnügen, üppig wuchernder Steinschlaggefahr. Aber auch durch die menschenfernen Teile der Wand hörten wir mehrfach lange und schwere Schläge gehen.

Nicht ganz unerwartet — denn sie hatte schon ins Kar zu uns herabgefunkelt — sahen wir uns dann plötzlich einer Schneewand von solcher Steilheit und so grauenvoller Ausgesetztheit gegenüber, daß wir augenblicks lang zögerten — wir waren ohne Pickel. Dann wechselten wir das Fußzeug, klemmten uns vorsichtig auf die kaum handbreite, nasse Felskante, die zwischen Schneerand und senkrechter Tiefe das einzige war, was an festem Boden blieb und sahen empor. Der Freund griff noch einmal prüfend an den Seilknoten auf seiner Brust und begann, ganz gerade aufzusteigen. Er hieb in kraftvollen Stößen die Füße fest ein, aber der Schnee war naß und breiig. Große Stücke flogen zischend in den freien Raum hinaus. Da war es ein Gedanke, der mich brennend schmerzhaft durchzog: nicht, daß, wenn der Schnee unter dem Freund vollends ausbrach, ich, da ich ihn nicht würde halten können, an sein Schicksal gebunden war, o nein, aber daß alle, die ihn verloren, ohne Weiteres glauben würden, ich habe es durch mein geringeres Können verursacht, das bereitete mir eine so bittere Qual, wie sie unsere Phantasie nur in Augenblicken höchster Nervenanspannung entstehen läßt. Viel Zeit hatte ich jedoch nicht. In den guten Spuren des Freundes, den leichten Seildruck wie tröstend Empfindend, folgte ich ihm nach. Fast berührte das Gesicht den Schnee, so groß war die Steigung des Hanges, und der gesenkte Blick fiel an den Füßen vorbei, ohne Hemmung Hunderte von Metern hinab ins Kar und hinüber in den selig blauen Himmel. Es waren nur zwei Seillängen.

Dieser blaue Himmel aber hatte uns noch ein seltenes und fesselndes Abenteuer zugedacht, das unseren schönheitstrunkenen Weg mit knisterndem Flammenspiel krönen sollte.

Keine Wolke war zu sehen, kein jäher Wind nahm sich auf, nur um die höchsten Zinnen unseres Berges lag ein bläulicher Dunst, der sich mehr und mehr zu verdichten schien und wie Mittagsglut über dem Grat flirrte. Wir hatten einen steileren Wandabsatz überwunden und befanden uns auf schönen, aber trittarmen Platten etwa 30 Meter unter dem Gipfel, als, mein Gefährte plötzlich ruckartig aufschnellte und im gleichen Augenblick erregt ausrief: «Elmsfeuer!“ An die Lebhaftigkeit seiner Aeußerungen gewöhnt, hob ich geruhsam die Augen von meinem Griff — noch heute sehe ich diese Rille im Plattengrund vor mir! —, um nach dem Gipfelkreuz auszuspähen, da ich annahm, sein Ausruf bezöge sich auf dieses. Aber es, war noch nicht in Sicht und erst als ich in das erschrockene, Gesicht des Freundes sah, begriff ich, daß über dem Bergfirst eine Hochspannung lag, die durch ausströmende Elektrizität verursacht war und in deren Region wir nun gerieten. Joseph hatte beide Hände auf die nackten Schultern gepreßt, wie um einen unangenehmen Schmerz zu mildern und zum ersten Mal sah ich ihn überrascht und ratlos. „Die Jacke über!“ schrie ich ihm zu, und in Windeseile riß er sie aus dem abgeworfenen Rucksack. Ich hatte ihn inzwischen eingeholt und in dem Augenblick, als ich die Hände hob, um ihm behilflich zu sein, fuhr es wie mit taufend Nadeln stechend durch sie hin durch und wie gelähmt ließ ich sie sinken — nun war auch ich im Bereich der elektrisch geladenen Atmosphäre, deren Abgrenzung gegen die von der Spannung freien Zone sich hätte haarscharf feststellen lassen können. Knisternd sträubten sich unsere Haare auseinander und bei mir so toll, daß ich sie kaum unter die seidene Zipfelmütze bändigen konnte, die ich nun hervorzog. Alles, was wir zunächst instinktiv empfanden, war: Eile! Und so stürmten wir über die letzten Platten ohne weitere Achtsamkeit und Seilbedienung. Mit jedem Schritt aber, den wir höher hinauf kamen, nahm die Stärke der elektrischen Ausströmungen zu.

Manchmal fuhr sie so stark und jäh durch uns hin, daß wir die Handflächen gegen die Kopfhaut drückten, um die unerträgliche, reißende Spannung in derselben herabzudämpfen. Oft, wenn man die Hand ausstreckte, um Halt im Gestein zu finden, fuhr es schlagend in sie und ich mußte dann alle Energie aufwenden, um dennoch zuzupacken. Nebenbei suchte ich in meinem Gedächtnis nach Resten alter Physikkenntnisse aus der Schulzeit — leider waren sie äußerst dürftig — um zu ermitteln, was zu tun wohl jetzt das Beste war. Ich erinnerte mich etwas unbestimmt über tückische und durchaus nicht harmlose Rückschläge gelesen zu haben, gleichzeitig dämmerte mir die keineswegs tröstliche Behauptung aus irgend einem Bergbuch, daß die Blitzgefahr auf Graten und Gipfeln in allgemeinen nicht unterschätzt werden dürfe. Aber vorwärts!

Keuchend kamen wir auf der Mittelspitze an. Einen Augenblick mußten wir verweilen, um den Puls ein wenig ausschlagen zu lassen. Das eiserne Gipfelkreuz brauste ein ein Gießbach, alle Besucher schienen längst umgekehrt zu sein. Diese völlige Einsamkeit hier oben, das dröhnende Eisen neben uns und der weite lachende Himmel ringsum, der von nichts zu wissen schien und sich sorglos über all die unendlichen Bergzüge spannte, die das Auge von hier erreicht, hatte etwas Grandioses, und wir empfanden und genossen es. Doch liessen wir uns nicht die Zeit, uns in’s Buch einzutragen, sondern hasteten weiter.

Mit jeder Minute wurde unsere Lage verschärfter und unheimlicher. Alle Sicherungen surrten und wir hielten uns nach Möglichkeit von ihnen fern. In den Gratscharten war es stets erträglicher, stiegen wir aber wieder empor, so schien sich die fremde Gewalt, der wir wehrlos preisgegeben waren verdoppelt zu haben. Manchmal rissen diese Eindrücke so alt den erregten Nerven, daß deren Widerstandskraft vielleicht in Frage gestellt worden wäre, wenn nicht die Aufmerksamkeit durch die Eile, mit der wir uns über den Grat kämpften, abgelenkt worden wäre. Mir schien es selbst kaum glaublich, daß wir knapp 12 Minuten, nachdem wir die  Mittelspitze verlassen hatten, ins Unterstandshüttchen auf dem Hocheck schlüpften.

Auch hier war es leer. Hochatmend sahen wir uns an — so waren wir doch noch nie gelaufen! Das Tempo in der Wand selbst, für die wir 235 Kletterstunden brauchten, kam mir jetzt kaum noch rasch vor! Waren mir in der Hütte sicher? Wir wußten es nicht, aber es ist merkwürdig, daß vier dünne Bretterwände genügen, um dem Menschen die Illusion zu geben, er sei allen feindlichen Mächten der Natur entronnen.

Während wir das Seil einpackten und die Nagelstiefel anzogen, polterten die ersten schweren Gewitterschläge um uns. Das Feuer der Blitze blendete in solcher Nähe, daß uns jedes Mal eine körperliche Erschütterung spürbar ward. Dabei fiel kein erlösender Regen, und die Ferne blieb klar und sonnenlichterfüllt. Wir hatten beide etwas Aehnliches noch nicht erlebt und standen noch lange unter dem Eindruck dieses dämonischen Ausklanges unseres Weges.

Eine Stunde später stießen wir im Watzmannhaus wieder auf Menschen, die ersten heute. „Gnädigste“, sagte ein älterer Herr zu mir, neben dem ich meine Suppe löffelte, „gehen Sie nicht auf die Mittelspitze, höchstens aufs Hocheck, es ist kein Weg für Damen.“ Ich bewahrte mein kleines Geheimnis, aber mein Gefährte lachte belustigt auf.

Von der Falzalm führte uns ein Jagdpfad schnell nach Kühroint hinüber. Dann aber wurde mir ein Umweg nach Norden nicht geschenkt, mußte ich doch notwendig die Schütte sehen, die die jungen Schiläufer Berchtesgadens mit köstlichem Eifer sich hier erbauten und die mein Freund mir schon in den glühendsten Farben geschildert hatte. Vielleicht, wenn ich noch besser Schi laufen lernen würde, dürfte ich auch einmal darin übernachten — ja, und nebenbei, das Schiklubmitglied durfte ich es natürlich so wie so! Nun, ich war dann doch sehr neugierig, aber keine Mauer, kein Dach schimmerte uns durch die Stämme entgegen — vorerst war von der Hütte nur ein kleiner viereckiger Fleck Waldboden vorhanden, den man von Moos und Gestrüpp befreit hatte und in dessen Mitte ein großer zentnerschwerer Stein sich wichtig und hinderlich machte. Die wackeren Erbauer der zukünftigen Hütte, mir wohlbekannte junge Berchtesgadener, streckten sich behaglich im Grase daneben, neckten ein „Deandl“, das sie sich mit heraufgenommen hatten — natürlich! — und rauchten Zigaretten.

„Der Stoan!“ seufzten sie, „der Stoan, so a Mistviech von Stoanl“ Ich bewunderte alles und lobte sie mit viel Begeisterung, und ein kleines Narrenglöckchsn bimmelte freundlich und vergnügt dazu.

Der Heimweg durch die stillen Wälder und den Frieden des Tales war dann der letzte Ton in der Melodie dieses Tages. Am Westhimmel brannte flammend und groß der Abend.

 

Kaspar Wieder – Durch die Ostwand der Mittelspitze

Ein neuer Weg zur Watzmann-Mittelspitze

(1. Ersteigung über die Ostwand, direkt vom Gletscher aus.) 

Von Kaspar Wieder Salzburg.

 Die Salzburger und Berchtesgadener Alpen in Wort und Schrift bereits vielfach gepriesen, verdienen dies Lob in der Tat. Großzügig an Masse und Gestaltung, Wände, Grate und Türme, den vielgerühmten Bergen südlich des Brenners vielfach ebenbürtig. Eine stattliche Reihe von Wanderungen in obengenannten Gebirgsgruppen erschloß mir eine Fülle ihrer Geheimnisse und Schönheiten.

Ein herrlicher Wintertag im Gebiete des Watzmanngletschers zunächst des westlichsten „Kindes“. Dem Eise des Gletschers entsteigt die Ostwand der Mittelspitze, hunderte von Metern türmt sich eine Flucht prachtvoller Platten zum höchsten Gipfel. Durch Jahre als unersteiglich in Geltung, lockte ihr Prachtbau ganz einfach unwiderstehlich. In voller Wucht und Höhe zeigt sich die schneebelastete Wand. Mit hohen, platten Mauern erhebt sich der massige Bau aus dem Gletscher, ein riesenhaftes Band gewaltiger Breite und Länge krönt diesen Abschnitt.

Der rötlich gelbe Wandteil unter dem untersten Drittel des Riesenbandes , wird, bis herab zum Gletscher, von einer versteckten, hohen Rinne durchrissen, welche den Einstieg vermittelt. Einbuchtungen, Schroffe Mauergürtel fasst regelmäßig, von schmäleren Bändern unterbrochen , bilden die weitere Signatur zum Ziel umworbenen Bergeshaupt. Vom sftarten »Heiß“ unterstützt, fand ich den auch einen Pfad zurecht, dessen mögliche Begehung keinen Zweifel litt.

Befriedigt stecke ich also meine Skizze und talabwärts gleite ich in flotter Fahrt. Die bisher fälschlich als „Ostrwand vom vom Gletscher aus“ bezeichnete Route, führt über den aufs Massiv der Mittelspitze mit Watzmannkindern verbindenden Grat in die Südabstürze des Berges und über diese zum Gipfel. Route vom Jahre 1868 durch den Ramsauer Führer Josef Berger mit A. Kaindl-Linz und I. Pöschl-Wien.

Drei Monate später 29. Mai 1920. Vier Uhr früh die Schapbachalm. 1040 m mit Hermann Lapuch-Salzburg verlassen standen wir trotz ermüdender, säumender Schneewaterei, 3 Stunden später etwas

überhalb der Gletschermitte,  gerade gegenüber der gelbbrüchigen, niederdräuenden Einstiegsrinne in „unsere“ Ostwand. Die vielerorts lagernden Schneemassen ließen keinen Zweifel über den Ernst unseres verfrühten Unternehmens. Gleich einem umgestürzten Schiffskiel ragte am  B. hoch im Gipfelmassiv am obersten Schneeband eine riesige Wächte in die Luft und bedrohte somit unsere Anstiegslinie zu zwei Dritteilen aufs schwerste. Hier nun zwischen Angriff oder Rückzug zu entscheiden, oder, drastischer ausgedrückt, zu verhindern, daß die Vernunft mit der Leidenschaft durchbrenne, fiel mir übel auf Herz und Hirn.

Wir wagten indes den großen Wurf, das Glück ward uns hold und es gelang. Nach etwas mehr denn fünfstündigem, schweren gefährlichem Ringen mit wassertriefenden Fels, Eis und Schnee, arg bedroht von fallenden Steinen und abgebrochenen Teilen der Gipfelwächten, standen wir am Ziele. Erfreut und ergriffen ob all des Gewaltigen Ernsten, das uns zu durchleben soeben beschieden gewesen, genossen wir – ausnahmsweise ungestört – aus ragender Rinne den Lohn unserer Mühen.

Daß die soeben angedeuteten Verhältnisse nach der in der Hauptsache beendigten Schneeschmelze wesentlich günstiger sein mussten, ward mir klar, und dünkt es mir zweckdienlicher, eine Fahrt unter solchen Umständen ausführlicher zu schildern.

17 Juli 1921. Mit den Herren Hauptlehrer I. Gmelch, Justizrat G. v. d. Pforndten-Traunstein und Fr. Weiser, Salzburg wandere ich von »Dorf“ Königssee zur Kührointalm 1458 Meter. Eine unangenehme Ueberraschung auf diesem Wege verursachte die doch kaum so vordringliche, wohl zwecks Umgehung des Jagdhauses Herrnroint durchgeführte Weg bezw. Markierungsänderung. Ziemlich steil, fast schnurgerade, führt dieser „Schinderweg“ in schweißtreibendster Art zur Höhe.

Bei den Hütten von Kühroint lange vergebliches Bitten um Nachtquartier. Freilich, nachdem wir erfahren, wie alpine Wildlinge hier zur Winterszeit gehaust, begriffen wir deren Abneigung, jemand zu beherbergen, voll und ganz. Bergsteiger, Alpinisten, im guten alten Sinne, sind derartige Gelichter nicht. Hoffentlich überlebt sich diese tief bedauerliche Periode der Verrohung und Verwilderung.

Vielversprechend ward der junge Tag geworden als wir 5.20 Uhr morgens auf dem die Kührointalm mit dem Mitterkaser verbindendem markierten  Wege bergwärts schritten. Wir folgen selben etwa 15 Minuten, biegen bei der ersten deutlichen Weggabelung links ab, um später dann, stets auf mehr oder minder deutlichen Steigspuren ins Blockgewirr des eigentlichen Watzmannskares selbst zu gelangen. Wir schwenken mählich recht ab, ersteigen den in der Karmitte aufragenden, begrünten Felskopf und streben nun geradeaus dem Gletscher zu.

3 Stunden vor der Alm unfern eines den Gletscher durchbrechenden Felshanges kurze Rast. Erwartungsvoll blicken wir zu unserer, in erhabener Ruhe und Größe ragender, von einem Meer aus Licht und Sonne umflossenen Ostwand empor.

Wir brechen auf. Der im spitzen Winkel zur Einstiegsrinne emporziehenden Gletscherecke steuern wir zu, knapp links der im Firn untertauchenden, hangenden Platten. 8 Uhr früh. Eine Randkluft ist nicht vorhanden, leicht wird die Rinne erreicht und klettern, nach abermaliger kurzer Rast, zu einer plattigem Verschneidung empor. Die Kletterei ist kaum sonderlich schwierig, doch erheischt das noch nicht beseitigte, teilweise etwas lockere Gestein erhöhte Vorsicht. In enge verschneidende Plattenwinkel nun an kleinen, doch festen Griffen hinauf und weiter in gerölliger Rinne zum Ende derselben bei einem vorragenden, von einem mächtigen Blocke gekrönten Felskopfe. Knapp unter denselben zerschellte ein aus großer Höhe kommender Stein, das einzige, welches wir zu beobachten tagsüber Gelegenheit hatten. Eine Steintaube am Beginn der Einstiegsrinne, sowie ein solider Steinmann am bereits erwähnten, das Rinnenende bezeichneten Felsblocke. bilden die ersten Merkmale der richtigen Fährte. Das größte Fragezeichen der Tur. die untersten allerorts senkrechten, teilweise überhängenden Mauern, ward also ohne besondere Schwierigkeit gelöst. Von schulterähnlichem Vorsprung an die 20 m aufwärts schreitend, gehts dann auf schönem Bande rechts, so ungefähr wagrecht an stets wasserdurchströmten Rinnsal vorüber und hinaus zur schneefreien Terrasse am Beginnen des linksaufstrebenden Riesenbandes. Hier traten nun Kletterschuhe in Dienst. Füllte den mittleren Teil des Bandes auch ein mächtiger Schneewall, verbürgte der größtenteils schneefreie Außenrand hierfür ein rasches, hindernisloses Höherkommen. Zum 2. Male betraten Menschen dies gigantische, iahrtausendalte Wunderwerk schaffen der Kräfte im Weltall. Voll freudiger Zuversicht betreten wir die glattgescheuerten, von zahlreichen, vielfach geknickten Komelüren durchfurchten Platten. In verblüffender Länge durchzieht es, anfangs von ungewöhnlicher Breite, später etwas schmaler werdend, ohne die geringste Neigung nach außen fast die ganze Länge der Ostwand. Sicher haftet der Kletterschuh an den Rillen und Runsen des Gesteines, nirgends fand ich Großartigeres als an diesen ungeheuren Plattenschüssen. Dabei mangelt es keinesfalls an geeigneter verläßlicher Sicherungsmöglichkeit. Allmählich verbreitert sich der Schneewall, knapp am Rande des gewaltigen Abgrundes mit ergreifendem Tiefblick zum Gletscher, geht’s weiterhin völlig unschwierig zur Höhe.

Nun hat auch dies ein Ende. Ein großer Schneeschild ragt über, den Rand ins Leere und verrammelt brutal den sicheren Weiterweg. Darüber hin in geschlagenen Stufen zu wollen, verbot die einfachste Vorsicht. Gelegentlich der ersten Ersteigung wagten wir überhaupt nicht den schneefreien Außenrand in der unteren Bandhälfte zu betreten, hackten und kletterten vielmehr in geradezu abenteuerlicher Weise an die 200 Meter in der tiefen, von phantastisch geformten Eis und Schneedraperien gefährlich verzierten Randkluft empor.

Wieder angetan mit den schwerschrötigen Nagelschuhen, schlage ich eine Reihe solider Stufen in steilendem Schneehang zur Rechten, komme hierdurch ewige Spalten in die Quere, nach deren etwas heikler Ueberwindung uns eine wasserdurchträubte Schneemulde kurzen, ungemütlichen Aufenthalt gewährte.

Etliche Stufen an fast senkrechter Schneewand brachten uns dem Bereiche dieses völlig regelrechten Gletscherbruches. Im Winkel der Wand, entlang eines niederen Schneewalls, eine Seillänge in eine Plattenmulde empor, welche den wieder vorteilhaft empfundenen Schuhwechsel gestattete.

Die Glätte der Platten erfährt hier eine erhebliche Steigerung, eigentümlicherweise aber nicht deren Schwierigkeit. Wir queren abermals zum Rande hinaus, geniessen einen unvermittelten Tiefblick zum Gletscher und streben dann über aufgelöste Felsen dem Bandende zu. Zwischen dem vor uns stehenden Turm – Bandwächter – links und der Hauptwand rechts, durchsteigend jenseits einige Schritte abwärts und die Querung ist beendigt. Knapp links von einer niederen Stufe durch eine lichte Rinne gerade unter einem großen, schützenden Ueberhang empor. Vereinsamt steht hier seit mehr denn Jahresfrist unser Steinmann, seine Karten hatten sich nicht vermehrt — wir sind heute die zweiten Ersteiger.

Kurze Rast ist allseits willkommen. Prachtvoll der Blick in die hehre Landschaft. Es ist 11 Uhr mittags. Etwas mehr denn bis Hälfte der Wand wurde in drei Stunden erklommen. Die bisher in langen Quergängen gewonnene Höhe wird, nun von einer mehr geraden Linie abgelöst. Den mächtigen Ueberhang zur Linken klettern wir durch eine leichte Rinne an einem markanten Felsbach vorüber, steigen wenige Schritte ab und befinden uns, schwach rechts haltend, alsbald in einer breiten Einbuchtung unmittelbar in der Fallinie der Mittelspitze.

Ueber sehr steile, jedoch vorzüglich fest- und gutgriffige Felsen, klimmen wir inmitten wildgroßartigen Felsengrundes empor bis nahe an die vom Schmelzwasser des obersten Schneebandes durchströmte tiefe Schlucht.

Einen Versuch, auf diesem verhältnismäßig kurzem Wege zum Gipfel zu gelangen, gab ich, in Kürze gänzlich durchnäßt infolge Uebermacht des Wassers, auf. Diese Wegänderung, welche rechts (nördl.) des Gipfels enden würde und, wie ich feststellen konnte, ohne weiteres Durchführbar wäre, verliert eben infolge dieses Uebelstandes jede praktische Bedeutung. Wir wandten uns daher links (südl.) kletterten auf dem aus drei übereinander gelagerten Schichtbänken bestehenden, fast schneefreien Bande der Südkante zu; bei einem niederen, spitzen Felszahn wird diese betreten. Ein Prachtblick bietet sich hier dem Stürmer der Ostwand: Unbehindert ist die Schau in die 1800 Meter hohe Riesenwand von St. Bartholomä, auf 1300 Meter hoher Südwand thronend, ragen gotischen. Türmen gleich, die Säulen der Watzmannkinder ins strahlende Licht.

Ueber einer Reihe hoher Felsgalerien erblicken wir im Norden die Plattenburg des Hochecks. Weit im Osten die gletscherstolzen Felsriesen des Dachsteins, desgleichen in ihrer stillen und doch so erhabenen Schönheit die seenreichen, gipfelgewaltigen Höhen der Niederen Tauern und weiter gen West die Riesen des ewigen Eises. Im Lande der Dolomiten sah ich nichts Schöneres.

Prüfend und wägend betrachteten wir vor Jahresfrist den schroffen Gipfelbau; als sturmfestes Bollwerk von grauen, senkrechten Platten schwingt sich derselbs zum nahen Ziele auf. Auf schönem Bande kamen wir damals um die Kante in eine seichte Buchtung, durch diese an sehr schwierigen, ausgesetzten und kleingriffigen Platten gerade aufwärts haltend, zu blockbesezter Kante und über diese zum Gipfel. Heute obwaltet diesfalls keine Sorge und diesen Umstand« möchte die verminderte Aufmerksamkeit zuzuschreiben sein, welche mich auf ein wohl tiefer liegendes, jedoch bequem gangbares Band geraten ließ.

Da nun meine Gefährten keinerlei Wert auf Fallinienpraxis legten, suchten und fanden wir für die letzten paar Seillängen auf bedeutend leichterem, gleich herrlichen, luftigen Kletterfels den Weg zum Ziele. Auf dem Bande mit wundervollem Blick zum dunklen Grunde der Eiskapelle und des Königssees hinschreitend, verlassen wir dasselbe knapp vor seinem Endes und klettern über völlig senkrechten, plattigen Fels gerade empor. Jenseits einer tiefen Schlucht erblicken wir die ersten Werke schaffensfroher, bergfreudiger Menschen: Die Drahtfeile des Gipfels. Sonderbar! Welch mächtige Freude lösen doch diese in uns. Gipfelsüchtiges Sehnen trieb uns jedoch weiter. Abermals auf plattigen, ausgesetzten Felsen empor; schwach rechts haltend, wird die blockige Kante und auf ihr leicht und rasch Berchtesgadens höchste Zinne 2714 Meter erklommen.

Ein Uhr Mittag ist’s. Fünf Stunden hatten wir vom Einstiege bis hierher benötigt, eine Zeit, welche ohne weiteres bedeutend gekürzt werden kann. Wir hatten und machten es nicht eilig. Es wurden auch gelegentlich der 3. und 4. Ersteigung durch die Berchtesgadener Aschauer, Schelle und Schuster, sowie den Salzburgern Reumanr, Dr. Nopper, Frl. Doppler und Schifferer wesentlich kürzere Zeiten erzielt. Doch hat dies nichts zur Sache.

Ein ungefähres Urteil über diese Tur soll m folgende Worte gefaßt fein: Steingefahr ist, wie bei allen derart ausgedehnten mächtigen Wandfluchten vorhanden. Doch ist diese im Allgemeinen kaum besonders bedenklich. Steine, welche infolge menschlicher Gedankenlosigkeit ihren Weg zur Tiefe nehmen, bilden ja eine Gefahr für sich.

Dagegen kämpfen bekanntlich auch Götter vergebens. Gerölle liegt nur im oberen Teil der Einstiegsrinne. Bänder und Platten bestehen aus gutgriffigem, kahlen, harten Fels. Die bis zum späten Frühsommer auf den Bändern lagernden, langsam abschmelzenden Schneemassen, lassen eine genußvolle Durchkletterung nicht vor Ende Juni empfehlenswert erscheinen. Als günstigster Stützpunkt kommt wohl die Hütte des Mitterkasers und, falls auf Nachtlager gerechnet werden kann, die Hütten von Kühroint in Betracht. Am bequemsten allerdings ist die Uebernachtung im Watzmannhause. falls man sich mit dem 400 Meter betragenden Höhenverluste, welchen der Abstieg ins Watzmannkar erfordert, abzufinden vermag. Dasselbe gilt sowohl für Turen auf den kleinen Watzmann, (Westwand, Südwestgrat), als auch für die Ersteigung oder Überschreitung der Watzmannkinder.

An Großzügigkeit, landschaftlicher und tektonischer Schönheit mit der Bartholomäwand wetteifernd, an technischer Schwierigkeit ihr ebenbürtig, zählt diese Bergfahrt als leuchtender Edelstein im Kranze lebensfroher Bergerinnerungen