Wilhelm von Frerichs – Ode an die Ostwand

Die Ostwand.

Die Ostwand des Großen Watzmanns ist unstreitig die großartigste seiner Fassaden. Topographisch betrachtet zerfällt sie in zwei scharf gesonderte Teile : Der nördliche entragt dem Watzmanngletscher und fußt auf dem Nordabhange des mächtigen Anbaues, der sich in Gestalt der Watzmannkinder und des Kleinen Watzmanns unterhalb der Mittelspitze aus dem Massiv loslöst. Die relative Höhe dieses Abschnittes, vom Scheitel des Grates Hocheck — Mittelspitze bis zum Geröll und dem schmutzigen Firn des Watzmanngletschers gemessen, schwankt zwischen 500 und 600 m. Auffallende Schichtbänder durchziehen diese durch Glätte und Schroffheit gekennzeichnete Wand. Der südliche Teil der Ostwand zeigt gewaltigere, riesenhafte Dimensionen. Mehr als 1900 m mißt der Absturz vom Kreuz der Mittelspitze bis zum Geröll des Eisbachtales, bis zum gewölbten Gletschertor der Eiskapelle.

Von dem Winkel der anstoßenden Südwand der Watzmannkinder bis zu einer großen, aus dem Südgrat der Schönfeldspitze sich lösenden Rippe reicht die eigentliche Ostwand. Schon eine oberflächliche Betrachtung lehrt, daß der Charakter ihrer Struktur ein mannigfaltiger ist und daß sie sich ungezwungen von oben nach unten in drei Zonen zerlegen läßt, deren jede ein anderes Gepräge zeigt.

Den Unterbau bilden die ungeschichteten Massen des Ramsaudolomites. Sie zeigen wechselnde Neigung, bald ungangbare Abbrüche, bald weniger jähe Böschungen, welche teilweise mit Graswuchs bedeckt sind, letztere namentlich in der Fallinie unter der Südspitze.

Darüber lagert ein in gleichmäßiger Schroffheit das ganze Massiv durchsetzender Mauergürtel, der, aus Dachsteinkalk bestehend, keine von weitem wahrnehmbare Schichtung besitzt; seine Höhe ist eine wechselnde, im Durchschnitt vielleicht 300 m betragend. In der Mitte der Ostwand dagegen vereinigt sich sein Steilabfall mit den darunterliegenden Abbrüchen des Sockels zu einer Wand von gewaltiger Ausdehnung, Diese Zone bildet, auf welcher Route man auch die Besteigung unternimmt, das Haupthindernis der Tour.

Der oberste Abschnitt ist ausgezeichnet durch die stark ausgeprägten parallelen Linien der Schichten des Dachsteinkalkes, die sanft nach Süden ansteigen. Es finden sich zahlreiche Bänder, unter ihnen namentlich im unteren Teil der Zone einige von beträchtlicher Breite und nur wenig unterbrochenem Verlauf. Da die Schichten nach Nordosten einfallen, so hat die Oberfläche eines solchen Bandes meist die Gestalt einer schräg nach außen abfallenden Platte. Neben steilen Wänden, die absatzlos die Schichtung nur an der Färbung erkennen lassen, finden sich auch einige eingerissene Rinnen, unter denen besonders diejenige erwähnenswert ist, welche ungefähr in der Mitte des Grates, nahe der Stelle, wo sich die Mittelspitze aus ihm steiler erhebt, mündet. Diese Rinne wird von den Partien benützt, welche von der Eiskapelle unter Vermeidung der Schönfeldspitze dem Hauptgipfel zustreben.

Zu erwähnen sind noch einige größere Terrassen, die zum Teil karartig in die Wand eindringen: eine solche befindet sich ziemlich senkrecht unter der Mittelspitze und trennt hier die unterste Zone von der mittleren. Ihr bergwärts ansteigender Boden ist meist das ganze Jahr hindurch von Lawinenresten bedeckt, die abschmelzend den Übertritt auf die Felsen der mittleren Wandstufe erschweren.

Ferner befinden sich unter der Südspitze in drei Stockwerken übereinander liegende Einbuchtungen, von denen namentlich die unterste zu den am wenigsten steilen Flächen der Wand gehört, während über dem höchsten Kar der erwähnte mittlere Mauergürtel sich besonders glatt und jäh aufrichtet.

Die Ostwand biegt an der als ihr Ende bezeichneten Rippe nach Süden um und verläuft in die Südostwand, welche, vom Südgrat begrenzt und dem Verlauf des steil ansteigenden Eisbachtales folgend, eine nach Süden stets abnehmende Höhe zeigt. Ihre oberen Teile fallen durch gewaltige Plattenpanzer auf, die tieferen Regionen gehören dem Gebiet des bröckeligen Dolomits an und sind abwechselnd bald sanfteren, bald wilden Charakters. An der Südseite der großen Rippe ist  eine Schlucht eingefügt, welche nach oben in Wände verläuft.

Der erste, der es wagte, über diese unwegsamste Seite des Watzmanns sich den Pfad zu suchen, war der talentvolle Ramsauer Führer Joseph Berger, Hermann von Barths Begleiter auf den Grundübelhörnern. Er wählte zur Erkletterung den niedrigeren nördlichen Teil der Ostwand. Gemeinschaftlich mit Kederbacher führte er im Jahre 1868 A. Kaindl und J. Pöschl vom Gletscher auf die Mittelspitze.

Diese Tour ist fast in Vergessenheit geraten. Erst 32 Jahre später wurde sie durch Georg Leuchs, Otto Schlagintweit und den Verfasser wiederholt.

Wer im Watzmannhause übernachtet, um die Mittelspitze vom Gletscher aus zu erklimmen, sieht sich in die unangenehme Lage versetzt, am anderen Morgen einen nicht unbeträchtlichen Teil der bereits erlangten Höhe wieder aufzugeben. Bis zur Falzalm muß er zurück und von dieser auf dürftigem Steige hinuntersteigen zum block- und latschenbedeckten Boden der Watzmannscharte, fast 400 m unterhalb der Unterkunftshütte. Dies ist die große Schattenseite des schönen Weges, die sich jedoch vermeiden läßt, wenn man auf die Annehmlichkeiten eines Nachtlagers in dem Watzmannhause verzichtet und entweder vom Tal aus aufbricht oder in der gut eingerichteten Hütte der Mitterkaseralm die Nacht verbringt. In diesem Falle kann man ohne nennenswerten Höhenverlust den die Mitterkaseralm mit der Kührointalm verbindenden Weg bis zum Beginn des Kars zwischen dem Großen und dem Kleinen Watzmann benutzen. Dann freilich gilt es noch einen kleinen Kampf mit Krummholz und Felstrümmern, ehe man das Eis des Watzmanngletschers betreten kann. Über Firnhalden und herausgeaperte Platten strebt man dem Grate zu, welcher das Massiv der Mittelspitze mit den Watzmannkindern verbindet. Diesem folgt man ein kurzes Stück aufwärts, um ihn zu verlassen, bevor er sich mit ungangbaren Steilstufen der Ostwand anschließt. Ein Schichtband erlaubt den Übertritt auf die Südseite des Grates und leitet weiter zu den Felsmauern des Massivs. Einige Schritte auf dem plattig abfallenden, mit rutschenden Blöcken bedeckten Bande, und man steht mit einem Schlage mitten in der wilden Einöde der großen Wand. Aus gewaltiger Tiefe klingt das verschwommene Rauschen des Eisbaches, schimmert der Schnee der Eiskapelle, nach oben türmt sich Absatz auf Absatz hoch empor zum Gipfelkreuz der Mittelspitze, während rings erdrückend hohe Wände den Blick beengen. Es ist dies der eindrucksreichste Augenblick der Besteigung. Man folgt dem Bande, bis es durch eine tiefe Schlucht abgeschnitten wird, welche, in den Gipfelkörper eingerissen, sich bis zur Spitze hinanzieht. An der Kante der die Schlucht begrenzenden Seitenwände klettert man höher hinauf zu einem Schärtchen hinter einem Felskopf, gekennzeichnet  durch eine gelbe Felsplatte, die durch Regen- und Schmelzwasser seltsam zersägt ist. Von hier aus kann man auf dem Gesimse einer Schichtfläche in die Schlucht selbst hineinqueren und an deren rechter Seitenwand, höher oben meist in ihr selbst, unmittelbar zum Gipfel gelangen.

Vom Watzmannhause ausgehend, wird man – die Rasten nicht eingerechnet – nach ungefähr 4 ½  Stunden die Mittelspitze betreten. Die Kletterei ist von mittlerer Schwierigkeit; der Einblick in die Felsbildung der Ostwand ist großartig.

Das schönste Problem am Watzmann zu lösen, blieb Kederbacher Vorbehalten : die Durchkletterung der Riesenwand von der Eiskapelle aus.

Am Peter- und Paulstag des Jahres 1881 wurde der erste Versuch gemacht.

Mit Preiß und den Herren Pöschl und Wairinger aus Wien (Mündliche Angabe von Kederbacher und Preiß) verließ er St. Bartholomä ½ 2 Uhr morgens. Sein Plan war der: Zunächst sollte über die Südwand der Watzmannkinder der Gletscher und von diesem aus auf dem vom Jahr 1868 her bekannten Wege die Mittelspitze erreicht werden. Zunehmende Schwierigkeiten sowie ein Gewitter zwangen die Expedition unverrichteter Dinge umzukehren. Die durch den Regen entfesselten Steinfälle brachten auf dem Rückwege manche Gefahr. Erst 7 Uhr abends wurde St. Bartholomä wieder erreicht. Preiß erzählte mir, er halte auf der versuchten Route ein Durchkommen nicht für möglich.

Im selben Jahre noch gelang es der Energie Kederbachers, die schwierige Aufgabe zu lösen. Eine eingehende Rekognoszierung von der Saletalm und vom Eisbachtale aus hatte den leitenden Faden in dem ungeheuren Felschaos gezeigt. Am 6 . Mai führte er Otto Schück aus Wien auf die Mittelspitze.

Eine kurze Schilderung der Route in großen Zügen ist vielleicht am Platze; die vielen Einzelheiten können hier freilich nicht berücksichtigt werden.

Das erste Ziel ist das kleine Kar unter der Mittelspitze (Siehe Seite 305) das mit einem Ausweichen nach rechts (nordöstlich, in die Südwände der Watzmannkinder) erklettert wird, da der direkte Anstieg zu schwer, vielleicht nicht möglich sein würde. Wenn die Randkluft der Eiskapelle es gestattet, steigt man am besten vom obersten Ende des Schnees in die Felsen ein und klettert nach rechts schräg aufwärts, bis man den Beginn glattgescheuerter Wasserrinnen erreicht. Ist im Herbst die Kluft oben unpassierbar, so betritt man die Felsen vom unteren Beginn der Eiskapelle aus und hält sich dann etwas mehr links, um zu den Rinnen zu gelangen. Durch die rechtsgelegene (östliche) Schlucht klettert man schwierig auf und quert dann nach links hinüber in das Kar, das man oberhalb seines Beginnes betritt (unteres Ende ca. 1400 m). Das Kar verfolgt man aufwärts bis zu seinem Abschluß durch den Felswall des mittleren Mauergürtels, überschreitet die Randkluft, erklettert einige Platten und eine sehr steile Wand, um so in eine schräg nach rechts (Norden) hinaufziehende Schlucht zu gelangen. Die Erkletterbarkeit dieser Rinne und ihrer Absätze ist sehr von den Schneeverhältnissen abhängig; sie scheint zu Zeiten, wenn die Schneereste stark abgeschmolzen sind, nicht möglich zu sein.

In die Wände zur Linken (südlich) münden die drei untersten Bänder der oberen Zone.

Über die Platten und Wände der Schlucht dringt man vor bis zu einer Nische unter einem großen Überhang (ca. 1700 m). Hier verläßt man die große Rinne und wendet sich, südlich in etwas absteigender Richtung querend, den mittleren der erwähnten Bänder zu — das erste bricht mitten in der Wand ab — und verfolgt dieses, wobei man gleich anfangs ausgesetzt über sehr glatten Fels queren muß. Durch ein natürliches Felstor kann man das nächsthöhere Band erklimmen und sucht nunmehr die oben besser gestuften Felsen zu erreichen, wobei in den ausgedehnten, die Orientierung erschwerenden Wänden manche Variante möglich ist. Am besten wird man vorwärts kommen, wenn es gelingt, in eine aus der tiefsten Scharte des Hauptgrates herabziehende Rinne zu gelangen. Will man direkt zur Südspitze aufsteigen, so kann man auch das schmaler und luftiger werdende Band weiter benützen, bis es abbricht und sich 8 m tiefer fortsetzt. Man läßt sich am Seile hinab und quert weiter zu einer Rinne, an deren rechten Begrenzungswänden man hinaufklettert, um schließlich den Hauptgrat nördlich der Schönfeldspitze zu betreten.

Zur Würdigung der Tour und ihrer Schwierigkeit will ich Purtschellers Worte anführen: „Die Erklimmung des Großen Watzmanns von St. Bartholomä gehört zu den bedeutendsten und interessantesten Besteigungen, die im Bereich der Ostalpen ausgeführt werden können. Würden die Berge Berchtesgadens dem eigentlichen Hochgebirge beizuzählen sein und der Sockel des Gebirges um einige hundert Meter höher liegen, so könnte man diese Besteigung unzweifelhaft mit den größten Hochtouren in der Schweiz, in den italienischen Alpen und im Dauphine vergleichen.“ Ich glaube, daß diese Sätze auch heute noch die Erklimmung „dieser wohl höchsten durchkletterten Felswand der Alpen — 1800 m Kletterterrain —“ trefflich kennzeichnen. Gerade die lange Dauer der Arbeit, die fortgesetzt zu überwindenden, mehr oder minder großen Schwierigkeiten, die nicht immer leichte Orientierung, sowie schließlich die — im Vergleich mit einer kürzeren Tour — gesteigerte Gefahr eines Wetterumschlages rücken in mancher Beziehung diese Bergfahrt in eine Linie mit Schweizer Hochtouren und erheischen ein größeres und vielseitigeres Maß alpinen Könnens, als etwa eine durchweg sehr schwere, aber  kurze Dolomittour. Alle diese Faktoren zwingen dazu, die Ostwand des Watzmanns als sehr schwierig zu bezeichnen, obschon sich bedeutendere Schwierigkeiten nur an einigen Punkten des mittleren Mauergürtels vorfinden. Starkes Abschmelzen des Schnees oder durch die Verhältnisse bedingtes Abweichen von der gewöhnlichen Route vermehren natürlich die Hindernisse um ein sehr beträchtliches.

Von der Eiskapelle aufbrechend, wird man im allergünstigsten Falle acht Stunden bis zum Gipfel brauchen; im Durchschnitt wird der Zeitaufwand elf bis zwölf Stunden betragen, und befindet sich der Berg in schlechtem Zustande, noch erheblich mehr. (So brauchten Erwin Hübner und der Verfasser am 15. Juni 1896 vom Einstieg bis zur Südspitze ­16 Stunden, da sie die Wände über dem Kar wegen herabstürzender Wassermassen auf neuem, schwierigerem Wege erklettern mußten. Albrecht von Krafft, Wilhelm Teufel und Frau Friedmann benötigten von einem Biwak zwischen der Eiskapelle und dem Kar mehr als 14 Stunden bis zum Grat, wo sie durch ein Gewitter zu einem zweiten Freilager gezwungen wurden. Diese Ersteigung verteilt sich auf den 3., 4. und 5. August 1896.)

Steinfall ist leider stets zu befürchten, doch ist die Gefahr bei trockenem Wetter keine sehr dringende.

Ein Versuch Purtschellers, mit Kederbacher am 28. Oktober 1883 das Unter Unternehmen ­zu wiederholen, mißglückte. Alle Angriffe auf die Steilwände der großen Rinne blieben, da die Schneereste fast ganz geschwunden waren, erfolglos.

Zwei Jahre darauf, am 12. Juni 1885, führte ihn Preiß in der verhältnismäßig kurzen Zeit von elf Stunden von St. Bartholomä aus auf die Südspitze, ohne vorher durch Rekognoszierung sich mit der ihm unbekannten Route näher vertraut gemacht zu haben. Purtscheller zollt seinem wackeren Führer warmes Lob.

Der dritte Tourist auf diesem Wege war Gottfried Merzbacher, der in den oberen Partien einen abweichenden, schwierigeren Weg einschlug. Ihn begleiteten Kederbacher und Preiß, da Kederbacher, der das Mißlingen des mit Purtscheller unternommenen Versuches dem Fehlen eines dritten Mannes zuschrieb, die Tour nur noch in Gesellschaft eines zweiten Führers machen wollte.

(Die erste führerlose Begehung der Ostwand gelang Albrecht von Krafft und Ernst Platz im Sommer 1895. Am 15. Juni 1896 fanden Erwin Hübner und der Verfasser eine Abweichung vom gewöhnlich benutzten Wege auf, indem sie die Erkletterung der mittleren Zone in den Wänden nördlich der großen Rinne durchführten, diese überschritten und so das oberste der drei großen Bänder erreichten. Diese Route hat den Vorzug, über reinen Fels zu führen und nur in Bezug auf die Randkluft des Kars vom Schnee abhängig zu sein.)

Das Jahr 1890 brachte wieder einen Versuch, der mit dem Untergang eines ausgezeichneten Bergsteigers, Christian Schoellhorns, endete. Er verlor auf den Platten über dem kleinen Kar den Halt und stürzte in die 70 m tiefe Randkluft zwischen Schnee und Fels.

Bergsteigerdorf Ramsau

Die Geschichte des Watzmanns, und nicht nur diese, ist eng verbunden mit dieser Gemeinde aus dem Berchtesgadener Land.

Ramsau ist die Heimat zahlreicher Bergführer der Vergangenheit und Gegenwart. Die Bergwacht Ramsau ist für alpine Rettungsmassnahmen am Watzmannstock zuständig.

Ein für Ramsau typisches Fotomotiv ist die Kirche der Gemeinde mit dem dazugehörigen Friedhof.

Dem berühmtesten Sohn der Gemeinde, dem Kederbacher, wurde am Ortseingang, von Berchtesgaden kommend, ein Denkmal gesetzt.

Jahrzehnte nach dem Kederbacher lebte mit Hermann Buhl, den das Herz nach Ramsau brachte, einer der wohl weltbesten Bergsteiger in Ramsau.

Auch Hermann Buhl, Erstbesteiger u.a. des Nanga Parbats, wird von der Gemeinde geehrt.

Wilhelm von Frerichs – Ein Denkmal für die Kederbacher

Zeitung des deutschen und österreichischen Alpenvereins

1929, S. 169ff

Die Kederbacher aus der Ramsau

 Eine deutsche Führerfamilie

 Von W. F. b. Frerichs, Berchtesgaden

In steigendem Maße wird der Alpinismus zu geschichtlichem Rückschauen genötigt; mit allen anderen Erscheinungen dieses Zeitalters der Wende teilt er die historische Einstellung. Überall ertönt die Frage, wie es doch kam, daß wir in dieser so janusköpfigen Gegenwart stehen. Kein Zweifel, daß wir uns einem Abschluß nähern, der zwingt, für einen Augenblick haltzumachen und rückwärts gewendet im Geist den Weg nochmals zu durchmessen, der hinter uns liegt. Dieser Trieb zur Rechenschaft hat nichts gemein mit jenem Historizismus, der wie eine schleichende Krankheit auf dem letzten Jahrhundert gelastet hat. Nicht um ein Zurückrufen endgültig abgelebter Zeiten handelt es sich, nicht um Romantikerwunsch des Wiedererweckens der Vergangenheit, sondern um ein klares überblicken der Richtlinien, die unbewußter Trieb früherer Geschlechter einst zog. Auch der Alpinismus unterliegt solchem Zwange. Die Rückschau leitet aber nicht nur zu den großen, seelengeschichtlichen Geisteskurven, zu deren Auswirkungen die so verschieden gearteten Epochen der Beziehungen zwischen Mensch und Berg ebenfalls gehören, sondern auch zu der Kleinwelt der handelnden Personen, den vielköpfigen Trägern der Bewegung. Die Pioniere der Alpen, ihr Leben und Erleben, stehen heute von neuem im Vordergrund der Betrachtung für jene Alpenfreunde, deren Empfinden nicht auf dem dünnen Querschnitt des Ewig-Gegenwärtigen allein fußen mag, die vielmehr ihr Weltbild um die Dimension der Vergangenheits-Tiefe abzurunden sich mühen, um ahnend die Zukunfts-Weite fühlen zu können. Die Schar der Vorläufer, der Pioniere der Alpen, formt sich aus Liebhabern, Führern und Berufs-Bergsteigern; zu diesen zählen auch die Grills aus der bayerischen Ramsau, die einzigen großen Führer, die den deutschen Berglanden entsprossen sind.  Ihnen gelten diese einfachen Worte des Gedenkens, obwohl — oder vielleicht gerade weil — ihr Wirken dem heutigen Geschlecht schon sehr fernsteht.

 Heimat und Vater

Schmal nur ist der Alpensaum, der vom Hagengebirge im Osten bis zum Bregenzer Wald im Westen Deutschlands Südwall bildet. Nicht in eisige Höhen ragen seine bescheidenen Voralpengipfel. Waldige Täler, zierliche Hörner, dunkle Seen, wuchtig lastende Kalkklötze, rauschende Flüsse und Wiesenmatten fügen ein Erdbild, das immer klein, eng, anspruchslos bleibt, nirgends die Größe klastischer Gebirgslandschaften auch nur streift; ein behagliches Bürgerhäuschen im Vergleich mit den schimmernden Palästen der westlichen Alpentäler. Bajuvaren, Bergschwaben, Alemannen besiedelten einst dies Land, rangen armem Boden, rauhem Klima kärgliches Leben ab.

Ehe das Tal der Ache stromaufwärts zur bayerischen Ramsau sich weitet, schnüren die Uferwände sich zu enger Klause, über deren Felswall eine sonnige Berghalde sich dehnt. Dort Hausen seit Jahrhunderten die Grills auf dem Kederbach-Lehen, als vom fürstlichen Stift Berchtesgaden angesiedelte Lehensbauern. Klein nur war von jeher der ihnen zugewiesene Besitz, klein ist er noch heute. Zehn Hektar nur umfaßt er, zu gering, um auf karger Erde unter rauhem Himmel auch bei Anspannung aller Kräfte eine Familie zu nähren. Neben der Viehzucht mußte deshalb seit alters her noch ein anderer Erwerb die Führung des Lebens erzwingen.

In diesem Lande, auf diesem Fleck Erde ward 1835 Johann Grill geboren, der größte der deutschen Führer, ebenbürtig den Pionieren der Westalpen, ja überlegen gar manchem unter den berühmten Vorkämpfern der Schweiz und Frankreichs. Noch seltener als anderwärts erblühen Genies im Schoße der Bergbayern. Kleine Talente sprießen wohl häufig auf in diesem leicht bewegten Volke, aber hohe Gaben sucht man dort vergebens in den verschiedenen Bezirken menschlichen Wirkens. In Grill aber wurde der göttliche Funken künstlerisch bildender Bergmeisterschaft geboren. Auf seine Wiege blickten über den Kranz der Wälder hinweg der flache Rücken des Watzmanns, die grauen Kalkmauern des Hochkalters: die ersten Berge, die das junge Auge erspähte. In den Forsten zu ihren Füßen, auf den bröckelnden Graten ihrer Höhen wurde der Jüngling heimisch, als Holzknecht, als Treiber bei den Gemsjagden der Oberhäupter des Staates. Denn noch waren die Berchtesgadener Voralpen das bevorzugte Jagdgefilde der neuen Landesherren, der bayerischen Könige, wie zuvor das der Fürstpröpste des Stiftes. Hier betrat Kederbacher zum ersten Male das unwegsame Berggelände, übte Auge und Fuß, lernte die Schönheitswerte heben, die im dürren, krummholzbehangenen Kalk schwerer zugänglich sind als im lichteren Reiche der Hochwelt.

Schweiften seine Wünsche vielleicht damals schon hinüber zu den blinkenden Eishörnern der Tauern?

Die Liebe zur Schönheit der Berge war früh in ihm aufgegangen; ein echteres, einfacheres, geraderes Gewächs als das Naturgefühl des stadtgebundenen Menschen, das, aus dem tiefen Zwiespalt zwischen Erde und Mensch gezeugt, um so heißer betont ist, je größer und unschließbarer die Kluft geworden. Des noch naturverbundenen Bergbauern Liebe zur Alpenschönheit, umweglos unromantisch, nicht aus Abkehr geboren: ein seltenes Ding.

Abenteuerlust brannte heiß in seinen Adern, die Dynamik der wilden Europäerseele, jenes wunderlichen Gemisches aus Mittelmeergeist und Nordlandssturm. Das, was man heute den Sportgedanken nennt, lebte schon damals in ihm: der Drang, das Neue, unmöglich Scheinende zu erzwingen, die Grenzen weiter vorzurücken und immer weiter. Dies war die Triebfeder, die den Körper hinaufriß auf noch unbetretene Höhen der Heimatberge, allein, oder mit gleichgesinnten Genossen; innerem Rufe folgend, nicht von den Wünschen der Alpenfreunde angefeuert. Denn damals, in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war im Osten das Bergsteigertum erst schwach entwickelt, lebte es noch vom Geist der wissenschaftlichen Gebirgsforscher, von der romantischen Naturliebe der nachsentimentalen Zeit, während im Westen die ersten Schritte empor zur klastischen Höhe des Alpinismus getan werden. In Kunst, in Weltanschauung, in sozialem Geschehen bedeutet diese Epoche einen Einschnitt, einen Wendepunkt des europäischen Geistes, von dem aus ein neues Lebensgefühl seinen Anfang nahm — früher im Westen, später im Osten.

Kederbacher war von Jugend an aus sich selbst heraus Alpinist im vollen Sinne des Wortes ohne die Einwirkungen äußeren Zeitgeschehens, ohne den Antrieb durch die im Entstehen begriffene Gilde der Bergsteiger. Stets hat er diesen Wesenszug zur Schau getragen, auch noch als er Bergführer von Beruf geworden war. Unbeugsamer Wille, höchster Tatendrang wohnten in dem schmächtigen Körper, der von seltener Verstandesschärfe gelenkt wurde. Denn nicht physische Kraft allein, Geist und Seele machen den Meister der Berge. Wahre Herzensbildung, freundliche Sitten, echte Menschlichkeit rundeten sein Wesen zu einem vollen Akkord. Kederbacher war nicht nur ein idealer Bergsteiger, sondern auch eine harmonisch ausgeglichene Natur. Diese reichen Gaben waren ihm vom Schicksal in die Wiege gelegt; er aber hat sie genützt und mit seinem Pfunde gewuchert. Ein verbreiteter Wahn ist der Glaube, daß der Alpinismus den Menschen charakterlich, moralisch, geistig, veredle und auf ein höheres Niveau trage. Wer seltenere Gaben des Willens, Verstandes, Gemütes in sich birgt, der kann sie auch im Gebirge vervollkommnen, wer ohne solche Mitgift geboren, der bleibt in den Bergen das, was er zuvor im Tal gewesen.

Ans Licht der Firne, in die Tauern, zog den schon reifen Kederbacher zuerst Albert Kaindl aus Linz, einer jener schlichten Bergsteiger der Ostalpen, die liebevoll-bedächtig die Höhen ihrer Heimat erstiegen und erschlossen. Es war um das Jahr 1870; Grill stand damals im fünfunddreißigsten Lebensjahr. Im Westen war die Zeit der klassischen Höhe, der Probleme voll Größe und Einfalt, schon fast vorüber; die Pioniere hatten sich teilweise von den, wie es schien, erschöpften Alpen gewendet. Langsam erst, mit spürbarem Zwischenraum, begann sich die Barockperiode neuerer Problematik im westlichen Alpinismus zu entfalten. Im Osten hatte sich der hohe Stil nicht so folgerecht und geradlinig emporbilden können, fehlte hier doch der rechte Stoff für Werke dieser Art. So brach in den deutsch-österreichischen Bergen schon früh die zweite Zeitstufe der Kleinkunst an, in der bald das rasch wachsende Gewimmel des führerlosen Demos sich zu üben beginnen sollte. Neben dem neuen Wesen lebte freilich in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts noch eine kleine ostalpine Pioniertätigkeit kräftig weiter. Zu den Vertretern dieser Richtung gehörten mehr oder weniger F. Arning, K. Babenstuber, G. Hofmann, A. Kaindl, G. Merzbacher, V. Minnigerode, O. v.  Pfister, I. Pöschl, R. v. Lendenfeld, E. Richter, O. Schück, I. Stüdl, B. Wagner: Eisrinnen, Grate und Hütten bewahren noch heute die Namen eines Teiles dieser Männer, welche mit Kederbacher die Alpen vom Ennstal bis zum Montblanc durchzogen und manchen unerstiegenen Gipfel mit seiner Hilfe betraten. Der oft belagerte Tribulaun (1874), der Ödstein (1877) fielen unter seinem Ansturm, zahlreiche neue Wege fand er von der Ortlergruppe im Süden bis zu den bayerisch-österreichischen Kalkalpen im Norden, darunter den Pfad durch die riesenhafte Ostwand seines heimatlichen Watzmanns (1881). Der verwegene Geist Otto Schücks, auf große Dinge gerichtet, stand Pate zu jenem Unternehmen, das später Ludwig Purtscheller, ein großer Freund Kederbachers, mit diesem zu wiederholen versuchte.

Im Jahre 1874 hatte Heinrich Loschge aus Nürnberg den nun schon lange wohlbekannten Führer in das Oberland und Wallis mitgenommen. Seitdem betrat Grill fast alljährlich die Westalpen, oftmals mit nur schwach befähigten Bergsteigern, denen er als einziger Führer diente. Nicht leichtsinnig unterfing sich Kederbacher solcher Dinge, die damals in der Schweiz unerhört waren. Seine Meisterschaft war so groß, daß er es wagen durfte, nicht nur allein den Weg auf die höchsten Berge sicher zu finden, sondern auch noch hilflos-ungeschickte Begleiter glücklich hinauf und hinunter zu lotsen. Die ungeheure geistige Anspannung, die zu solchem Tun gehört, trug er spielend. Und der Lohn für solche Mühen? Es muß festgestellt werden, daß wohl fast alle Ostalpen-Bergsteiger, die mit Kederbacher in die Schweiz zogen, sich in erster Linie aus Ersparnisgründen seiner bedienten, weil sie die hohen Schweizer Führertarife, noch verschärft durch das Zwei-Führer-System, nicht zahlen wollten oder konnten. Ganz zu schweigen davon, daß Grill früher in den Ostalpen, wie er einst selbst unmutig bemerkt hat, schwere Arbeit für fünf Mark täglich geleistet bat. Auch vom geldlichen Standpunkt aus sind ihm manche deutsch-österreichischen Alpinisten zu hohem Dank verpflichtet.

Für seine Laufbahn wurde 1882 ein wichtiges Jahr. „Dessen Sommer sah“, so schreibt Mr. Farrar, „Kederbacher und Peter Dangl von Sulden, einen ebenfalls ausgezeichneten Mann, bekannt durch verschiedene großartige Unternehmungen in seinen Heimatlichen Bergen, in Zermatt, im Dienste zweier brillanter junger Alpinisten, Louis Friedmann und Carl Blodig. Sie bestiegen die üblichen hohen Berge und schickten schließlich ihre beiden Leute auf den Riffel zum Warten und zum Beobachten, wie ihre Herren die Besteigung des Weißhorns führerlos wiederholten. Dies war zuviel für die Selbstachtung Dangls, der sich eines ihm von mir angebotenen Engagements entsann und zu mir nach Paznaun in Tirol entfloh. Dort fand er die Berge zu niedrig für mich. Verschmitzt meinte er: „Das ist nichts für Sie, Herr!‘ und so eilten wir Hals über Kopf nach Zermatt, wo wir, das Weißhorn in der Tasche, sehr zufrieden mit uns selbst eintrafen.

Ich merkte, daß ein Grund für Dangls Vorliebe für Zermatt darin bestand, daß der diplomatische Herr Seiler die Tiroler, die gerade damals mit ihren Herren nach Zermatt zu kommen begannen, an feinem Hoteltisch essen ließ. Dangl erklärte mir mit großer Höflichkeit und ebenso großer Entschiedenheit, ich möge in jedes mir passende Hotel gehen, was ihn aber anbeträfe, so stiege er stets im Mont-Cervin ab.

Dort fanden wir Kederbacher, dessen Ruf mir damals wohlbekannt war; ich war eher enttäuscht, als ich seine nicht sehr imponierende Erscheinung sah, mit ziegelrotem Gesicht, langem braunen Bart, zusammengekniffenen und vom Wetter angegriffenen Augen, und soweit man sehen konnte, nur zwei großen Eckzähnen, was seine Aussprache einigermaßen undeutlich machte. In gewisser Weise erinnerte er mich an die kaum imponierendere Gestalt Christian Almers. Wenig ahnte ich von den Herzen, die in den Körpern der beiden wohnten, noch von der Bergkunst, die in ihren klugen Köpfen steckte. Wer es will, der mag in manchem Aufsatz von Kederbacher lesen, namentlich in der Ö. A.-Z. in den Artikeln Friedmanns, des seinerzeit vorzüglichsten österreichischem Bergsteigers, von einer fabelhaften Geschwindigkeit, und dazu ein sehr belehrender Schriftsteller, wie seine brillante Monographie der Ortlergruppe beweist.

In diesem Winter verstand es Dangl, den ich für drei Wochen engagiert hatte, und der ein großer Verehrer Kederbachers war, es irgendwie so einzurichten, daß Vlezinger (ein württembergischer Amtsrichter, ein ganz reizender Mann, der nun schon lange tot ist) — er hatte Kederbacher engagiert — mich auffordern sollte, unsere Kräfte zu vereinen und mir die Aufstellung des Programms zu überlassen 1).“

1) A. I. XXXI S. 262 sf.

Dieses ist die Vorgeschichte des großen Tages, den ihm das Jahr 1883 bringen sollte, als er im achtundvierzigsten Jahr, zum achten Male innerhalb eines Jahrzehnts die Schweiz wiederum betrat. Die Partie Blezinger-Farrar unternahm zunächst die Besteigung des Wetterhorns, sodann die des Schreckhorns und überschritt die Jungfrau vom Guggi nach Concordia. Darauf vollführten sie die dritte Ersteigung des Finsteraarhorns über den Südostgrat, eine Tur, die später das Sonderstudium des englischen Bergsteigers werden sollte. Ihm vertraute Kederbacher seinen Herzenswunsch an, endlich einmal „etwas wirklich Schwieriges“ unternehmen zu dürfen. Die Ziele des Ramsauers lagen also viel höher als die nicht gerade leichten Wege auf verschiedene Viertausender, die er bereits kennengelernt, ganz zu schweigen von den Normalanstiegen. Sein Augenmerk hatte sich auf die wahrhaft furchtbare Nordwand des Eigers gerichtet, an deren Fuß er bei Alpiglen vorbeigezogen war. Zwar sieht man von dort die Wand stark verkürzt, so daß sie ihren wahren Charakter hinter scheinbar harmlosem Aussehen verbirgt. Trotzdem ist kaum anzunehmen, daß Kederbacher die Wand völlig verkannt haben sollte; denn er hatte zuvor sowohl den Eiger selbst einmal, wie auch das Wetterhorn viermal bestiegen, so daß er von verschiedenen Standpunkten aus mit der wahren Neigung und Länge des Objektes seiner Wünsche vertraut sein mußte. Sein Herr hatte Mühe, ihn von der Wand loszureißen. Bis heute ist diese Mauer undurchstiegen geblieben 2).

2) Die Ciger-Rordwand ist bereits 1874 von den Brüdern Hartley mit Peter Rubi und Peter Kaufmann versucht worden. Sie schlugen einige Stunden lang Stufen gerade empor, zweigten dann aber nach links zum Mittellegigrat ab. Mr. Farrar hatte die Güte, dem Verfsasser diesen beachtenswert frühen Versuch englischer Vesteiger mitzuteilen. Ferner stieg Mr. Claude Macdonald in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts vom Mittellegigrat durch den unteren Teil der Nordwand nach Alpiglen ab, nachdem ein Versuch aus den Grat gescheitert war. (Alpine Journal November 1928.)“

Der sie begrenzende Mittellegi-Grat trotzte durch vier Jahrzehnte allen Aufstiegsversuchen und wurde erst 1921 bezwungen. Niemand weiß, ob Kederbachers Wand möglich ist, ob nicht Steinschläge ein Begehen verbieten. Bewundernswert bleibt, daß er als einer der ersten den Entschluß gefaßt, seine Kunst dort zu erproben. Aus sich selbst heraus, ohne Anreiz von außen; als reifer Mann den Fünfzigern nahe, dem die großen Berge der Schweiz auf schon begangenen Wegen nicht genügten.

An die Stelle dieses allzu abenteuerlichen Unternehmens setzte Mr. Farrar für seinen Bayern ein anderes Problem: die Westwand des Walliser Weißhorns. Einmal erst war diese eisige Plattenflucht durchstiegen worden. Ferdinand Imseng, der Sieger an der Macugnaga-Flanke des Monte Rosa — sein späteres Grab —, hatte mehrfacher Anläufe bedurft, ehe er dies gewaltige Unternehmen zu einem glücklichen Ende hatte führen können. Kederbacher besah die Wand nur flüchtig und durchstieg sie im ersten Ansturm. Eine zweiköpfige Seilschaft: Grill und Farrar. Welcher Schweizer Führer der damaligen Zeit hätte es gewagt, diese Fahrt ohne einen oder gar zwei Berufsgenossen zu unternehmen, mit einem Herrn, den er erst seit etwa zwei Wochen kannte und auf nur vier vorherigen Türen beobachtet hatte? Freilich ging Alexander Burgener mit Güßfeldt und Mummery allein auf verwegene Taten aus, und andere Westalpengrößen mögen manchmal ähnlich gehandelt haben, aber stets nur als seltene Ausnahme und mit Bergsteigern, deren Fähigkeiten sie genau und lange geprüft hatten. Nicht Übermut und Vermessenheit bewogen den Ramsauer zu solchem Handeln. Seine scharfe Beobachtung, sein heller Verstand hatten ihm in wenig Tagen gezeigt, wessen der junge englische Bergsteiger fähig war, und sein eigenes Vermögen hat Grill nie überschätzt.

So kämpften sich denn die beiden in gemeinsamer Arbeit durch diese noch heute zu den schlimmsten Plattenschüssen der Alpen zählende Wand, verbrachten schutzlos eine leidensvolle Frostnacht in mehr als 4300 m Höhe 1), erreichten anderen Tages den Gipfel und stiegen über den langen Ostgrat wohlbehalten nach Randa hinunter.

1) Kein Wort verlor Kederbacher, als die Nacht hereinbrach und das Biwak unvermeidlich wurde. Er zuckte die Achseln und sagte nur: „Wir müssen hier bleiben.“ (Alpine Journal XXXI.) — Captain Farrar bezeichnet sich selbst als „bescheidenen Zweiten“ aus dieser Tur. Hat er auch den Führer vielleicht aktiv nicht zu unterstützen brauchen, so war er doch sicherlich ein starker moralischer Rückhalt für den Ersten, man müßte denn annehmen, daß Grill die Fahrt auch als Alleingänger hätte ausführen können.

„Ich gab ihm“, schreibt Farrar, „fünf Pfund und einen Napoleon, alles was ich hatte, außer ein paar überzähligen Franken für meine Heimreise. Ich erinnere mich, daß er mir genau ebenso dankte, wie wenn ich ihm fünfhundert Franken oder auch nur deren zwanzig gegeben hätte. Aus wundervoll stolzer Unternehmungslust heraus hatte er seine Arbeit geleistet, nicht des Gewinnes halber 2).“

2) Die Weißhorn-Westwand hat auch in der Neuzeit ihren Rang voll bewahrt. Die junge Generation hat sich, soweit bekannt, an ihr bisher nicht erprobt. Es gibt kaum einen Berg von 4500 m Höhe, der eine ähnliche Plattenflucht aufweist, wenn man von der anders gearteten, noch undurchstiegenen Nordwand des Matterhorns absieht. Seit Georg Winklers Tod in der Westwand (1888) ist sie nicht mehr ernstlich angegriffen worden.

Das Jahr 1883 blieb das einzige, in dem Grill die Schweiz mit Mr. Farrar betrat, der gleich darauf Europa für längere Zeit verließ. Man muß sagen: leider, denn welche Leistungen blieben dadurch unvollbracht, daß Kederbacher zuvor und später die Westalpen nur mit deutschen Bergsteigern aufsuchen konnte, deren Höhendrang meist schon mit den üblichen Gipfeln gestillt war. Hier liegt eine Tragik in Kederbachers Geschick; sein Genius ruhte ungenutzt in einem stillen Bergwinkel, aus dem er nur selten hervorgezogen wurde an das volle Licht. Die Heimat bot ihm kein Feld für große Taten, das Ausland stand ihm nur bedingt offen: ein echt deutsches Schicksal. Kein Zweifel, daß er es nicht so empfand. Zufriedenen und heiteren Gemütes führte er, heimgekehrt aus den Hochalpen, wiederum auf den Watzmann und die anderen Kalkhöhen, wandelte auf Pfaden, die nicht mehr als Trägerarbeit heischten. Hätte sich je einer unterfangen dürfen, Alexander Burgener zu einer Besteigung des Breithorns oder gar des Gorner Grates aufzufordern? Mit verächtlichem Stolze hätte der Walliser solche Einladung abgewiesen.

Viermal noch durfte Grill die Schweiz Wiedersehen; dort war es ihm im Jahre 1885 beschieden, den von Christian Almer und anderen stets unberührt gelassenen und auf gefährlichem Wege umgangenen Roten Turm des Vietschhorn-Westgrates zu erklimmen, und so einen neuen sicheren Weg zu eröffnen. Zwei Jahre darauf nahm er auf dem Gipfel der Dent Blanche, begleitet von seinem ältesten Sohne, Abschied von den Westalpen.

Sein Gefährte vom Weißhorn aber hatte ihn nicht vergessen. Wenn es auch zu keiner gemeinsamen Fahrt ins Hochgebirge mehr kam, so suchte ihn Captain Farrar doch, einem alten Versprechen getreu, nach neun Jahren in der Ramsau auf und ließ sich das damals größte Schaustück der Nördlichen Kalkalpen, die Ostwand des Watzmanns, von Vater und Sohn Grill im Aufstiege zeigen. Nach einem Ausflug in die Dachsteingruppe und das Glocknergebiet nahm Kederbacher in Huben den letzten Abschied von seinem Engländer.

Dann kam der Lebensabend als Pächter des Watzmannhauses, das er schon 1887 übernommen hatte. Mit sechzig Jahren noch erklomm er im Oktober 1895 bei tiefem Neuschnee die ihm unbekannten Dolomitgipfel der Kleinen Zinne und der Croda da Lago, wohl die letzte größere Leistung, die ihm beschieden. Fortan nahm ihn seine Wirtschaft ganz in Anspruch, der er bis 1905 Vorstand, um sie dann an seinen ältesten Sohn abzugeben. Als fast Achtzigjähriger erstieg er noch einmal seinen besten Freund, den Watzmann.

Als ihm zu seinem achtzigsten Geburtstage eine besondere Ehrung erwiesen wurde, schrieb er in seinem Dankesbriefe: „Ich hätte niemals gedacht, daß meine wenigen Bergführerdienste, welche ich seinerzeit mit Freude, Lust und Begeisterung pflichtgemäß mit vielen Alpenfreunden ausgeführt hatte, mir an meinem Lebensabend solch eine Ernte von Freuden, Lob und Ehrenbezeigungen eintragen könnte. War ich doch damals schon bei meinen Land- und Bergfahrten der glücklichste Mann in der Welt, weil ich alle Schönheiten mit meinen Bergfreunden unentgeltlich mitansehen durfte, und überdies noch reichlichen Lohn nach Hause brachte 1).“

1) Der Brief befindet sich in der Alpenvereins-Bücherei in München.

 

Er zeichnet seinen Brief als „altersgrauer ehemaliger Bergführer und Alpenfreund“. Ruhig ging er hinüber im zweiundachtzigsten Jahre am 14. Februar 1917.

Ins Grab ruft Farrar dem Vater Kederbacher nach: „Du läßt mir Erinnerungen zurück an herrliche Tage. Immer wirst Du für mich das Sinnbild unbeugsamer Unerschrockenheit bleiben. Du flößtest Deinen Leuten eine Willenskraft ein, die schon die Hälfte des Sieges bedeutete. Oft noch werde ich Dich in der Erinnerung sehen, immer auf dem verantwortlichen Posten, vorsichtig, ruhig und gefaßt in den Stunden der Gefahr — ein großer Pilot — ein Mann, der sich stets ganz einseht 2).“

2) Der einzige würdige Nachruf für Kederbacher ist von Mr. Farrar im A. I. XXXI veröffentlicht worden. Captain Farrar schätzte Grills Können außerordentlich doch ein. Kein Westalpen-Führer sei dem Bayern in seiner Vollkraft überlegen gewesen, höchstens ein halbes Dutzend ihm gleich gekommen. Dies ist das sehr wohlerwogene Urteil, das einer der besten Bergsteiger im Jahre 1917 fällte, nach reichlicher Überlegung und gestützt auf langjährige, unvergleichliche Kenntnis der Alpen und vieler großer Alpinisten. „Er war in jeder Beziehung ein großer Mann.“ (Nach einem an den Verfasser gerichteten Brief Farrars.)

Uns aber bleibt sein Bild, wie er im Zenit seines Lebens in die Hochalpen stieg:

Der kurze, stämmige Mann mit großem, wehendem Bart, nicht in der Berchtesgadener Tracht, sondern mit langen, zugebundenen Hosen, den Hut mit einem roten Taschentuch unterm Kinn festgeknüpft. So steigt er auf eisigem Grat für uns hinüber in die Zeitlosigkeit, ein großer Mensch und ein großer Führer.

Die wichtigsten von Johann Grill Vater bestiegenen Westalpen-Gipfel

Die zahlreichen Hochpässe sind weggelassen:

Verninagruppe:

Piz Bernina 2, Piz Corvatsch 2, Piz Kesch (Reutur) 2

Berner Oberland:

Finsteraarhorn 6, Aletschhorn 2, Jungfrau 5, Mönch 1, Schreckhorn 4, Eiger 3

Bietschhorn (Reutur) 2, Balmhorn 3, Wetterhorn 5, Blümlisalphorn 1, Gspaltenhorn 1

Peters Grat 1.

Titlisgruppe:

Titlis 1

Tödigruppe:

Tödi 1

Dammagruppe:

Galenstock 1

Wallis:

Monterosa 5, Dom 1, Täschhorn 1, Lyskamm 1, Weißhorn 8, Matterhorn 6, Dent Blanche 3

Zinalrothorn 3, Breithorn 2, Ober-Gabelhorn 2, Allalinhorn 1, Mittaghorn 1

Montblancgruppe:

Montblanc 2, Aiguille Verte 1) 1

1) Im Führerbuch Johann Grills des Älteren findet sich eine Eintragung des Herrn H. Loschge-Rürnberg, laut der er mit Kederbacher im Jahre 1875 die Aiguille Verte von Argentiere aus auf neuem Wege bestiegen habe. Es ist schwer zu glauben, daß Herr Loschge die furchtbare östliche Eiswand der Verte vor O. Maund, Th. Middlemore und H. Cordier (1876) eröffnet habe. Vielleicht hätte auch Kederbacher allein die nötige Eisarbeit nicht leisten können. Zwar war ein Venediger-Führer bei dem Unternehmen beteiligt, doch muß man zweifeln, ob er Grill bei einer derartigen Arbeit hätte unterstützen und ablösen können. Zudem hat Kederbacher oft und gern von der Weißhorn-Wand fabuliert, nie aber von der Aiguille Verte, deren Ostwand ihm ebenfalls den stärksten Eindruck hätte hinterlaffen müssen. Andrerseits sind die Eintragungen Loschges stets knapp, genau und durchaus glaubwürdig. Man sollte fast annehmen, daß die Partie Loschge den üblichen Verte-Anstieg von Lognan aus erreicht habe. Dem scheint aber der hierfür erforderliche Zeitaufwand entgegen zu stehen. Der Verfasser überläßt die Lösung dieses Problems den alpinen Historikern. Übrigens ist die Route O. Maunds und Genossen bisher nur einmal wiederholt worden, und zwar 1924 durch französische Führerlose.

Der Sohn

Die Kederbachers gehören zu den Aristokraten unter den Bauern des Berchtesgadener Landes. Freilich nicht im Sinne des Besitzes, sondern in dem schöneren des geistigen und sittlichen Vorranges. Ihre engere Heimat — die entlegene Ramsau — bildet überhaupt hinsichtlich ihrer Bewohner einen Gegensatz zu dem Rest des Landes, das schon seit Jahrhunderten eine an Industriegegenden gemahnende Bevölkerungsdichte mit all ihren charakterlichen Folgeerscheinungen aufweist, so daß der böse Einfluß des Fremdenzustroms dort üppigen Nährboden findet. Von jeher lagen in der Ramsau die Verhältnisse anders und besser. Dort herrschen noch Geradheit, Ehrenhaftigkeit, einfache Sitten. So ist es nicht zu verwundern, wenn der große Name des Vaters dem Sohn nicht zum Hemmnis ward, wie solches sonst wohl die Regel bildet.

Am 12. Juli 1862 kam er zur Welt, stand also in der Glanzzeit seines Vaters schon in einem Alter, um den Erzählungen des Heimkehrenden von seinen Abenteuern mit Verständnis folgen zu können. Roch heute entsinnt er sich lebhaft der Sorge, die oft viele Tage auf der Familie lastete, wenn vom Alten keine Nachrichten eintrafen und die Möglichkeit eines Unfalles schwarze Schatten vorauswarf. Um so größer war dann die Freude über die glückliche Heimkehr und die Schilderungen der kühnen Taten. So ward ihm schon die Kinderzeit erfüllt von Bergabenteuern und Belehrung über die Hochwelt. Als Knabe übte der junge Grill sich an den Wänden der Preißenklamm, mit denen sein heimatlicher Hof zur Ache abstürzt, ein Klettergarten, wie er ihn sich näher und schöner nicht wünschen konnte. Mit zwölf Jahren ging er als Hüterbube auf die Kematenalm, hoch über dem grünen Pinzgau und dem Zeller See, in dem die weißen Tauern sich spiegeln. Dort war er schon mitten im Gebirge, das nahe Kammerling-Horn lockte ihn oft hinauf und ward sein erster Gipfel, während fern die geheimnisvolle Gletscherwelt winkte. Dann nahm ihn der Vater in ernste Schule, lehrte ihn mit Wort und Tat und ließ ihn an einem sonst nie betretenen scharfen Felsgrat des Watzmannstockes sein Probestück als Geselle ablegen. Schon mit siebzehn Jahren ward er im Herbst 1879 zum Bergführer autorisiert.

Als Dr. Arning und Herr R. Mitscher im Jahre 1881 den Vater Grill in die Schweiz riefen, durfte auch der neunzehnjährige Sohn mitziehen, den Fuß auf seinen ersten Viertausender, die Jungfrau, setzen und die strahlende Bernina erblicken. Hier lernte er Peter Dangl kennen, den Bewunderer des Vaters, den Stifter der Freundschaft mit Mr. Farrar.

Die alten Ostalpen-Bergsteiger Carl Arnold, Demeter Diamantidi, Gustav Curinger, Eduard Lanner, Bruno Wagner verknüpfen sich auch mit des Sohnes Berg-Erleben und verweben seine Jugend mit der ausgehenden Zeit der Erschließung der deutschösterreichischen Gebirge. Anekdotenhafte Erinnerungen tauchen auf und bringen Leben in die trockenen Besteigungslisten: So eine Neujahrsfahrt mit dem Vater und Dr. B. Wagner auf den Hochkönig, Gegenstand einer Fünfhundert-Gulden-Wette, wenn die Tur Wien—Hochkönig—Wien in bestimmter knapper Frist beendet sei. Die Grills sorgten dafür, daß Wagner seine Wette gewann. Dann kam die Militärzeit bei den Landshuter Jägern, die ihm, obwohl vorzüglicher Soldat, durch die Sehnsucht nach den Bergen getrübt wurde.

Erst sechs Jahre nach seiner ersten Schweizer Reise kam er wieder in den Westen, auch diesmal als Gehilfe seines Vaters, mit dem er Herrn G. Curinger auf manchen der Riesen des Oberlandes und des Wallis geleitete. Die Zeiten hatten sich gewandelt. Den früh schon unternommenen, aber vereinzelt gebliebenen Fahrten Führerloser und Alleingänger war nun das erste Anschwellen der neuen Bewegung gefolgt. Auf die kühnen Taten der Mesirs. Gardiner und Pilkington antworteten die österreichischen Vorkämpfer Purtscheller, Zsigmondy, Lämmer, während langsam der Stern Mummerys zum Zenit emporstieg. Aber noch immer herrschte der Fachmann, der Führer, wie er ja bis heute im friedlichen Wettbewerb mit den Liebhabern, dem neuen Salz der Berge, seinen großen Anteil am alpinen Geschehen bewahrt hat. In zwölf von den Jahren, die zwischen 1881 und 1902 liegen, hat Grill fünfzehn Reisen in die Westalpen unternommen, die bedeutendsten Gipfel fast sämtlicher Schweizer Gruppen betreten und in den Gebieten des Montblanc und des Grand Paradis sein Können gezeigt. An fünfzigmal hat er auf Viertausendern gestanden. Auch er hat, wie sein Vater, oft ohne zweiten Führer im Vertrauen auf sein Können zu dritt oder auch nur zu zweit am Seil auf hohe Berge den Weg gebahnt. Den Ruhm führerloser Kalkalpen-Größen sah er als ihr Begleiter einmal an den Rottal-Wänden der Jungfrau im Schneesturm zerflattern 1).

1) Grill erzählte dem Verfasser, daß Mr. Farrar, der sich damals in Südafrika befand, von dieser Tur gehört und ihm einen Brief geschrieben habe, in dem er den Führer vor derartigen Unternehmungen mit Nur-Kletterern ohne Zuhilfenahme eines zweiten Führers gewarnt habe.

Auf der anderen Seite gewann er von den Fähigkeiten eines gewissen Führerturisten eine ganz andere Ansicht als Norman-Neruda, der vor einem Menschenalter die ätzende Lauge seines Spottes über die Unglücklichen ergoß, der es wagte, die damaligen Modeturen der Dolomiten allzu niedrig einzuschätzen. In der alpinen Geschichte steckt viel Wahrheit und Dichtung, gar oft nur dünn verhüllt. Wie vor seinem Kammerdiener ist auch vor seinem Führer niemand ein Held, und umgekehrt zeigt sich mancher, der vor die Augen der Welt als Tropf hingestellt wurde, als Mann vor dem Berggefährten.

Mr. Farrar, der den jungen Führer 1892 an der Watzmann-Ostwand kennengelernt hatte, durchstreifte fünf Jahre später mit ihm die nördlichen Kalkalpen vom Allgäu bis zum Karwendel und nahm ihn darauf zu ernster Arbeit in das Berner Oberland mit, wo die Partie, verstärkt durch den großen Meister Daniel Maquignaz 1) manch schwere Tat vollbrachte.

1) Der Neffe und Schüler des berühmten Jean Joseph Maquignaz, des Erstersteigers der Dent du Geant. Mr. Farrar und D. Maquignaz haben 1893 den Ostaufstieg auf die Aiguille Blanche de Peteret und den Übergang zum Montblanc als Erste erkundet und geplant. Güßfeldt kam ihnen in der Ausführung zuvor, doch konnten sie kurz darauf die zweite Begehung der Route durchführen.

 

Das Ergebnis weniger Wochen war: das Kleine Viescherhorn von Norden, Versuch auf das Lauteraarhorn vom Schrecksattel 2), das Wetterhorn auf neuem Wege über die Westflanke und den Nordgrat, die Überschreitung des Schreck-Horns von Lauteraar zur Schwarzegg, der Mönch über den Nöllen im Auf- und Abstieg, und schließlich nochmals das Wetterhorn.

2 ) Schlechte Verhältnisse zwangen zum Abbruch des Versuches.

Abgesehen von der letztgenannten Tur sind sämtliche übrigen Fahrten außergewöhnliche Unternehmungen. Erst fünf Jahre später gelang es, das Lauteraarhorn auf dem von Mr. Farrar versuchten Wege zu erreichen. Das Schreckhorn war, soweit bekannt, zuvor erst zweimal von Ost nach West und einmal von West nach Ost überschritten worden. Der Nordgrat des Wetterhorns bedeutet eine Erstlingstur, und der Mönch über die Eiswand des Nöllen wird von manchen Sachkennern als eine der härtesten und schwersten Arbeiten im Eis gewertet.

Das folgende Jahr 1898 sah ihn wiederum als Gefährten von I. P. Farrar und D. Maquignaz. Die Grivola wurde über den Nordgrat bezwungen, eine zweite Besteigung, dann der gesamte Grat mit allen Erhebungen vom Grand Paradis bis zum Mont d‘ Herbetet überschritten. Im Montblanc-Gebiet wurde der Gipfel des Monarchen zum ersten Male von der Aiguille de Bionnaffay über den Dome du Goüter erreicht, und vom Col de Miage bis zum Col du Midi der gewaltige Halbkreis gezogen. Bisher war es nur einmal gelückt, über den Ostgrat der Aiguille de Bionnaffay bis zum Dome zu gelangen.

Den Abschluß bildete ein zweitägiger Versuch, den Nordostgrat der Aiguille Verte vom Col des Grands Montets aus zu bezwingen. Sechs Jahre darauf glückte die Ersteigung des abweisenden Berges von dieser Seite, wenn auch nicht über den Grat selbst, vier italienischen Führerlosen nach mehrtägiger Arbeit und zwei Biwaks unter ungeheuerlichem Zeitaufwand. Der Grat fiel erst 1925 unter dem Angriff französischer Führerloser 3), freilich nur teilweise, da verschiedene Türme umgangen wurden.

3 ) Der Partie P. Dalloz, I. Lagarde, H. de Segogne.

Streng genommen ist der Grat bis heute noch nicht überschritten worden. Daher ist die Kühnheit des so frühen Versuches von 1898 besonders bemerkenswert. Es ist klar, daß Aufgaben solchen Umfanges erst nach längeren Versuchen gelingen können. Ebenso verständlich ist es, daß der geistige Leiter einer Führer-Partie seine Leute nicht einem solchen Risiko auszusehen vermag, wie er es für seine Person vielleicht übernähme. Es ist daher sinngemäß, daß die endliche Lösung Führerlosen glückte. Als Denkmal des Versuches bleibt ein zum ersten Male erreichter Turm, der heute den Namen Pointe Farrar trägt 4).

4 ) Der Mangel eines genügend langen Reserveseiles ließ den Versuch scheitern, überdies hatte die Partie eine schwere Campagne hinter sich und wollte daher nicht die Gefahr eines oder mehrer unvorbereiteter Biwaks laufen. In jüngster Zeit hat übrigens auch der vorzügliche junge Chamonix-Führer Armand Charlet mit M. de Eigord die Aiguille Verte von dieser Seite bestiegen. Die Umgehungsroute soll nichts Ungewöhnliches bieten, hingegen wäre die Verfolgung der Gratlinie selbst etwas sehr Schwieriges. — Es scheint, daß die Partie Farrar-Maquignaz-Grill am zweiten Tage auch die große Nordost-Rippe der Aiguille Verte ernstlich, aber erfolglos angegriffen hat. Diese Rippe gehört der furchtbaren Argentiere-Flanke des Berges an und ist bis heut unbezwungen. (Alpine Journal XXXVI S. 398.)

 

Das Jahr 1900 sah Grill wiederum in der Schweiz, als Gefährten der Herren Dr. G. Meyer und Dr. F. Pflaum, der später sein Leben der Unfähigkeit eines Schweizer Führers zum Opfer bringen sollte. Mit ihnen betrat er die Hauptgipfel des Oberlandes und des Wallis. Auf dieser Reise hatte er gleich zu Beginn Gelegenheit, durch sofort handelsbereite Geistesgegenwart und mutige Tatkraft ein Menschenleben zu retten. Es war auf dem Wege zur Dossenhütte. Dr. Meyer und sein Führer stiegen über steile, schmelzwasserüberronnene Platten empor, die teilweise mit riesigen Geröllmassen bedeckt waren. „Da rutschte plötzlich ein großer Block“ — so schildert Dr. Meyer den Unfall — „andere kamen aus dem Gleichgewicht, und dann setzte sich die ganze Masse aus glatter Platte mit mir in Bewegung. Vergeblich suchte ich frei zu kommen, ein Schlammstrom unter dem Geröll hob jede Reibung aus und die Mure rollte unaufhaltsam mit mir dem nahen Absturz entgegen. Schon war ich bis fast zur Brust in dem Steinstrom versunken und ungefüge Klötze trafen meinen Kopf. Blitzschnell war Kederbacher zu meiner Rettung auf einen riesigen Felswürfel gesprungen, an dem die Mure brandete. Niederkniend reichte er mir seinen Pickel, den ich zuerst nicht annehmen wollte, da ich jede Hilfe für aussichtslos hielt. Aber unter Grills Belastung wankte der nur scheinbar feste Riesenblock und gleich daraus stand auch der Führer bis zu den Knien im Steinstrome. Doch glückte es ihm, sich auf eine geröllfreie Platte zu retten, an die er sich mit aller Kraft klammerte, um mich schließlich herauszureißen.“ Während banger Augenblicke hatte Grill gezweifelt, ob er dem übermenschlichen Zuge würde standhalten können oder mit seinem Gefährten den Weg in die Tiefe werde nehmen müssen. Für ihn hieß es: Beide oder keiner, und das Schicksal war ihm gnädig. Es war ein Anfall, wie er dem Besten ohne Verschulden zustoßen kann. Nur die nie, auch auf den Wegen zu Hütten — die freilich in der Schweiz anderer Natur sind als im Osten — erlahmende Aufmerksamkeit des Führers und sein opfermutiges rasches Zugreifen verhinderten einen verhängnisvollen Ausgang.

Seine letzte Fahrt in die Schweiz fällt in das Jahr 1902, in welchem er vier Monate lang als Begleiter Dr. Gilems, eines holländischen Bergsteigers 1), die Ost- und Westalpen durchstreifte und — außer den alten bekannten Viertausendern — den sehr schwierigen Monte Scerfcen über die Eisnase bezwang.

1) Abgestürzt am Lol du Geant i. 1.1907.

Die vergletscherten Gebiete der Ostalpen hat er ebenfalls oft betreten. Wiederholt waren die Hohen Tauern, das Zillertal, das Stubai und das Otztal, sowie der Ortler der Schauplatz seiner Tätigkeit. Bezeichnenderweise beträgt die Zahl der von ihm im Osten erstiegenen Gletschergipfel und überschrittenen Hochpässe nur wenig mehr als die Hälfte seiner Westalpenturen. Im Zillertal glückte ihm mit Mr. W. F. Kendrick die erste Begehung des Grates vom Hochfeiler zum Weißzint 2).

2) 29. 8.1892.

Der heimische Kalk ist ihm natürlich vom Dachstein bis zum Allgäu aus das engste vertraut. In seinem Führerbuche, das die Jahre 1881—1900 und 1917—1927 umfaßt 3), sind fast anderthalb hundert Besteigungen des Watzmanns verzeichnet.

3 ) Das Buch von 1901—1916 wurde ihm von einem Bergsteiger entwendet.

Welch eine Vergeudung solcher Begabung, und zugleich welch rührendes Beispiel von Bescheidenheit! In fast unendlicher Wiederholung hat er wohl sämtliche Gipfel der Heimat erwandert, als Begleiter von bergunkundigen Sommerfrischlern, von oftmals gewiß auch jener wenig gewählten Art, wie sie für das Berchtesgadener Land kennzeichnend ist. Gegen die selbstischen Quäler, die im Führer nur den Packesel erblicken, wird er sich schon zur Wehr gesetzt haben, denn die Grills sind stärkeren Charakters, als ihr armer Berufsgenosse Preiß, der unter der erbarmungslos ihm aufgepackten Belastung schließlich körperlich zusammenbrach.

Immerhin, es klingt verwunderlich, daß der Mann der Walliser Riesen, dem der Ehrenposten des Letzten im Abstieg auf dem Vionnassay-Ostgrat anvertraut war, in der Heimat sich zu Waldausflügen wie dem Vlaueisgletscher hergeben mußte. Man atmet wieder auf, wenn man liest, daß er im letzten Jahrzehnt zweimal den schwierigen Blaueis-Nordgrat erklettert hat, ein würdigerer Gegenstand seiner reiferen Jahre, als die anderen mühsamen Wanderungen.

Spät erst im Leben, und nur ein einziges Mal ist Grill nach Südtirol gekommen. Es war im Jahre 1901, als der alte Freund der Familie, Mr. Farrar, ihn mit den Dolomiten vertraut machte. Damals waren der Schmitt-Kamin, der Winkler-Turm, die Rosengarten-Ostwand noch nicht so alltägliche Unternehmungen geworden, wie dies heute vielleicht der Fall ist. Auf diesen Fahrten, wie auch auf die Grohmannspitze und die Häupter der Pala-Gruppe ließ der mitgenommene Ortsführer dem Berchtesgadener ohne weiteres den ersten Platz.

Mit 1902 schließen Grills Wanderungen in größere Fernen. Seine Taten beschränkten sich fortan auf die nördlichen Kalkalpen und die nahen Tauern. Ein Armbruch, den er 1903 erlitt, hielt ihn längere Zeit von den Bergen fern und festere Bande ketteten ihn bald darauf an die Heimat, als er das Watzmannhaus übernahm und von 1905—1910 dies Gasthaus leitete.

Doch blieben ihm die alten Bergfreunde stets getreu und suchten ihn immer wieder auf, um auf neuen Fahrten alte Erinnerungen wieder aufleben zu lasten. Manche Namen tauchen in seinem Führerbuche regelmäßig von neuem auf, wenn auch zwischen dem ersten und dem letzten Eintrag manchmal fast vier Jahrzehnte liegen 1).

1) So Dr. Bertram, der schon 1881 mit dem Vater gegangen war und 1886 mit dem Sohn  eine Winterbesteigung des Watzmanns gemacht hatte. 35 Jahre später zogen Dr. Bertram und Grill in die Glocknergruppe, wo der Führer den erkrankten Bergsteiger mit seltener Auf opferung in der Stüdlhütte pflegte.

Solche Anhänglichkeit zeugt beredter als alle Worte von den menschlichen Werten, die Grills Charakter in hellstem Lichte erscheinen lasten.

Die letzten Julitage des Jahres 1922 sollten ihm eine unerwartete Begegnung bringen. Er war aus einer der üblichen Fahrten über das Steinerne Meer und die Riffelscharte zum Glöckner gewandert; schlechtes Wetter trieb die Partie hinunter nach Heiligenblut. In der Gaststube des Wirtshauses stärkte man sich nach den erlittenen Unbilden. An einem nahen Tische saßen mehrere Bergsteiger, darunter ein älterer. Wieder und wieder zog der Kopf des Grauhaarigen Grills Auge auf sich. Auch der Bergsteiger blickte immer von neuem forschend auf Kederbacher und dann plötzlich erkannten sich die beiden: der junge Engländer des alten Grill, nun nicht mehr jung, Captain I. P. Farrar und der einstmals junge Kederbacher trafen sich wieder, zwei Jahrzehnte nach ihrer letzten gemeinsamen Fahrt. Die Leistungen, die der Sohn der Voralpen im Hochgebirge vollbracht, sprechen eine beredte Sprache. Voll gewürdigt können sie nur werden vom Standpunkt der nun abgetretenen Generation, und nicht aus dem Geiste der Jungen, welche die Vrenva-Flanke des Montblanc in wenigen Stunden durchmessen. „Er ist nach meiner Ansicht in jeder Beziehung erstklassig — völlig gleichwertig mit seinem Vater in besten Tagen 2).“

2 ) Führerbuch Grills des Jüngeren. — „Beide Kederbachers waren ganz außerordentlich anständige Leute. Man konnte ihnen in jeder Beziehung vertrauen und sie verfehlten nie, ihre Pflicht voll und ganz zu tun. Ich habe noch heute die allerbeste Erinnerung an sie und die größte Achtung vor ihnen.“ (Aus einem Brief Mr. Farrars.)

Dies Zeugnis gibt ihm der — kürzlich verstorbene — seit fünfundvierzig Jahren weitgereiste englische Bergsteiger Mr. Farrar, einer der besten Kenner der Geschichte des Alpinismus. Es ist überflüssig, die zahllosen gleichartigen Urteile anderer Alpinisten über Grills Meisterschaft auf Fels und Eis anzuführen. Aber nicht das technische Können allein, auch die Gaben des Herzens und des Verstandes gehören zu seinem Bilde. Vielen war er „nicht nur ein meisterlicher Führer, sondern ein Freund, der den ihm Anvertrauten mit treuester Fürsorge umgibt, und ein Mensch mit Auge und Sinn für die Schönheiten der Bergwelt“.

In seines Vaters Buch hatte einst eine Bergsteigerin geschrieben: „Es gibt nur einen Kederbacher.“ Daran anknüpfend bemerkt einer der Herren des Sohnes, er müsse nach seinen Erlebnissen auf schwerer Kletterfahrt sagen: „Es gibt zwei Kederbacher, Johann Kederbacher Vater und Sohn.“ Mit diesem Urteil aus dem Jahre 1919 wollen wir das Führerbuch schließen.

Einer der besten Alpenführer und ein ganzer Mensch steht vor uns, wenn wir seine Taten an uns vorüberziehen lasten. Auch Johann Grill der Jüngere nimmt, wie sein berühmter Vater, einen würdigen Platz ein unter den Pfadfindern der Alpen.

Die wichtigsten von Johann Grill Sohn bestiegenen Westalpen-Gipfel

Die zahlreichen Hochpässe sind weggelassen : 1)

1) Das verlorene Führerbuch Grills des Jüngeren (1901—1916) konnte nur annähernd ergänzt werden. Seine hier angeführten Westalpen-Turen find daher nicht ganz vollständig.

Verninagruppe:

Piz Bernina 1, Piz Roseg 2, Monte Scerscen 1, Piz Lorvatsch 1

Berner Oberland:

Finsteraarhorn 4, Metschhorn 1, Jungfrau 5, Mönch 1, Schreckhorn 4, Eiger 1, Metschhorn 2

Kl. Mescherhorn 1, Balmhorn 1, Wetterhorn (Neutur) 3, Petersgrat 2

Wallis:

Monterosa 5, Dom 2, Täschhorn 1, Lyskamm 1, Weißhorn 4, Matterhorn 5, Dent Blanche 1

Grand Combin 1, Castor 1, Zinalrothorn 3, Dem d’Herens 1, Breithorn 2, Ober-Gabelhorn 2

Weißmies 1, Kleines Matterhorn 1, Limes Manches 1, Almagellhorn 1

Montblancgruppe:

Montblanc 2, Aig. de Bionnaffay (Neutur) 1

Aig. du Midi 1, Pointe Farrar (1. Erst.) 1

Mg. des Grands Charmoz 1

Paradis-Gruppe:

Grand Paradis 1, Grivola 1, Petit Paradis 1, Bec de Montandeyne 1, Mont d’Herbetet 1

Benutzte Schriften

2t. 3. XXIII 6.308, XXIV 6.303, XXV 6.51, XXVII 6.263, XXXI 6.262, XXXVII 6.363.

Voll. L. A. I. 1904,5 6. 311, D. A. Z. X 6.191, XV S. 244.

Ib. 6. A. C. XXI 6.127, M. A. V. 1886 6. 79, 1917, 6.3, M. A. V. 1892 6.247.

A. V. 1883, S. 507, 1885 S. 266, 1914 6.195.

Dübis Hochgebirgsführer durch die Berner Alpen II S. 167, III (1909), S. 131.

Guide Kurz, La Chaine du Montblanc 1927.

Purtschcller-Heß, Der Hochturist in den Ostalpen (1911).

Führerbuch Johann Grills des Älteren (Abschrift).

Führerbücher Johann Grills des Jüngeren 1880—1900, 1916—1927.

 

 

 

Grosser Watzmann – Die klassische Ostwand

Die klassischen Ostwandwege

Kederbacher Weg

Johann Grill und Otto Schück am 06.06.1881.

Salzburger Weg

Hans Feichtner, Hermann Feichtner, Viktor Reitmayer und Ludwig Schifferer am 08.09.1923. (Tourbericht vorhanden)

Münchener Weg

Die Erstbegehung des Münchener Weges erfolgte am 15.07.1929 durch Dr. Fritz Thiersch. Überwiegend mit der Schwierigkeitsstufe II, bei zwei Stellen im Bereich IV, bietet der Münchener Weg eine eindrucksvolle Kletterei in zum Teil brüchigen Fels. Die Vereinigung mit dem Salzburger Weg findet auf dem ersten Band statt. (Tourbericht vorhanden)

Berchtesgadener Weg

Josef Aschauer und Hellmuth Schuster am 28.09.1947 mit 80 Meter Schwierigkeiten der Stufe III auf Höhe der Wasserfallwand, ansonsten vorwiegend II.

Andere Wege durch die Ostwand

Frankfurter Weg

Am 02.08.1949 begingen Fritz Krämer und Werner Krohn einen neuen Weg und eröffneten den geradesten Weg durch die Ostwand. Die Schwierigkeiten liegen im Bereich V auf einer Seillänge, ansonsten wird im Bereich IV und III geklettert. In der Mitte der Ostwand trifft die Führe auf den Salzburger und Münchener Weg.

Polenweg

Der Polenweg wurde am 15.08.1973 durch die polnische Seilschaft Bogusław Mazurkiewicz und Adam Uznanski junior eröffnet, ist eine Variante des Berchtesgadener Weges und wartet mit Schwierigkeiten der Stufe V auf.

Franz Rasp Gedächtnisweg

Michael Grassl, Peter Hundegger, Lisa Meyer am 03.07.1999.

Sonstige Varianten

Zahlreiche Varianten der Durchsteigung berühren in ihrer Linienführung die Bänder 1 bis 5 der Ostwand. Dazu kommen Diagonal- und Querverbindungen.

I. Band

 

II. Band

Hans und Simon Flatscher im Jahre 1929. (Evtl. auch 1935)

III. Band

Der Weg des Kederbachers im Jahre 1881.

IV. Band

 

V. Band

H. Bose und H. Lepperdinger 1920

Diagonalverbindung vom Schöllhornkar zur Gipfelschlucht

Franz Rasp am 26.06.1966

Variante des Kederbacherwegs unter Nutzung des I. Bandes

Steinschlaggefahr auf dem ersten, schönen, Band, schwierige Unterbrechungsstelle bei Aufstieg in die Gipfelschlucht.

Variante des Salzburger Weges mit Aufstieg zur Mittelspitze

S. Kurz und J. Hribar am 27.09.1949

Diverse Varianten zum Berchtesgadener Weg

Durchstiegsvarianten auf dem Weg von der Eiskapelle zum Schuttkar und vom Schuttkar zur Wasserfallwand

Variante zum Frankfurter Weg

Franz Rasp eröffnete 1968 bei annähernd gleicher Linienführung mit einer Variante des Frankfurter Weges eine leichtere Möglichkeit.

Querung zum Watzmannkar

H. Grassl, J. Grassl und J. Zechmeister 1949, Vermeidet im oberen Wandteil im Notfall den Ausstieg aus der Gipfelschlucht. Querung auf Bändern ca. 50 Meter oberhalb der Biwakschachtel.

Ostwand aus dem Eisbachtal

IV, Zeitbedarf 10-12 Stunden, schwieriger als der Weg des Kederbachers.

Südostwand aus dem Eisbachtal

IV-, Zeitbedarf 12 Stunden, im unteren Bereich der Führe steinschlaggefährdet.

Gottfried Merzbacher – Der dritte Sieg über die Ostwand

Mitteilungen des deutschen und österreichischen Alpenvereins, 1889

Dritte Ersteigung des Watzmann von Bartholomä

Von Gottfried Merzbacher in München.

Anfangs Juni d. J. von den Höhen der Appeninen, auf welchen um diese Zeit noch ganz erstaunliche Schneemassen lagerten, nach meiner alpenumkränzten Heimat reisend, war ich auf dem Brenner und noch mehr im Innthale überrascht, die stolzen Berge zu so früher Jahreszeit schon ganz im grünen und grauen Sommerkleide zu finden. Nur auf den höchsten Höhen und in tiefen Schluchten erglänzten noch, als letzte Zeugen entschwundenen Wintergrimmes, weisse Schneeflecken; sogar die Gletscherabstürze schimmerten unter den heissen Strahlen einer Frühlingssonne, wie ich sie sengender und drückender nicht auf den Gefilden Siciliens empfand, bereits in jenem zarten Blaugrün, das sie sonst erst im Spätsommer umglänzt. Niemals hatte ich das Hochgebirge in so früher Jahreszeit, so sommerlich gekleidet gefunden, und in Fortsetzung meiner Reise durch das grünende Pinzgau nach Salzburg stiegen besondere Zweifel in mir auf, ob mir wohl ein Vorhaben gelingen würde, ohne dessen Ausführung ich nicht glaubte, nach langen, beschwerlichen Reisen mich mit ruhigem Gewissen einigen Wochen heimatlicher Ruhe hingeben zu dürfen.

Seit mehreren Jahren schon, insbesondere nach Durchlesung von Purtscheller’s hübscher Schilderung in der „Zeitschrift“ 1886, S. 281, steht das Project der Watzmannbesteigung von Bartholomä auf meiner Tourenliste, ohne dass Zeit und Umstände die Ausführung mir bisher erlaubt hätten. Sollte ich auch diesmal wieder unverrichteter Dinge heimkehren? Sollten wirklich die Schneebänder, welche die ungeheuren Watzmannwände oberhalb Bartholomä durchsetzen, schon so weit abgeschmolzen sein, um einen Aufstieg auch für dies Jahr unmöglich zu machen? Waren ja doch (nach Versicherungen Kederbacher‘s) ein Dutzend Aufstiegsversuche an diesen Wänden schon gescheitert und nur zwei bisher geglückt. Wie dem auch sein mochte, den Versuch wollte ich auf alle Fälle wagen! So sass ich denn am Sonntag den 3. Juni morgens im Garten der Post in Berchtesgaden, mit dem Führer Punz (Preiss) aus Ramsau mich eifrig über die Vorbereitungen zu dem Unternehmen unterhaltend, und wir waren bereits vollständig über alles Wichtige ins Reine gekommen, Punz wollte eben aufstehen, um in seiner Behausung Bergkleidung und Ausrüstung zu holen, als der mir wohl befreundete Führer Kederbacher unserm Tische zuschritt, mich freundlich begrüssend.

Kaum hatte er von meinem Vorhaben vernommen, als er sofort die schwersten Bedenken dagegen geltend machte und ernstlich abrieth, die Tour zu Zweien zu unternehmen. Er für seinen Theil würde überhaupt unter keinen Umständen mehr die Tour zu Zweien antreten und wäre der Tüchtigste sein Begleiter, dabei auch auf sein Missgeschick bei dem Versuch mit Purtscheller („Zeitschrift“ 1886, S. 283) verweisend. Bei dem starken Rückgange der Schneezungen stellte er es als sicher hin, dass Wir zu Zweien zurückgeschlagen würden, und nur bei tüchtigem Zusammenarbeiten zu Dreien hielt er einen Erfolg für möglich. Wenn uns aber das Missgeschick der Umkehr, und zwar, wie voraussichtlich, erst auf dem obersten Bande aufgezwungen würde, so könnten die Gefahren des Rückweges, infolge der zu so vorgerückter Tageszeit in diesen Wänden unausbleiblichen Steinschläge und Schneeabbrüche für uns die verhängnissvollsten werden. Vergebens führte ich meine guten Gründe mit möglichster Beredsamkeit in das Feld; es gelang mir nicht, Kederbacher’s Ansicht auch nur im Mindesten zu erschüttern. Da ich aber, bei dem mir genügend bekannten Charakter Kederbacher’s, leidige Gewinnsucht als Motiv seines Abrathens für gänzlich ausgeschlossen hielt, so musste ich mir wohl oder übel sagen, dass, wenn ein Mann von dem unzweifelhaften und so oft erwiesenen Muthe Kederbacher’s, von seinen reichen und grossen Erfahrungen in den Fährlichkeiten und Wagnissen schwieriger Bergfahrten und von seiner ganz eminenten Kenntniss des hier in Frage kommenden Gebirges so urtheilte, mir nichts Anderes übrig bleibe, als mich unterzuordnen, wollte ich mir nicht den Vorwurf zuziehen, bei eventuell schlimmem Ausgang des Unternehmens das Leben eines Andern in sicher voraussehbare Gefahr gebracht zu haben, im günstigsten Falle aber den Spott, unverrichteter Dinge wieder abziehen zu müssen, einheimsen.

Mit schwerem Herzen fügte ich mich denn in die eiserne Notwendigkeit und bestellte nunmehr auch Kederbacher für den Abend zum Treffpunkt am Königsee. Meine frohe Bergeslaune war aber dahin; ein grosser Theil des Zaubers der schönen Bergfahrt war für mich verloren, denn wie gab es mehr eine Selbstständigkeit des Vorgehens für den Touristen, eine Möglichkeit zu frohem Wagen und keckem Handeln, welche einen grossen Theil des Reizes schwieriger Bergtouren ausmachen, inmitten zweier Führer wie Kederbacher und Punz?

Die Schwüle der Luft und der nachmittags zum Ausbruch kommende Regen, nach so langer Reihe ungetrübt schöner Tage, trug auch nicht dazu bei, mich aufzuheitern, und meine Stimmung hatte sich daher um nichts gebessert, als ich abends 8 h mit den beiden Männern am Ufer des Königsees zusammentraf. Der Himmel hatte sich wieder aufgeklärt; aus dem kühlen, dunklen Himmelsblau glänzten freundliche Sterne herab; Wellen und Luft spielten miteinander wehend und wogend und die über den Bergen schwebende schmale Mondessichel, lockte nur auf den höchsten Spitzen derselben einen silbernen Tag hervor, während dunkle Schatten die Schönheiten des Seekessels verbargen. Kühle Luft umfing mich, als nachts 12 h 10 m die an den Felswänden wiederhallenden Ruderschläge der beiden Schiffer, welche uns nach Bartholomä übersetzten, die feierliche Stille der Nacht unterbrachen, und einem gespenstischen Schatten gleich glitt das Boot mit seinen schweigsamen Insassen über den verlassenen Seespiegel. Wie oft hatte ich mir im Vorgefühl jener Bergtour diese nächtliche Fahrt im Geiste ausgemalt, aber anders, ganz anders! Von der frohund wagemuthigen Laune, dem frischen Thatendrang, welche damals mein Herz schwellten, empfand ich heute wenig mehr. Wir landeten um 2 h in Bartholomä und setzten beim flackernden Scheine einer Laterne sogleich den Weg in das Eisthal fort, aus welchem eine wie in einem Backofen erwärmte dicke Luft uns von Zeit zu Zeit entgegenbrodelte; ein schlimmes Vorzeichen, welches auch den Rest getrübter Freude, den die Aussicht auf das Gelingen des Unternehmens noch in mir rege hielt, zu nichte machte. Die Fichten standen regungslos in der Erde und nur die Laubsträucher wiegten leise ihr neugebornes Grün in den lau flatternden Lüften, als wir der hohen, von der Dunkelheit noch verschleierten Bergeswelt entgegen schritten. 2 h 55 m beim ersten schwachen Zwielicht des kommenden Tages erreichten wir die Schneehalden, welche zu den Felsen hinanziehen, und die schwere Arbeit der Ersteigung der Steilwände konnte beginnen.

Angeweht von kühlerer Morgenluft stieg es sich jetzt leicht, allein in immer stärkeren Stössen kam uns die von der Sonnen gluth des vorigen Tages erhitzte und in den Felsschluchten eingepresste Luft, durch die deckenden Nebelschichten der Nacht am Entweichen verhindert, dick entgegen. Es war klar, dass günstigsten Falles bis mittags auf gutes Wetter zu zählen war, dass wir aber sodann mit Sicherheit Regen zu erwarten hatten. „Wenn’s nur bis mittags aushält, dann ist’s gewonnen,“ meinte Kederbacher. Bis dahin durften wir vom Grat nicht mehr weit entfernt sein, denn bei einfallendem Nebel wäre kein Vorwärts- noch Zurückgehen in den schwierigen Wänden mehr möglich gewesen. Eile war daher vonnöthen. Die Führer wollten das Seil herausnehmen und mich an dasselbe befestigen. Das hatte mir nun gerade noch gefehlt, um das Mass meiner üblen Laune voll zu machen. In entschiedenster Weise verwahrte ich mich dagegen und wäre lieber umgekehrt, als unter solchen Umständen die Besteigung auszuführen, eine Entschiedenheit, die mir den Genuss meiner Freiheit wahrte. Nur an einigen wenigen, den allerschwierigsten Stellen, wo ein Zusammenwirken unerlässlich schien, wurde dann allein von dem Seile Gebrauch gemacht. Wir waren alle Drei bei günstigster körperlicher Disposition, und es war ein wahrer Wettlauf, den wir an den Felsen empor ausführten. In einer Kederbacher selbst in Erstaunen versetzenden Kürze der Zeit, in 1 St. 50 Min., hatten wir die erste Terrasse überwunden und standen 4 h 45 m am Beginne des zweiten Schneebandes. Die Sonne blitzte eben über die Berge östlich des Sees herüber und warf ihr Rosenfeuer in das dünn schwebende Gewölk, das in zartesten, beweglichen Farbentönen erglänzte, während das bisher tiefe Blau der Zackenkrone des Gebirges von dämmerndem Golde angehaucht wurde. Wir liessen uns zum wohlverdienten Frühstück nieder und frohe Hoffnung des Gelingens begann mich wieder mit besserem Lebensmuthe zu erfüllen, zumal meinem Thatendrang durch die bevorstehende schwierige Felskletterei Spielraum genug zur Sättigung gegeben war.

Bewundernd betrachtete ich das herrliche Schauspiel, wie der Ring der Berge um den Königsee immer mehr von der Sonne erhellt wurde und die Lichter des Tages, wie Schnee immer tiefer an den Wänden herabrollten indess der See noch von dunklem Schatten bedeckt war. Ein plötzlicher Steinhagel schreckte mich aus meinen Betrachtungen auf und mit knapper Noth konnten wir uns der drohenden Gefahr entziehen. Hoch oben unbemerkt von uns durch die Wände setzende Gemsen hatten die Geschosse auf unseren Lagerplatz herabgesandt. Rasch die bedrohte Stelle verlassend, wurde 5 h 15 m der Weg fortgesetzt. Die Randkluft zwischen Schnee und Fels gähnte überall breit entgegen und nur eine einzige Stelle erlaubte noch einen Uebergang. Noch wenige Tage und jede folgende Partie musste schon hier zurückgeschlagen werden. Der Uebergang war indess nicht leicht. Punz zog seine Schuhe aus, um als der Erste, von uns unterstützt, die ausgewaschenen, plattigen Felsen zu erklimmen; ich folgte, zuletzt Kederbacher, von mir gehalten. Punz benützte die ihm gelassene Pause, um durch eine unachtsame Bewegung zu unserem nicht geringen Schrecken einen seiner Schuhe in die gähnende Randkluft hinabzustossen. Ein wahres Glück, dass er in geringer Tiefe noch auf einem vorspringenden Schneezacken liegen blieb; er wäre sonst unwiederbringlich verloren gewesen. Am Seile musste Punz wieder hinab, um ihn heraufzuholen. Die nun in kurzen Pausen sich folgenden schwierigen Stellen, meist steil aufgerichtete, ausgewaschene Platten, hohe Wandstufen, oder ausgebogene Felsblöcke, wurden sämmtlich ohne grossen Zeitverlust genommen und schon 7 h 48 m war das dritte grosse Schneeband erreicht, welches als Unterlage eine gegen Südwest durch eine tiefe Schlucht unterbrochene Felsterrasse hat. Kederbacher war zufrieden, denn wir hatten ein gutes Stück der schwierigen Arbeit in ungemein kurzer Zeit erledigt. Der Himmel war zwar schon etwas umzogen, allein das Gewölk war noch dünn und stand hoch. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatten wir den Grat schon überschritten, bevor eine Wendung zum Schlimmen eintreten konnte. Die Aussicht auf die so nahe scheinende glückliche Lösung der schwierigen Aufgabe und die Befriedigung, welche die schöne, abwechslungsreiche, alle Kräfte anspannende Arbeit des Felskletterns gewährte, hatten auch das gestörte Gleichgewicht meiner seelischen Erregungen wieder in harmonische Stimmung verwandelt. Unter frohem Geplauder lagerten wir uns unterhalb einer Felswand, neben herabströmendem Schmelzwasser, um eine Stärkung zu nehmen, allein auch diese kurze Spanne Zeit beschaulichen Genusses sollte nicht ungetrübt vorüberrauschen und mit unwiderleglicher Logik wurde erwiesen, dass Kederbacher’s Befürchtungen nur zu begründet waren. Ein in ‚allen Wänden wiederhallendes, donnerähnliches Krachen scheuchte uns auf und schnell suchten wir an der Felswand Schutz vor der drohenden Gefahr. In dumpfem Grollen entfernte sich der Schall und ängstlich lauschten wir seiner Erneuerung. Es wurde jedoch wieder still und wir konnten uns von dem unheimlichen Platze mit heiler Haut zurückziehen. Wie sich später oben zeigte, hatte sich ein grosses Stück einer auf stark geneigter Felsunterlage ruhenden Schneescholle abgelöst und war mit starkem Getöse herabgestürzt, jedoch nach kurzem Falle in einer muldenförmigen Vertiefung liegen geblieben, wodurch wir vor drohendem Unheil beschützt blieben.

Um 8 h 20 m aufbrechend, traversirten wir etwas nach rechts, denn es galt nun, von dem Schneeband aus, die dasselbe überragenden Felswände wieder zu erreichen. Das Mittel hiezu schien ein vorspringender Felskopf zu bieten, am Fusse der grossen Rinne, und die beiden Führer versicherten, dass dies die Stelle sei, welche sie bei ihrer früheren Ersteigung benützt hätten. Der Schnee reichte jedoch nicht hoch genug hinan, um den ganz ausgebogenen Felskopf ansteigen zu können. Das Hinderniss musste also umgangen werden und wir wandten uns nach links, Südwest, hinüber, auf einem Felsbande so lange fortwandernd, bis dasselbe von einem mit Schnee erfüllten klammartigen Einriss unterbrochen wurde, sprangen in den Schnee hinab und setzten über denselben den „Weg fort, der uns hoch und immer höher in südwestlicher Richtung an die Felsen emporführte. Wir glaubten so eine nicht mehr ferne, etwas östlich umbiegende Felsschlucht erreichen zu können, von der anzunehmen war, dass sie sich weiter oben wieder mit der zum Gipfelgrat emporziehenden grossen Rinne vereinigen würde. Bald standen wir indess unerwarteter Weise an einem Abbruch des ganzen Bandes, der jedes Vorwärtsdringen unmöglich machte. Eine etwa 12 Meter hohe Wand trennte uns von einem Graben, über den hinweg eine Fortsetzung gangbarer Felsbänder und Schneehalden zu erkennen war. Abseilen war hier die einzige, doch schwierige Möglichkeit; als Stützpunkt bot sich nämlich nur eine kleine, schmale Felsplatte unter einem überhängenden Felsen. Nach sorgfältigen Vorbereitungen wurde der zögernde Punz, dem die Sache nicht recht gefallen wollte, zuerst hinabgelassen; dann kamen die Rucksäcke und Pickel, hernach meine Wenigkeit und endlich seilte sich Kederbacher mit bekannter Geschicklichkeit und Vorsicht selbst ab. So waren wir denn, nach mehr als einstündiger Arbeit, alle wieder glücklich beisammen unten angelangt; doch nein! — Peinliche Ueberraschung ! Einer war zurückgeblieben, K e d e r b a c h e r’s Hut, den derselbe im Eifer der Arbeit auf dem Felsband oben liegen liess, wo derselbe heute noch liegt.

Wer wird ihn holen ? — Der Verlauf der Schichtenbänder drängte uns indessen immer mehr nach links, Südwest, was Kederbacher unheimlich vorkam, so dass er schliesslich die schwersten Bedenken zur Geltung brachte, ob wir auf diesem Wege eine zum Gipfelgrate emporführende Rinne wohl erreichen würden. Ihm schien es unerlässlich, aus solcher Ungewissheit herauszukommen und auf alle Fälle, wenn auch mit weiterem Zeitverlust, die grosse Hauptrinne wieder zu erreichen. Kurz entschlossen, versuchte er es über einige Felsstufen nach rechts abzubiegen, überstieg einige vorspringende Rippen und verständigte uns dann nachzukommen, nachdem der gewonnene Ueberblick ihn von der Gangbarkeit des Terrains überzeugt hatte. Sein vielbewährter Orientirungssinn hatte ihn auch diesmal nicht getäuscht; über Einrisse, Schneezungen und Schichtenbänder bahnten wir uns einen Weg und erreichten glücklich die Hauptrinne wieder, hatten jedoch im Ganzen durch diese uns allerdings aufgezwungene Abweichung von der Hauptanstiegslinie, der grossen Rinne, ca. 2 St. Zeit verloren.

Und wir hätten eigentlich keine Zeit zu verlieren gehabt, denn die Wolkendecke wurde während des nun folgenden Aufstieges immer dichter, senkte sich tiefer herab und einzelne Nebelfetzen krochen bereits verdächtig unter uns an den Wänden herauf, als wir 11 h 20 m ein kurzes Stück unterhalb des Grates noch eine Rast machten, um durch einen kleinen Imbiss die während der letzten dreistündigen harten Arbeit stark mitgenommenen Kräfte zu erneuern.

Als wir 11 h 50 m wieder aufbrachen, war bereits ein weites Stück des Grates in dichten Nebel gehüllt und die Orientirung auch für Leute vom Schlage der beiden Führer eine schwierige geworden. Kederbacher hatte die Tour nur einmal, und zwar vor acht Jahren ganz ausgeführt, Punz war an dieser Stelle überhaupt nicht vorbeigekommen, denn bei seiner Ersteigung mit Purtscheller war er schon tiefer unten mehr nach Südwesten ausgebogen, um die Südspitze zu erreichen („Zeitschrift“ 1886, S. 286), während die Erreichung der Mittelspize in meiner Absicht lag. Punz wurde also zum Auskundschaften des Weges vorgeschickt, während Kederbacher und ich unter einem überhängenden Fels vor dem nun zum Ausbruch kommenden Regen Schutz such ten. Mit der Rückkehr von Punz nach ¼ St. hatte sich das Wetter indess wieder etwas gebessert und wir setzten mit ihm den Weg fort, der bis zur Erreichung der Grathöhe noch eine längere und anstrengendere Kletterei erforderte, als wir vorausgesetzt hatten. Hart unter den Abstürzen der Südspitze betraten wir gegen 1 h den Hauptgrat gerade in dem Augenblick, als die Sonne den Wolkenhimmel auseinanderwarf. Glänzende Wolkenstücke zogen sich langsam in die Ferne nach Norden zu und ihre Schatten glitten über das helle Grün der Thäler.

Die Sonne zog ein weites Strahlennetz über das mich umgebende einsame, uralte Felsenmeer, voll starr und jäh aufbäumender Wellen. Die Fernen glänzten und dampften und hie und da am Horizonte stäubten schwarze Dunstballen ihren Inhalt in die feucht schimmernde Welt herab. Dieser erhabene grossartige Krieg der Sonne mit dem Wasser, mit den Dünsten und der Erde fesselte mich lange und nöthigte mir stumme Bewunderung ab. Indessen wurde es wieder düsterer um uns und von Neuem umwogten feuchte Nebelballen den wild gezackten Felsgrat, weshalb wir bei Fortsetzung des Weges bald auf demselben, bald unterhalb desselben auf der Nordwestseite durch die Schwierigkeit der Orientirung manchen Zeitverlust erlitten.

Endlich um 3 h betraten wir unser langersehntes Ziel, den Mittelgipfel des Watzmanns, und hatten so doch noch glücklich eine Aufgabe gelöst, deren Gelingen mir am Morgen wenig wahrscheinlich erschien. Ob Kederbacher’s Ansicht, diese Tour nur mehr zu Dreien zu unternehmen, durch den Verlauf unserer Besteigung vollständig gerechtfertigt wurde, möge der denkende geneigte Leser je nach seiner Auffassung und alpinen Erfahrung selbst entscheiden. 13 St. waren verflossen, seit wir bei Bartholomä in der Nacht den Fuss ans Land gesetzt hatten und keine vollen 2 St. waren hievon auf Rasten entfallen. Wären wir durch die ungünstige Beschaffenheit der Schneebänder nicht von der grossen Hauptrinne abgedrängt worden, so hätten wir den Gipfel in weniger als 11 St. erreicht. Nur kurze Zeit konnten wir uns der mühsam errungenen Höhe erfreuen, denn bald fing es zu regnen an und strömende Wasserfluthen geleiteten uns auf dem ferneren Wege zum Hocheck und hinab zum Watzmannhaus, das wir um 5 h betraten, als auch nicht ein trockener Faden mehr an uns war.

Christian Schöllhorn – Tod für die Ewigkeit

9 Jahre nach der Erstbesteigung der Watzmann Ostwand durch Johann Grill und Otto Schück der erste Tote in der Watzmann Ostwand. Die Wand fordert ihren tödlichen Tribut.

Christian Schöllhorn, dessen Name mit dem Schöllhornkar, Schöllhorneis und der Schöllhornplatte Eingang in die Geographie der Watzmann Ostwand gefunden hat stürzte am 26.05.1890 tödlich ab.

In den Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins wird im Jahre 1890 über jenes Ereignis berichtet.

Ludwig Purtscheller – Der Große Watzmann von St. Bartholomä aus

Ludwig Purtscheller beging gemeinsam mit Johann Punz als zweite Seilschaft die Ostwand des Watzmanns und fand dabei den heute gebräuchlichen Ausstieg zur Südspitze.

In der Zeitung des deutschen und österreichischen Alpenvereins des Jahres 1886 findet sich sein Bergfahrtbericht.

Zwei Bergfahrten in den Berchtesgadener Alpen
Von L. Purtscheller in Salzburg.
Der Grosse Watzmann von St. Bartholomä aus.

Die Erklimmung des Grossen Watzmann von St. Bartholomä gehört zu den bedeutendsten und interessantesten Besteigungen, die im Bereich der Ostalpen ausgeführt werden können. Würden die Berge Berchtesgadens dem eigentlichen Hochgebirge beizuzählen sein und der Sockel des Gebirgs um einige hundert Meter höher liegen, so könnte man diese Besteigung unzweifelhaft mit den grössten Hochtouren in der Schweiz, in den italienischen Alpen und im Dauphine vergleichen.

Die Mittelspitze des Watzmann, nach Waltenberger 2714 m (nach der Sp.-K. 2712 m) liegt 2112,5 m  über dem Spiegel des Königssees (601,5); Biermann (diese Zeitschrift 1879 S. 182) berechnet den Horizontalabstand des Gipfels vom Ostufer des Sees bei seiner Annahme von 2740 und 603 m auf  4300 m und danach den Elevationswinkel auf 26° 35′, das Verhältniss der Höhe zum Abstand auf 0,497. Man vergleiche auch die interessante Zusammenstellung verschiedener bei Besteigungen zu überwindender Höhenabstände in den Gesammtalpen von R. Seyerlen (Zeitschrift 1878 S. 348—350). Reiht man den Höhenunterschied von 2112 m in Seyerlen’s Daten ein, so übertrifft er die Differenz Sulden-Ortler um 52 m und rangirt zwischen jenen Sta. Caterina-Königsspitze (2118 m), Campitello-Marmolada (2108 m) und Chalets de Valsorey-Grand Combin (2125 m).

Der erste Tourist, der den Grossen Watzmann von der Südostseite erstieg, war Herr Otto Schück aus Wien. Er hatte in den Jahren 1873 und 1879 zwei ähnliche hervorragende Touren ausgeführt, nämlich die Ersteigung des Ortler über das Hochjoch und dann vom Ende der Welt-Ferner über die Ostwand, und war daher vollkommen berufen, auch dieses schwierige und kühne Unternehmen zu wagen. Der Führer Schück’s bei seiner Besteigung des Watzmann war der den Lesern der Zeitschrift wohlbekannte Johann Grill (Köderbacher) aus der Ramsau. Schück benöthigte am 6. Mai 1881 volle 14 Stunden, um auf die höchste (mittlere) Watzmannspitze zu gelangen.

Köderbacher, der als der Vater dieses Projects betrachtet werden kann, urtheilte unzweifelhaft richtig, wenn er diese Tour nur zu Anfang des Sommers, bei noch reichlich vorhandenem Winterschnee, für ausführbar hielt. Bei mangelndem Schnee, oder wenn das in den Rinnen und Schluchten lagernde Eis stark abgeschmolzen und unterhöhlt ist, erscheint es sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, sich den steilen Felsmauern zu nähern und die hohen Abstürze zu überwinden.

Obschon von dieser Thatsache völlig überzeugt, beschloss ich dennoch, in Folge einer Anregung Köderbacher’s, die Ersteigung im Herbst (28. October 1883) zu versuchen.

Es war die erste Stunde nach Mitternacht, als unser Kahn, von den kräftigen Armen zweier Fährleute gelenkt, die unbewegliche, schwarze Fläche des Königssees durchfurchte. Zitternd und klar spiegelte sich in der Fluth das Licht der Gestirne, bis uns eine Nebelschichte den Anblick des Himmels und auch den Bück auf die Ufer verwehrte. In St. Bartholomä nahmen wir den Weg in das Eisthal, die bekannte in das Massiv des Watzmanns eingeschnittene Schlucht, in deren Hintergrund sich die „Eiskapelle“ befindet, eine Anhäufung von Lawinenschnee, der im Sommer allmälig in Eis verwandelt wird.

Schwarze, phantastische Felszacken, der Kamm der Hachelwand, ragen in die Lüfte und verengen mit den mächtigen Baumkronen der Buchen das Stückchen Himmel, das uns in der Wildniss den Pfad weisen sollte. Das bereifte Astwerk und das kaum wahrnehmbare Gemurmel des Eisbachs verkündete, dass die Natur bereits der winterlichen Erstarrung und Ruhe anheim gefallen war.

Nach ¾ 4 Stunden machten wir nothgedrungen eine längere Rast. Wir befanden uns in der Nähe der Eiskapelle, am Fuss der hohen Steilwände, zu deren Erkletterung wir des vollen Tageslichts bedurften. Die Kälte drängte bald zum Handeln. Meine Befürchtungen fand ich, wie ich gleich bemerken will, in vollem Maass bestätigt.

Die Eismasse, welche im Frühjahr bis zur Höhe der Felsstufen hinanreicht, hatte im Laufe des Sommers mehr als die Hälfte ihrer Mächtigkeit eingebüsst. Die Ränder des Eises waren ganz unter unterhöhlt und 2 bis 4 m von den Wänden entfernt. Im Berchtesgadener Lande erzählt man sich noch immer die Geschichte jenes Gemsjägers, der an dieser Stelle durch die dünne Eisdecke brach und in einen tiefen Schlund stürzte, aus dem er sich erst nach zweitägiger Gefangenschaft und mit der grössten Anstrengung retten konnte. Er hatte sich, als er die Oberfläche des Eises schon beinahe erreicht hatte, durch einen zweiten Fall das Bein gebrochen, vermochte sich aber dennoch mit dem Aufwand seiner letzten Kräfte aus der Spalte zu befreien. Unfähig weiter zu gehen, wäre er ohne Zweifel dem Hungertod verfallen, wenn nicht ein Knabe in St. Bartholomä das Fernrohr zufällig auf die Stelle gerichtet hätte, wo der Unglückliche lag. Aus seinen Bewegungen, die anfänglich wegen der Entfernung nicht recht gedeutet werden konnten, vermuthete man, dass es der vermisste Gemsjäger sei, der dann auch aus seiner misslichen Lage befreit wurde.

Köderbacher näherte sich vorsichtig dem Rand, um einen Uebergang ausfindig zu machen. Seine Bemühungen waren erfolglos. Wenn es auch gelungen wäre, den Raum zwischen Eis und Fels zu überspringen, die jenseitige nahezu senkrechte Wand hätte weder den Händen noch den Füssen irgend einen Halt geboten.

Die Route, die man beim Aufstieg zu verfolgen hat, ist ungeachtet des complicirten Terrains und vieler Einzelheiten unschwer festzusetzen. Man hält sich, soweit es durchführbar, in der rechts (nördlich) hinaufziehenden grossen Rinne, und nimmt im letzten Drittel der Wand, wo die Schwierigkeiten erheblich abnehmen, nach Belieben eine links- oder rechtsseitige Richtung. Wer direct auf die Mittlere Spitze gelangen will, der hat sich etwas rechts zu halten, indem er eine breite Mulde überquert und dann einer diagonal eingeschnittenen Plattenrinne folgt, die bis an die Höhe des Grats hinanreicht. Die grosse Rinne – anfänglich der einzig mögliche Weg – wird von einer Reihe senkrechter Abstürze und hoher Felsstufen unterbrochen, deren Ueberwindung eine sehr bedeutende Mühe und einen ebenso grossen Zeitaufwand erfordert.

Die Wand, welche uns den Einstieg in die Hauptrinne versperrte, musste durch eine schwierige Kletterei nach rechts um umgangen werden. Leider erforderte dieses Manöver die Zeit von 2 Stunden, wobei wir kaum mehr als eine Höhe von 50 m gewannen. In der Rinne fortsteigend, trafen wir dann ein kleines Schuttlager und hierauf wieder eine Schichte compacten Lawinenschnees, dessen Ränder ebenfalls durch eine breite unpassirbare Randkluft von der Wand getrennt waren. Die Seitenwände der Rinne erwiesen sich als ganz unersteiglich, nur rechts über uns schien eine sehr glatte, steile, überhängende Platte einen Ausweg zu eröffnen. Dort lag, es war uns dies sofort klar, die Entscheidung, der Schlüssel zu dem vor uns aufgerichteten Bollwerk. Wir mussten die Platte erklettern, oder aber die Partie als verloren aufgeben. Köderbacher versuchte, obwohl wir Beide an den Erfolg nicht glaubten, von einer kleinen Vertiefung aus auf die Platte zu gelangen, aber es war vergeblich. Ein vorspringender Fels drängte ihn immer wieder über den Abgrund hinaus. Die vergebliche, grosse Anstrengung und die Gefahr bemerkend, welcher Köderbacher sich aussetzte, bat ich ihn, von weiteren Versuchen abzustehen. Wir beriethen, ob keine Möglichkeit vorliege, den klaffenden Schlund zu übersetzen; aber der Umstand, dass noch mehrere solche Stellen zu passiren waren, wobei durch den Abgang von Schnee sich ähnliche Verhältnisse ergehen hätten, wie die eben geschilderten, dann die vorgeschrittene Stunde – es war bereits 9 ½ U. – bestimmten uns, den Rückzug anzutreten.

Wir hatten eine Höhe von ca. 2000 m erreicht. In der Tiefe zeigte sich das Eisthal und der blinkende Spiegel des Königssees; von den Randgipfeln des Hagengebirges nahmen sich besonders statt stattlich der Schneibstein und der Kahlersberg aus; rechts thürmte sich das hohe, senkrecht abstürzende Felsmassiv der Hachelwand auf, zur Linken ragten der Kleine Watzmann und der Zackengrat der Watzmann-Kinder in den Aether.

Köderbacher äusserte später, dass wir zu dreien, d. h. mit Hilfe eines zweiten Führers, die schwierige Stelle überwunden haben würden. Ich glaube jedoch, dass ein Angriff nur dann von Erfolg gewesen wäre, wenn wir eine Leiter oder eine lange Stange bei uns gehabt hätten.

Die Rückfahrt über den See und die milde Herbstsonne, die alle Dinge in vergeistigenden Glanz einhüllte und die Wände des Felsenthals mit goldenen Flecken zierte, liessen mich meinen damaligen Misserfolg leichter verschmerzen.

Am 12. Juni 1885 fand ich mich wieder mit derselben Absicht in Berchtesgaden ein. Dieses Mal lag in den Schluchten des Watzmanns noch ziemlich viel Winterschnee und ich durfte daher eher hoffen meinen Zweck zu erreichen. Je früher im Jahr die Ersteigung versucht wird, mit um so mehr Wahrscheinlichkeit kann auf Erfolg gerechnet werden. Doch hat man zu warten, bis ein Theil der Schneemassen abgeschmolzen ist, da im Frühjahr in den Schluchten des Watzmanns Lawinenstürze und Steinschläge zu den täglichen Erscheinungen gehören.

Auf dieser Fahrt war mein Begleiter Preiss (Johann Punz) von Ramsau, der mit Köderbacher zu den tüchtigsten und empfehlenswerthesten Führern der Deutschen und Oesterreichischen Alpen gehört.

Wir verliessen 11 U. 30 Nachts Berchtesgaden und langten dann nach einstündiger Fahrt über den See bei Anbruch des Tages (3 U. 15) bei der Eiskapelle an. Der Felsabsturz, der das erste Mal wegen der Randkluft mühsam umgangen werden musste, lag jetzt bis zur Hälfte im Schnee vergraben. Er wurde ohne Zeitverlust und ohne besondere Anstrengung erklettert. Eine rechts hinanziehende mit einigen Grasbüscheln bewachsene Rinne vermittelte, wenn auch sehr schwierig, die Gewinnung des nächsten Absatzes. Auf einem Schneefeld, dem ersten in der grossen Rinne, hielten wir eine kurze Rast (4 U. 55 bis 5 U. 10), um dann die hohe Wandstufe anzugehen, wo ich und Köderbacher bei unserem ersten Versuch zurückgeschlagen worden waren. Der Schnee reichte bis ¾ m an die Wand heran, aber der richtige Ausweg war nicht so bald zu entdecken. Während Preiss die Stelle noch einmal „ausprobiren“ wollte, an welcher Köderbacher seine Kraft eingesetzt hatte, stieg ich etwas zurück, um einen kleinen Einriss zu untersuchen, der sich direct an der Felswölbung hinaufzog. Auch Preiss, der unverrichteter Dinge zurückkam, meinte, dass hier die einzige Möglichkeit vorliege, emporzudringen. Die zwischen dem Schnee und der Felswand gähnende tiefe Spalte machte die Lage des Kletterers, der sich fast nur auf die Fingerspitzen verlassen konnte, zu einer gefährlichen. Der Dachsteinkalk, aus dem das Gebirge seiner Hauptmasse nach besteht, zeigt hier seine schlimmsten, abgeschliffenen Plattentafeln, und bietet ungeachtet seiner Festigkeit der Ersteigung viel grössere Schwierigkeiten dar, als der leichter verwitternde Wettersteinkalk, wie er in den westlichen Kalkketten, z. B. im Karwendel- und Wetterstein-Gebirge, auftritt.

Preiss stieg voran, aber schon nach wenigen Schritten traf er auf sehr glatte, jedes Vorsprungs bare Platten. Er erklärte, dass es ihm unmöglich sei mit den Schuhen weiterzuklettern. Da er die Hände nicht frei hatte, so entledigte ich ihn seiner Schuhbekleidung, die indessen in meinem Rucksack verwahrt wurde. Mit dem Bergstock konnte ich Preiss ein wenig unterstützen. Langsam, mit grosser Anstrengung und oft lange vergeblich nach Griffen tastend, schob er sich empor. Es waren aufregende Augenblicke, wie ich dergleichen im Gebirge selten erlebt habe. Als es ihm endlich geglückt war, einen sicheren Stand zu erreichen und Sack, Stock und Pickel aufgeseilt worden waren, folgte ich an einem Strick gehalten nach. Die Gesammthöhe der Wand dürfte ca. 15 m betragen. Es folgte nun eine Partie steiler, doch nicht schwieriger Platten und hierauf ein Felsband, welches zu einem kleinen Schneefeld führte. Hier hielten wir eine kurze Rast (6 U. 40 bis 6 U. 55).

Die gerade über uns aufragende Wand zeigte sich zwar, als wir sie in Angriff nahmen, sehr ausgewaschen und glatt, jedoch nicht sehr steil. Ein schmales Felsband, das uns aus dem Couloir lockte, endete an einem thurmhohen Absturz. Wir mussten, nachdem wir 20 Minuten auf vergebliches Recognosciren verwendet hatten, wieder auf die alte Stelle zurück und unser Heil neuerdings in der Rinne versuchen. Ein dritter sehr steiler Absatz konnte Dank der hoch anliegenden Schneemasse ziemlich leicht erklettert werden; in späterer Jahreszeit dürfte dies, wenn überhaupt, nur unter grossen Schwierigkeiten gelingen. Einem Schichtenhand zur Rechten vertrauend, liessen wir uns über eine durchnässte Platte hinab und querten (8 U. 8) ohne besondere Schwierigkeit die Hauptrinne.

Nach einem erfolglosen Angriff in linksseitiger Richtung das anfänglich breite Band endigte an einer tief eingerissenen Schlucht — nahmen wir den Weg gerade aufwärts, indem wir einen Felssporn ins Auge fassten, der wenn einmal erreicht, einen besseren Ausweg versprach. Zunächst war es aber nöthig, wieder in die grosse Rinne zurückzusteigen. Eine Wandstufe in derselben erwies sich so steil und glatt, dass wir uns zum zweiten Mal der Schuhe entledigen mussten. Ich hätte an dieser Stelle, die eine Höhe von ca. 10 m haben dürfte, beinahe einen schlimmen Fall gethan. Während ich, an einen Vorsprung gelehnt, die Bewegungen des über mir kletternden Preiss verfolgte, gab der Fels unter meinen Füssen plötzlich nach. Ich sank einen halben Meter tief, konnte aber gleich wieder Halt gewinnen. Während des Fallens ergriff ich mit der linken Hand, mehr instinctiv als überlegt, das herabhängende Seil, das Preiss sich um den Leib gebunden hatte.

Jeder andere Führer hätte mir wegen dieser Unvorsichtigkeit – denn der Ruck traf denselben völlig unerwartet – eine Rüge ertheilt. Preiss aber lächelte nur, wie er dies häufig thut, ohne ein Wort zu sagen.

Wir hielten eine zweite Frühstückrast (9 U. 55 bis 10 U. 5) und füllten unsere Flaschen mit Wasser. Im Begriff aufzubrechen, vernahmen wir plötzlich hoch über uns das Krachen fallender Steine. In Intervallen von 6 bis 8 Secunden, aber mit furchtbarem Getös näherten sie sich uns, aber nur einzelne Trümmer gelangten in unsere Nähe und sausten unschädlich an unseren Köpfen vorüber. Gleich beim ersten Geräusch drückten wir uns an die Felswand, dennoch war unsere Lage eine sehr gefährdete. Die Steine waren unzweifelhaft von Gemsen in Bewegung gesetzt worden, die auf dem Grat ihren Morgenspaziergang ausführten.

Trotz unseres unausgesetzten Anstürmens hatten wir noch keine dominirende Höhe erreicht. Der Kleine Watzmann, die Watzmann-Kinder und die Hachelwand ragten noch hoch über uns empor. Aber die Felsklippen zeigten sich allmälig weniger steil und im selben Maass besserte sich auch ihre Gangbarkeit. Die Seitenwände der Rinne wichen zurück und verflachten sich nach oben mehr und mehr. Wir kletterten ohne besondere Hindernisse auf dem erreichten Felssporn aufwärts. Die südliche Watzmannspitze, zweifellos der schönste Bau im ganzen Massiv, enthüllte uns ihren mächtig ausgreifenden mit blinkenden Schneebändem gezierten Südostgrat; aber auch die anderen Erhebungen des Watzmanngrats, thurmförmige, ruinenhafte und schuttbedeckte Felsgestalten tauchten stolz empor in den klaren Aether. Unmittelbar vor uns breitete sich die vorher erwähnte breite Mulde aus, von welcher eine steile, schräg eingeschnittene Rinne auf die Kammhöhe  (zwischen der mittleren und südlichen Spitze) hinanzog. Ich wandte mich der südlichen Spitze (Schönfeldspitze) zu, da es meine Absicht war, heute alle drei Watzmanngipfel zu ersteigen.

Unsere Richtung war von nun an eine südwestliche. Preiss wollte eben einen steilen Felsabsatz erklettern, als ich unterhalb desselben ein Band bemerkte, dessen Verfolgung einen besseren Weg zu bieten versprach. Dasselbe endete am Rand einer tief eingerissenen, glattgescheuerten, wilden Schlucht, deren rechte (südliche) Seite vom Südostgrat der Schönfeldspitze flankirt wurde.

Der diesseitige Hang der Schlucht war jedoch ohne besondere Schwierigkeiten zu begehen. Das Klettern gestaltete sich von nun an zu einer bloss unterhaltenden, wenig anstrengenden Arbeit: rasch, in einem förmlichen Wetteifer stiegen wir vorwärts. Schon tauchten dort die starren Klippen des Steinernen Meeres auf, das blinkende Firnfeld der Uebergossenen Alpe und der Hohe Göll; es wehte die kräftige und schärfere Luft der Höhe. Die beengenden Felsmauem wichen fast plötzlich zurück und der Blick fand keine Schranke mehr. Je enger und drückender unser Gesichtskreis gewesen, desto mehr überraschte uns jetzt der weite unermessliche Raum. Gleich darauf setzten wir den Fuss auf die südliche Watzmannspitze. Die letzten 50 Schritte hatten wir auf der Südseite des Gipfels zurückgelegt. Es war 1 U. Nachmittags. Die Ersteigung beanspruchte daher von St. Bartholomä, inclusive einiger kurzen Rasten, 11 Stunden.

Das Endziel unserer Partie war jedoch die mittlere Spitze des Watzmanns. Im Vergleich mit der hinter uns hegenden Kletterei erschien uns der Weg zu derselben wie ein Spaziergang. Wir blieben so nahe als möglich auf der Höhe des Grats, anfänglich auf der Süd-, später auf dessen Nordseite. Es war 3 U. 15, als wir den culminirenden Punkt des ganzen Watzmannstocks betraten.

Unsere stark angespannten Kräfte beanspruchten eine längere Rast. Der ursprüngliche Gedanke, von der mittleren. Spitze direct in das Wimbachthal abzusteigen, musste mit Rücksicht auf die späte Stunde, und da ein Freilager in den Felsen unser Project für den nächsten Tag gestört hätte, aufgegeben werden.

Der directe Abstieg von der mittleren Watzmannspitze in das Wimbachthal wurde das erste Mal 1869 von Baron v. Jeetze, Karl Hofmann aus München und Joh. Stüdl aus Prag ausgeführt. Seitdem wurde diese Tour mehrmals und vor einigen Jahren auch in umgekehrter Richtung unternommen. Die Abstürze des Watzmanns gegen das Wimbachthal zeigen in der Nähe betrachtet nicht jene ausserordentliche Neigung, die ihnen auf den ersten Anblick von unten aus eigen zu sein scheint, und die Erkletterung derselben wird geübteren Bergsteigern keine übermässige Schwierigkeit verursachen.

Der krystallklare, glanzvolle Tag und die vorzügliche durch Nichts getrübte Rundschau liess die Zeit unseres Aufenthalts rasch verfliessen. Erst nach 5 U. machten wir uns auf den Rückweg, der über das Hocheck und die Guglalpe in die Ramsau ausgeführt wurde.

Der herannahende Abend warf bereits seine dunklen, tiefvioletten Schatten in die waldernste, maienfrische Gegend hinein und die Menschen, des Tagwerks müde, waren schon in ihre Hütten zurückgekehrt. Aber hoch oben an den altersgrauen Wänden König Watzmanns glühte und funkelte es in unbeschreiblichem, geheimnissvollem, rosafarbigem Lichtglanz. Wiederholt und noch 20 Minuten nach 9 Uhr trat ich mit meinem treuen Begleiter Preiss vor die Hausthür, um ein Schauspiel zu gemessen, welches Auge, Herz und Gemüth in gleicher Weise erfreute.

 

 

Gipfelgeschichten

Kurz zusammengefasst einige Rahmeninformationen zu Besteigungen der Gipfeln des Watzmannmassivs.

Großer Watzmann – 2713 Meter

Gipfel

Erstmals bestiegen wurde der grosse Watzmann, dessen Mittelspitzeam 28.07.1880 Valentin Stanig.

Bereits vorher herrschte reger Betrieb am Hocheck, welches als Wallfahrtsort fungierte.

Die Südspitze des Watzmanns wurde erstmalig 1832 durch Peter Carl Thurwieser über die Südflanke, d.h. aus dem Wimbachtal, erklommen.

Überschreitung

Die erste Überschreitung aller drei Gipfel von Norden nach Süden gelang im Jahre 1868 den Bergführern Johann Grill, Kederbacher, Johann Punz, Preissei, und Albert Kaindl.

Eine Überschreitung von Süden nach Norden führten im Jahre 1873 Johann Punz, Preissei, und Josef Pöschl durch.

Ostwand

Die Ostwand des Watzmann, auch Bartholomäwand genannt, wurde erstmalig durch den Bergführer Johann Grill gemeinsam mit dem Wiener Alpinisten Otto Schück am 06.06.1881 bezwungen.

Am 23.05.1920 erstiegen Hermann Lapuch und Kaspar Wieder die Ostwand der Mittelspitze vom Watzmanngletscher aus.

Kleiner Watzmann – 2307 Meter

Die Erstbesteigung des kleinen Watzmanns zu datieren gestaltet sich schwierig.

Durch einen Fahrtenbericht belegt ist dessen Besteigung am 27.08.1863 durch den Bergführer Johann Grafl und Franz von Schilcher.

Mündlichen Überlieferungen nach, die in zeitgenössischer Literatur aufgeführt sind, datieren die erste Besteigung auf das Jahr 1852 durchgeführt durch die Bergführer Johann Grill, Kederbacher, und Johann Punz, Preissei.

Eine weitere Seilschaft bestehend aus Johann Graßl, Josef Graßl, Rupert Holzeis und Michael Walch soll im Jahre 1861 erfolgreich gewesen sein.

Watzmannkinder

Im Wohnzimmer der Watzmanns, dem Watzmannkar, finden sich die fünf Kinder von grossem und kleinem Watzmann.

Von Ost nach West nummeriert sind dies

Erstes Kind – 2247 Meter

Ludwig Purtscheller, bereits Erstbesteiger der Jungfrau, erklomm am 24.06.1891 als Erster das erste Kind über dessen Nordflanke.

Zweites Kind – 2230 Meter

Nachdem Ludwig Purtscheller schon zwei Erstbesteigungen der Kinder zu verzeichnen hatte gelang ihm am 29.06.1892 die Erstbesteigung des zweiten Kindes über die Südflanke.

Drittes Kind – 2165 Meter

Das dritte Kind der Familie ist kein Ersteigungs- sondern ein Ergehungsgipfel. Auch wenn die Neigung von ca. 40 Grad ordentliches Reibungsgehen erfordert stellt es keine alpinistische Herausforderung dar. Es ist davon auszugehen, dass eine Begehung im frühesten Stadium der Erschliessung des Watzmannkars erfolgt ist. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist eine Reise von Franz von Paula Schrank in die Region im Jahre 1784. Von Paula Schrank berichtet über die Geologie, Botanik und Zoologie der Region.

Viertes Kind, auch Jungfrau genannt – 2270 Meter

Am 07.06.1891 erfolgte die Erstbesteigung der Jungfrau durch Ludwig Purtscheller, Heinrich Hess und Adolf Holzhausen über deren Ostflanke.

Fünftes Kind – 2225 Meter

Der Ruhm der Erstbesteigung des fünften Kindes im Jahre 1895 gebührt Guido Lammer und dessen Frau Paula.