REDAPA @ Watzmann – Auf der Spur der Rampe unter der gelben Wand (1/5)

REDAPA stellt eine Art der geschichtlichen Forschung dar, welche im Rahmen eines anderen Projektes entwickelt worden ist.

Nachdem der Entschluss gefallen ist, Routen und Führen am Watzmannstock zu inventarisieren und darzustellen lag es nahe REDAPA anzuwenden.

Die Recherche und Erschliessung möglicher Quellen erfolgt dabei auf Basis vorhandener Sekundärliteratur.

Auf den Watzmannstock bezogen waren dies

  • Helmut Schöner – 2000 Meter Fels, Ausgaben 1981 und 2014
  • Franz Rasp – Watzmann Ostwand Führer, Ausgaben 1981 und 2013
  • Max Zeller/Helmut Schöner – Alpenvereinsführer Berchtesgadener Alpen, Ausgabe 1986

Mein Interesse an der Rampe unter der gelben Wand wurde durch die entsprechende Passage im Ostwandführer des Jahres 2013 geweckt.

Hier wurde als Variante des Berchtesgadener Weges eben diese Rampe unter der gelben Wand, Schlebrügge-Rampe, und auch der sogenannte „Polenweg“ erwähnt.

Rasp, Watzmann-Ostwand, Bergverlag Rother Gebietsführer, München, 2013, Seite 70

Was hatte es denn nun mit diesen, mir bisher unbekannten, Wegen auf sich und wie stellte sich deren Geschichte und Führe dar ?

Die beste Möglichkeit der weiterführenden Recherche bot sich hier durch Nutzung des Onlineangebots der Alpinbücherei Innsbruck.

Online OPAC

Mit den entsprechenden Suchergebnissen erhält man folgend dann Zugang zu weiterführenden Quellen und kann diese entsprechend auswerten.

Erste Ergebnisse der Recherche
  • Informationen zur polnischen Expedition des Jahres 1973
  • Tourbericht von Georg von Kaufmann und Beda Hafen
  • Neutourinformation über eine Begehung durch Hans von Schlebrügge und Usch Himminghoffer
Österreichische Alpenzeitung, 1954
  • Tourbericht von Paul Bernett und Hans von Schlebrügge
  • Leserbrief von Max Gruber
  • Leserbrief von Hans von Schlebrügge
Zwischenfazit

Die ÖAZ Meldung trägt nicht zur Feststellung der Priorität für die Begehung der Rampe unter der gelben Wand bei.

 

 

Lothar Patera – Gratwanderung von Ost nach West

Der Schüler Ludwig Purtschellers bevorzugte Grat- und Kammwanderungen sowie die Kombination von vielen Gipfeln. Im September 1895 gelang ihm eine bemerkenswerte Tour am kleinen Watzmann und den beiden folgenden Watzmannkindern.

ÖAZ, 1899, S. 157

Berchtesgadener Alpen

Kleiner Watzmann (2304m) mit Abstieg zur Labelscharte, Watzmannkinder (Punkt 2244 Alpenvereinskarte, I. Gratübergang zu Punkt 2230, II. Erst., P. 2165).

1. September 1895.

Ich verliess Zill hei Hallein 5h früh, kam 6h 30m nach Berchtesgaden, 7h 45m nach Ilsank und stieg von dort auf angenehmen Waldwegen zur Schappbachalm hinan (9h-9h 45m). Eine Zeitlang benützte ich noch einen kleinen Fahrweg, dann wandte ich mich direct durch Wald dem Kederbichel zu und erreichte über die Gratschneide fortkletternd ohne besondere Schwierigkeiten die Spitze des Kleinen Watzmannes (1h -2h). Indem ich mich anfangs etwas links (südöstlich) hielt, kletterte ich über die verwitterten Schrofen der steilen Südwand und durch jähe, mit losem Schutt gefüllte Rinnen hinab und traversierte weiter unten nach rechts zur Labelscharte (3h 3om – 4h), die inmitten einer grandiosen Felsscenerie gelegen ist. Ueber hohe Felsabsätze und Risse erklomm ich nun das östlichste Watzmannkind (Punkt 2244), ohne hiebei ein Drahtseil, das dort für die Treiber befestigt sein soll, anzutreffen (4h 30m). Der Anblick der schroffen Spitzen und Felswände des Watzmannes, der anderen Gebirgsstöcke ringsum, sowie insbesondere des tief unten liegenden, grünlich schimmernden Königssees ist wahrhaft erhaben und einzig. Da ich Lust hatte, noch einige Gipfel zu ersteigen, so versuchte ich den noch nicht ausgeführten, fast unmöglich scheinenden Abstieg über die jäh abstürzende Westwand zu forcieren. Ein schmaler Kamin, der sich unterhalb verflachte, nahm mich auf, nach dessen Bezwingung Risse und kleine Vorsprünge mit mehr als dürftigen Griffen den zwar kurzen, aber hervorragend exponierten Abstieg zur Scharte zwischen den beiden „Kindern“ 2244 und 2230 vermittelten. Von der Gletschermulde aus dürfte man wohl schwerlich direct hieher gelangen können. Auf den Punkt 2230 geht es von hier bequem über Geröll und Felsrippen (5h-5h 15m). Nach Westen bricht auch dieses „Kind“ in wilden Wänden ab, und nur eine Gratschneide ermöglicht das Hinabkommen, wobei es an pikanten Stellen nicht fehlt. So ist z. B. eine im Grate liegende, schräg abgedachte Platte nicht anders als durch „Hangeln“ zu überwinden, indem man mit den Händen den südlich über den Abgrund hinausragenden Rand erfasst und, die Füsse auf der anderen Seite in die Luft baumeln lassend, sich fortschiebt. Von der Scharte bestieg ich noch den unschwierigen Punkt 2165 (5h 45m-6h), stieg dann über die Schappbachalm nach Ramsau (9h) hinunter und marschierte noch bis zum Hintersee (10h), wo ich bei der Sedanfeier bis 1h tanzte und nach kurzer Rast zur Besteigung der Grundübelhörner aufbrach.

Rose Friedmann – Eine Frau gewinnt die Ostwand

ÖAZ, 1896, S. 218

Tourenberichte

Salzburger und Berchtesgadener Alpen

Watzmann von der Eiskapelle (Südostwand).

Frau Rose Friedmann aus Wien (als erste Dame), Herr Ingenieur Wilhelm Teufel aus München und meine Wenigkeit haben diese Tour am 3., 4. und 5. August ausgeführt. Mit Rücksicht auf die ungewöhnliche Länge der Tour ging unsere Absicht dahin, durch ein Bivouac im ersten Drittel der Wand, d. h. auf der breiten Terrasse unterhalb der schwierigsten Stelle, die Leistung auf zwei Tage zu vertheilen. Ein Träger, den wir ans Berchtesgaden mitnahmen, sollte Pelzdecken und sonstige Bivouacausrüstung zur Terrasse schaffen und von dort wieder zurückbringen. Gleich im Anfange unseres Aufstieges von der Eiskapelle, am Abende des 3. August, erwies sich jedoch zu unserem nicht geringen Missvergnügen der Träger als unfähig, die in den unteren Partien der Wand noch unschwierigen Felsen ohne Seilhilfe zu erklettern, und es war sofort klar, dass der Mann am nächsten Morgen bis auf den Schnee hinab begleitet werden musste. Dieser Umstand bewog uns, viel tiefer als geplant, nämlich schon ½ St. oberhalb der Eiskapelle unser Freilager zu beziehen. Während der Nacht vom 3. auf den 4. August trat wiederholt Regen ein. Am frühen Morgen des 4. August jedoch hatten sich die Wolken wieder verzogen, und das Wetter blieb bis gegen Abend gut. Um 4h 30m früh geleitete ich unseren ängstlichen und unsicheren Träger bis zur Eiskapelle hinab; bald nach 5 h brachen wir auf. Nach etwa 3 St. war die grosse Terrasse erklettert. Die reichen Massen von Lawinenschnee, die am Fusse einer vorn Mittelgipfel herabziehenden Rinne lagen, waren durch breite, unüberschreitbare Randklüfte von den Felsen getrennt; nur an einer Stelle füllten eingestürzte Firnschollen die tiefe Kluft und bildeten eine groteske, leidlich sichere Brücke. Es folgte sofort die schwierigste Stelle des ganzen Anstieges, eine circa 20 Meter hohe, plattige Wand, die nur mit Kletterschuhen zu bewältigen ist. Das Gepäck muss an dieser Stelle aufgeseilt werden.

Ein breites Band führt nach links in die grosse Rinne; nunmehr hält sich der Weg an diese selbst, sie ist überall durch Lawinen und rinnendes Wasser glatt gescheuert und ausgewaschen. An ihrem oberen Ende öffnet sich nach: links ein Ausweg auf ein breites, ziemlich steil nach Süden ansteigendes Band, welches fast in seiner ganzen Breite an einem Absturze quer abgeschnitten ist. Der so gebildete vorspringende Erker ist wie geschaffen zum Rastplatze. Das Gestein ist mit Graspolstern überzogen, in nächster Nähe findet sich Wasser; der Blick hinab auf das idyllische Bartholomä und ein kleines Stück Königssee mit den langsam dahinziehenden Kähnen ist reizend schön. Fortwährend rollte das Echo der auf dem See abgegebenen Pistolenschüsse durch die Wände rings um uns.

Die schmale Fortsetzung des abgebrochenen Bandes wurde weiter nach Süden verfolgt bis zu einem zweiten Abbruche, über dem um eine Ecke herum eine schwierige Traversirstelle zu passiren ist. Wiederum wird das Band etwas breiter, wir verfolgten es noch eine Strecke von circa 10 Metern und stiegen dann in gerader Richtung durch theilweise mit Schnee erfüllte Rinnen gegen den Grat zwischen Südspitze und Mittelgipfel auf. Die Schwierigkeiten verringern sieh hier bedeutend, doch sind die Felsen immer noch glatt und Kletterschuhe, wenngleich entbehrlich, doch angenehm. Zwischen den beiden Gipfeln schneidet eine Scharte tief in den Grat ein; dieser steuerten wir zu. So nahe sie schien, vergingen doch Stunden, bis wir sie erreichten. Ein Gewitter, das um 5 h von Südwest über den Watzmann herüberzog, brachte uns für kurze Zeit Regen, ohne uns jedoch zu einer Unterbrechung der Kletterei zu zwingen. Es war 7 h vorbei, als wir endlich etwas nördlich der erwähnten Scharte auf den Grat gelangten. Da wurden wir eines zweiten Gewitters ansichtig, das vom Hochkalter gegen uns heranflog. Eilends folgten wir dem schwach ausgeprägten Felsensteige, der, zweimal absteigend und zweimal wieder die Höhe des Grates erklimmend, von der Scharte zum Mittelgipfel führt. War auch die Zeit schon sehr vorgerückt, so hofften wir doch an diesem Tage das Watzmannhaus noch zu erreichen, sei es auch erst bei Nacht. Heftiger Regen durchnässte uns in kurzer Zeit, und das bekannte, fatale Summen der Pickel wurde hörbar. Ich streckte einmal zufällig den Zeigefinger aus, uns auf den Mittelgipfel zu deuten, und siehe da, auch mein Finger liess das unheimliche Sausen vernehmen. Rasch entschlossen legten wir die Pickel ab und eilten weitet. Blendend hell fuhren die Blitze durch den verfinsterten Abendhimmel; von krachendem Donner begleitet. Mit einem Male verbreitete sich um uns eine blendende Helle: eine elektrische Feuerkugel lief dicht bei uns über die Felsen, kein Donner folgte der gespenstischen Lichterscheinung. Die Gefahr, vom Blitz erschlagen zu werden, trat zu den übrigen Schrecken, mit denen die Natur uns verfolgte. Da blieb nichts Anderes übrig, als mit grösster Beschleunigung eine Felsenhöhle aufzusuchen. Erst um 10h nachts verzog sich das Gewitter. Bei der vollständigen Finsterniss, die nunmehr herrschte, war an ein Weitergehen nicht zu denken. Nach sieben langen Stunden kam endlich der Tag zurück. Am 5. August holte ich im ersten Morgengrauen die abgelegten Pickel, um 5h früh standen wir bei klarem Wetter auf der Mittelspitze des Watzmanns. Eben erglänzten die Eisberge der Hohen Tauern im Morgenroth. Um 6 h 30m früh trafen wir auf dem Watzmannhause ein, von Kederbacher begrüsst, der uns in herzlichen Worten zum Gelingen unseres Aufstieges gratulirte und insbesondere Frau Friedmann freundlich beglückwünschte.

A. v. Krafft

Hans Feichtner – Spuren am Watzmann

Die Österreichische Alpenzeitung berichtet über zwei Touren von Hans Feichtner am Watzmannstock aus dem Jahre 1919.

Von Hans Feichtner (+) wurden 1919 noch folgende neue Turen (allein) ausgeführt:

Watzmannjungfrau. Südwestkante. Erste Ersteigung, am 5. August 1919.

Vom schneeigen Sattel östlich des Westlichen Kindes schwach rechts über steile, schrofige Felsen knapp an der Südwestkante schwer hinauf auf ein schmales Band. Auf ihm rechts zur Kante. Nun dicht an der Kante, einmal südlich knapp rechts von ihr durch einen Riß, dann wieder an der Kante vollends zum Gipfel. (100 Meter, ½ bis 1 Stunde.)

Kleiner Watzmann. Südwestgrat. Erster Aufstieg, vermutlich am 5. August 1919.

Aus der Watzmannscharte, immer der Gratkante folgend, bis zum überhangenden Abbruch. a) Derselbe wird schwach rechts der Kante durch einen Riß sehr schwer und anstrengend überwunden. Oder b) knapp links der Kante durch einen links schräg aufwärts führenden Riß sehr schwer und anstrengend hinaus. Nun wieder an der Kante weiter bis zum plattigen Gipfelabbruch. Unter diesem kurzer Quergang nach links und über eine plattige, rinnenartige  Verschneidung zum südlichen Vorgipfel und über den Grat zum Hauptgipfel.

Georg von Kaufmann und Beda Hafen – Über die Rampe unter der gelben Wand zum Gipfel

WATZMANN-OSTWAND

Ein schöner Durchstieg südlich der Gipfelschlucht

Von Georg von Kaufmann

Es gibt viele Bergsteiger, die mit Klettergelüsten einer vergangenen Entwicklungsperiode der Klettertechnik anhängen, einer Zeit, die den Felshaken als selten gebrauchtes Sicherungs- und Rückzugsmittel betrachtete und die noch keine akrobatischen Fähigkeiten zur Bezwingung von Felswänden verlangte. Diese Kletterfreunde müssen mit Bedauern feststellen, daß alle Fahrtenberichte über Neutouren in Stellen des fünften und sechsten Schwierigkeitsgrads schwelgen, und daß die Kletterfahrten alten Stils, die sich mit den Schwierigkeitsgraden III und IV bescheiden, fast keinen Zuwachs erfahren. Zumindest werden solche Fahrten nicht mehr der Veröffentlichung für wert befunden; denn Pioniere in scheinbar unbekannten Wandteilen finden sich immer wieder, und es gibt kaum eine Felsritze, die nicht schon auf Brauchbarkeit zum Klettern untersucht worden wäre. Das gilt auch von den Wänden und Türmen der Watzmann-Ostwand. Besonders ihr südlicher Teil hat es mir seit Jahren angetan mit dem gewaltigen Südostgrat, der sich links der Gipfelschlucht zur Höhe türmt. Das viele Herumsteigen und Suchen in dieser Wandgegend, das, Berichten im „Bergsteiger“ (September und November 1951) nach, noch mehrere Leute beschäftigt hat, ließ sich schließlich zu einem Durchstieg großzügiger Art und direkter Linienführung verbinden. Aus dem Bild auf Seite343 läßt sich die Route unschwer erkennen. Die Führe wird alle Liebhaber großzügiger Kletterfahrten voll befriedigen, denn sie verbindet wahren Klettergenuß in großartiger, ernster Felslandschaft (Schwierigkeit nicht über IV) mit einzig schönen Ausblicken. Allerdings hat die Fahrt drei Nachteile, die nicht verschwiegen werden sollen: Das Gestein ist, namentlich an den leichteren Stellen, brüchig und oft schuttbedeckt, die Kletterei ist sehr lang — zehn bis zwölf Stunden von der Eiskapelle — und der Ausstieg ist nicht am Gipfel der Südspitze, sondern etwa 30 Minuten unterhalb am Schönfeldgrat. Andererseits ist der Weg leicht zu finden, und man hat immer wieder Gelegenheit, auf leichtere Wege hinüberzuqueren.

Die herrlichen Herbsttage des Septembers 1951, die manche Entschädigung für den verregneten Sommer brachten, gaben Freund Beda Hafen und mir Gelegenheit, den Durchstieg erstmalig zusammenhängend auszuführen. Wir sind erst mit dem Vormittagsschiff nach Bartholomä gefahren und haben somit von vorneherein bei dem sicheren, warmen Herbstwetter ein Biwak im mittleren Teil der Wand ins Auge gefaßt. Die Kletterausrüstung bestand nach alter Väter Sitte in 30 Meter Seil und einigen wenigen Haken, von denen wir nur zweimal zu Sicherungszwecken Gebrauch machten. Der Weg zur Eiskapelle, von dem noch Noe in seinen Alpenbeschreibungen schwärmt, sieht aus wie ein Volksfestplatz nach dem Schlußtag. Die Massenwanderungen der Autobusbesucher am Königssee haben ihre argen Spuren hinterlassen. Die Butterbrotpapiere und Zigarettenschachteln lassen sich bis hoch auf den Eiskegel hinauf verfolgen. Dann beginnt auf einmal die Einsamkeit und das Wegsuchen. Im neuen Zeller-Führer ist der „Berchtesgadener Weg“, den wir verfolgen wollen, fälschlich in der Falllinie des großen Südostkars eingezeichnet. Man tut besser daran, das Steiglein links des Eises zu verfolgen, das, mehr oder weniger ausgetreten, ohne Steinfallgefahr, in mehreren Schleifen nach Süden ausbuchtend, das Kar erst oberhalb der Abbrüche erreicht. Wir stellen auf Grund der jährlich steigenden Benutzung dieses Steiges fest, daß der Berchtesgadener Weg immer mehr begangen wird. Die Aussprache hierüber bringt uns auf das naheliegende Thema „Biwakschachtel in der Ostwand“: Wir empfinden diese feste Unterkunft als eine Profanierung. Was der Wand in unserer heutigen klettertüchtigen Zeit allein noch den Nimbus wahrt, ist die Weite des Weges, die Verlassenheit am Gipfel. Das Wagnis — ob die Zeit reicht für den Durchstieg, ob die Kräfte langen, ob das Wetter hält — ist an der Wand das Große, Abenteuerliche. Ein Glück, daß das Schachtelungetüm am Südgrat oben aufgestellt und damit die eigentliche Wand vor einem Familienhotel bewahrt wurde.

Unter solcherlei ketzerischen Reden — wir sind beide „Bayerländer“ — haben wir den Fuß der Südostwand erreicht. Bald zweigt der „Münchner Weg“ nach rechts ab, später auch der „Berchtesgadener Weg“, während wir die alte Richtung zum obersten Karwinkel beibehalten. Hier scheint die Kletterwelt zu Ende, und man ist baß erstaunt, daß man im obersten Winkel nach rechts eine verhältnismäßig leichte Möglichkeit des Weiterkommens findet. Der Tourenbericht im „Bergsteiger“, September 1951, Chronik, Seite 103*, enthebt mich einer genauen Wegbeschreibung. Vielleicht darf hinzuge-ügt werden, daß man den obersten Karwinkel auf einem Band von links nach rechts gewinnt, dann aber nicht zur gelben Wand weiter vordringt, sondern über den Vorbau nach rechts in Plattenrinnen und über Steilschrofen an Höhe gewinnt. Die Verschneidung der gelben Wand mit dem Vorbau erreicht man erst bei der untersten auffallenden Höhle, und es empfiehlt sich, sie hier wie weiter oben immer wieder nach rechts zu verlassen. Jedenfalls hat man ein Gefühl der Befreiung, wenn man der gelben Wand und der Verschneidung entronnen ist. Man steht dann auf einmal in friedlichem Schuttgelände am Ende eines riesigen Bandes, das sich leicht begehbar nach Norden zur Gipfelschlucht absenkt. Etwas links über sich erblickt man den Beginn des gewaltigen Felsgrates, über den die Route weitergeht. Wir entdeckten wenige Meter über unserem Ausstieg einen verlockenden, steilen Kamin, der senkrecht zum nächsten Band hinaufleitet, und hielten es für nicht schwierig, über dieses Band den Grat zu erreichen; aber wir hatten berechtigte Bedenken, ob sich da oben im Steilgelände ein würdiger Biwakplatz finden ließ. Das Biwak in der warmen Herbstnacht hatten wir uns schon in den schönsten Farben und Stimmungen ausgemalt, und wir hatten vor, es feierlich zu begehen und auszukosten. Das beglückende Erlebnis der Kriegsnächte unter dem Sternenhimmel des Balkans, Kretas oder Italiens — eine der wenigen schönen Erinnerungen an die heimatfernen Kampfzeiten — sollte wieder Auferstehung feiern. So wählten wir mit Vorbedacht eine geräumige, weit offene Höhlung etwas unter unserem Standplatz mit entzückendem Tiefblick auf den Königssee als Schlafgemach. Es zeigte sich zwar in den folgenden Stunden, daß die überschwengliche Erinnerung an selige Sternennächte die Härte der steinigen Unterlage und einen gewissenTemperaturrückgang gegen die Morgenstunden weitgehend außer acht gelassen hatte, aber wir konnten doch nach dem Aufstehen in der Morgendämmerung, alles zu-sammengenommen, von einem genuß- und eindrucksvollen Erleben sprechen. Der vorerwähnte Kamin, dessen Durchsteigung den neuen Klettertag eröffnete, zeigte sich als nicht ganz einfach. Er dürfte die schwerste Stelle der ganzen Tour bedeuten. Allerdings blieb uns beim Aufseilen der Rucksäcke das Seil stecken, und es ist ja bekannt, daß derlei unangenehme Zwischenfälle nicht nur zu einer falschen Einwertung, sondern sogar zu einer Verbitterung gegen gewisse Kletterstellen führen können. Genau umgekehrt verhielt sich dann der Grat. Er beeindruckte uns mit schauerlichen Abstürzen und Türmen bis zum Verzagen und zeigte dann Immer wieder lächelnd ein Falte in seinem vielgliederigen Aufbau, in dem ein leichtes Fortkommen möglich war. Zum größten Teil liegen diese Möglichkeiten links des Grates (südlich). Nur einmal muß die Gratkante selbst über einen schwierigen Zacken erstiegen werden. Nach längerem Emporturnen voll freudiger Überraschungen und schönster Ausblicke geht der Grat zu Ende, das heißt er geht über in eine sehr steile, abweisende Wand, Als wir vor Jahren zum erstenmal an dieser Stelle standen, hat mich der ganze Ernst der Ostwand erfaßt: Die unterste Wandstufe war durchsetzt von rostigen Haken; gerissene Seilschlingen und ausgewaschene, gefranste Seilenden hingen über den schwarzen Fels. In dem steilen Gratgelände unter der Wand waren mühsam kleine Steinmauern errichtet worden, mehr ein Werk der Verzweiflung als des Schutzes. Ob sich hier eine schwierige Bergung abgespielt hat oder ob die Wegunkundigen, die in der Gipfelschlucht vom Normalweg nach links abgeirrt sind, hier an der schweren Wand die Bitternis der späten Umkehr aufgezwungen erhielten, ich weiß es nicht. Aber es ging mir ein beengender Schauer durchs Herz, den ich in der freien Wand auf eigenen Wegen so gar nicht kenne und der immer verbunden ist mit Menschen und Menschenwerk — und sei es nur ein rostiger Haken — im Fels. Es ist wie ein unterbewußtes Ahnen, daß der Mensch im felsigen Steilgelände in einen ihm nicht zugehörigen Lebensraum vordringt, eine wohlgemeinte natürliche Hemmung, die unsere klassischen Vorfahren als göttliches Verbot auslegten. — Nachdem verbotene Früchte immer die besten sind, läßt sich trotz dieser kletterabträglichen These die Leidenschaft der Klettergilde gut erklären. Diesmal hat das Wandstück für uns leider den abenteuerlichen Reiz der Neuheit verloren. Während wir damals ruhelos in größter Spannung und angesichts der vielen Rückzugsbaken mit wenig Hoffnung ins Unbekannte vorstießen, hatten wir nunmehr Muße, bei einer ausgiebigen Brotzeit die einzigartige Aussicht zu genießen sowie auch weniger wertvollen Empfindungen, wie dem reichlich warmen Sonnenschein oder den durchgekletterten Fingerspitzen, Beachtung zu schenken. Wir wissen ja: Eine halbe Seillänge links abwärts geht es über einen Felsblock und ein kurzes Band unschwierig zum Einstieg in eine Kaminreihe, die ziemlich weit südlich der gratverlängernden Kante senkrecht aufwärts führt. Es macht einem hier nur noch die Länge der Kletterei, weiter oben auch das brüchige Gestein zu schaffen; die technischen Schwierigkeiten sind nicht erheblich. Endlich ist dann der Südgrat erreicht. Wer auf dem Normalweg durch die Ostwand als sportgestählter Schirennläufer der überwundenen Höhe nicht achtet und von einem „Spaziergang“ spricht, der kann sich auf dieser kletterreichen Route wieder einen Eindruck davon holen, was 2000 m Wand bedeuten. Wir jedenfalls beschließen zunächst, uns an der Biwakschachtel hinzusetzen und uns am Regenwasser des dort befindlichen Eimers zu laben, bevor wir den Gipfel ganz ersteigen. Aber die Biwakschachtel ist weg. Sie steht nicht mehr an ihrem letztjährigen Platz unter dem obersten Schönfeldgrat. Frische Schleifspuren weisen nordöstlich hinunter in die Wand—Richtung Massiger Pfeiler*. Ein wenig Bitternis ist noch in mir am Gipfel. Aber der klare Herbsttag ist viel zu schön, als daß die Trauer um die zerbrochene Reinheit und Würde der Wand die Oberhand behalten könnte. Wir preisen den September als Bergsteigermonat im allgemeinen und den September 1951 im besonderen: So weit, so klar haben wir den ganzen Sommer noch von keinem Gipfel geschaut. Auch der Durst wird noch gelöscht, im Abstieg, an der Quelle im „Schönen Feld“. Voll wie selten ergießt sie sich über unsere erhitzten Glieder — ein herrliches Labsal nach Stunden der Entbehrung.