Wilhelm von Frerichs – Ode an die Ostwand

Die Ostwand.

Die Ostwand des Großen Watzmanns ist unstreitig die großartigste seiner Fassaden. Topographisch betrachtet zerfällt sie in zwei scharf gesonderte Teile : Der nördliche entragt dem Watzmanngletscher und fußt auf dem Nordabhange des mächtigen Anbaues, der sich in Gestalt der Watzmannkinder und des Kleinen Watzmanns unterhalb der Mittelspitze aus dem Massiv loslöst. Die relative Höhe dieses Abschnittes, vom Scheitel des Grates Hocheck — Mittelspitze bis zum Geröll und dem schmutzigen Firn des Watzmanngletschers gemessen, schwankt zwischen 500 und 600 m. Auffallende Schichtbänder durchziehen diese durch Glätte und Schroffheit gekennzeichnete Wand. Der südliche Teil der Ostwand zeigt gewaltigere, riesenhafte Dimensionen. Mehr als 1900 m mißt der Absturz vom Kreuz der Mittelspitze bis zum Geröll des Eisbachtales, bis zum gewölbten Gletschertor der Eiskapelle.

Von dem Winkel der anstoßenden Südwand der Watzmannkinder bis zu einer großen, aus dem Südgrat der Schönfeldspitze sich lösenden Rippe reicht die eigentliche Ostwand. Schon eine oberflächliche Betrachtung lehrt, daß der Charakter ihrer Struktur ein mannigfaltiger ist und daß sie sich ungezwungen von oben nach unten in drei Zonen zerlegen läßt, deren jede ein anderes Gepräge zeigt.

Den Unterbau bilden die ungeschichteten Massen des Ramsaudolomites. Sie zeigen wechselnde Neigung, bald ungangbare Abbrüche, bald weniger jähe Böschungen, welche teilweise mit Graswuchs bedeckt sind, letztere namentlich in der Fallinie unter der Südspitze.

Darüber lagert ein in gleichmäßiger Schroffheit das ganze Massiv durchsetzender Mauergürtel, der, aus Dachsteinkalk bestehend, keine von weitem wahrnehmbare Schichtung besitzt; seine Höhe ist eine wechselnde, im Durchschnitt vielleicht 300 m betragend. In der Mitte der Ostwand dagegen vereinigt sich sein Steilabfall mit den darunterliegenden Abbrüchen des Sockels zu einer Wand von gewaltiger Ausdehnung, Diese Zone bildet, auf welcher Route man auch die Besteigung unternimmt, das Haupthindernis der Tour.

Der oberste Abschnitt ist ausgezeichnet durch die stark ausgeprägten parallelen Linien der Schichten des Dachsteinkalkes, die sanft nach Süden ansteigen. Es finden sich zahlreiche Bänder, unter ihnen namentlich im unteren Teil der Zone einige von beträchtlicher Breite und nur wenig unterbrochenem Verlauf. Da die Schichten nach Nordosten einfallen, so hat die Oberfläche eines solchen Bandes meist die Gestalt einer schräg nach außen abfallenden Platte. Neben steilen Wänden, die absatzlos die Schichtung nur an der Färbung erkennen lassen, finden sich auch einige eingerissene Rinnen, unter denen besonders diejenige erwähnenswert ist, welche ungefähr in der Mitte des Grates, nahe der Stelle, wo sich die Mittelspitze aus ihm steiler erhebt, mündet. Diese Rinne wird von den Partien benützt, welche von der Eiskapelle unter Vermeidung der Schönfeldspitze dem Hauptgipfel zustreben.

Zu erwähnen sind noch einige größere Terrassen, die zum Teil karartig in die Wand eindringen: eine solche befindet sich ziemlich senkrecht unter der Mittelspitze und trennt hier die unterste Zone von der mittleren. Ihr bergwärts ansteigender Boden ist meist das ganze Jahr hindurch von Lawinenresten bedeckt, die abschmelzend den Übertritt auf die Felsen der mittleren Wandstufe erschweren.

Ferner befinden sich unter der Südspitze in drei Stockwerken übereinander liegende Einbuchtungen, von denen namentlich die unterste zu den am wenigsten steilen Flächen der Wand gehört, während über dem höchsten Kar der erwähnte mittlere Mauergürtel sich besonders glatt und jäh aufrichtet.

Die Ostwand biegt an der als ihr Ende bezeichneten Rippe nach Süden um und verläuft in die Südostwand, welche, vom Südgrat begrenzt und dem Verlauf des steil ansteigenden Eisbachtales folgend, eine nach Süden stets abnehmende Höhe zeigt. Ihre oberen Teile fallen durch gewaltige Plattenpanzer auf, die tieferen Regionen gehören dem Gebiet des bröckeligen Dolomits an und sind abwechselnd bald sanfteren, bald wilden Charakters. An der Südseite der großen Rippe ist  eine Schlucht eingefügt, welche nach oben in Wände verläuft.

Der erste, der es wagte, über diese unwegsamste Seite des Watzmanns sich den Pfad zu suchen, war der talentvolle Ramsauer Führer Joseph Berger, Hermann von Barths Begleiter auf den Grundübelhörnern. Er wählte zur Erkletterung den niedrigeren nördlichen Teil der Ostwand. Gemeinschaftlich mit Kederbacher führte er im Jahre 1868 A. Kaindl und J. Pöschl vom Gletscher auf die Mittelspitze.

Diese Tour ist fast in Vergessenheit geraten. Erst 32 Jahre später wurde sie durch Georg Leuchs, Otto Schlagintweit und den Verfasser wiederholt.

Wer im Watzmannhause übernachtet, um die Mittelspitze vom Gletscher aus zu erklimmen, sieht sich in die unangenehme Lage versetzt, am anderen Morgen einen nicht unbeträchtlichen Teil der bereits erlangten Höhe wieder aufzugeben. Bis zur Falzalm muß er zurück und von dieser auf dürftigem Steige hinuntersteigen zum block- und latschenbedeckten Boden der Watzmannscharte, fast 400 m unterhalb der Unterkunftshütte. Dies ist die große Schattenseite des schönen Weges, die sich jedoch vermeiden läßt, wenn man auf die Annehmlichkeiten eines Nachtlagers in dem Watzmannhause verzichtet und entweder vom Tal aus aufbricht oder in der gut eingerichteten Hütte der Mitterkaseralm die Nacht verbringt. In diesem Falle kann man ohne nennenswerten Höhenverlust den die Mitterkaseralm mit der Kührointalm verbindenden Weg bis zum Beginn des Kars zwischen dem Großen und dem Kleinen Watzmann benutzen. Dann freilich gilt es noch einen kleinen Kampf mit Krummholz und Felstrümmern, ehe man das Eis des Watzmanngletschers betreten kann. Über Firnhalden und herausgeaperte Platten strebt man dem Grate zu, welcher das Massiv der Mittelspitze mit den Watzmannkindern verbindet. Diesem folgt man ein kurzes Stück aufwärts, um ihn zu verlassen, bevor er sich mit ungangbaren Steilstufen der Ostwand anschließt. Ein Schichtband erlaubt den Übertritt auf die Südseite des Grates und leitet weiter zu den Felsmauern des Massivs. Einige Schritte auf dem plattig abfallenden, mit rutschenden Blöcken bedeckten Bande, und man steht mit einem Schlage mitten in der wilden Einöde der großen Wand. Aus gewaltiger Tiefe klingt das verschwommene Rauschen des Eisbaches, schimmert der Schnee der Eiskapelle, nach oben türmt sich Absatz auf Absatz hoch empor zum Gipfelkreuz der Mittelspitze, während rings erdrückend hohe Wände den Blick beengen. Es ist dies der eindrucksreichste Augenblick der Besteigung. Man folgt dem Bande, bis es durch eine tiefe Schlucht abgeschnitten wird, welche, in den Gipfelkörper eingerissen, sich bis zur Spitze hinanzieht. An der Kante der die Schlucht begrenzenden Seitenwände klettert man höher hinauf zu einem Schärtchen hinter einem Felskopf, gekennzeichnet  durch eine gelbe Felsplatte, die durch Regen- und Schmelzwasser seltsam zersägt ist. Von hier aus kann man auf dem Gesimse einer Schichtfläche in die Schlucht selbst hineinqueren und an deren rechter Seitenwand, höher oben meist in ihr selbst, unmittelbar zum Gipfel gelangen.

Vom Watzmannhause ausgehend, wird man – die Rasten nicht eingerechnet – nach ungefähr 4 ½  Stunden die Mittelspitze betreten. Die Kletterei ist von mittlerer Schwierigkeit; der Einblick in die Felsbildung der Ostwand ist großartig.

Das schönste Problem am Watzmann zu lösen, blieb Kederbacher Vorbehalten : die Durchkletterung der Riesenwand von der Eiskapelle aus.

Am Peter- und Paulstag des Jahres 1881 wurde der erste Versuch gemacht.

Mit Preiß und den Herren Pöschl und Wairinger aus Wien (Mündliche Angabe von Kederbacher und Preiß) verließ er St. Bartholomä ½ 2 Uhr morgens. Sein Plan war der: Zunächst sollte über die Südwand der Watzmannkinder der Gletscher und von diesem aus auf dem vom Jahr 1868 her bekannten Wege die Mittelspitze erreicht werden. Zunehmende Schwierigkeiten sowie ein Gewitter zwangen die Expedition unverrichteter Dinge umzukehren. Die durch den Regen entfesselten Steinfälle brachten auf dem Rückwege manche Gefahr. Erst 7 Uhr abends wurde St. Bartholomä wieder erreicht. Preiß erzählte mir, er halte auf der versuchten Route ein Durchkommen nicht für möglich.

Im selben Jahre noch gelang es der Energie Kederbachers, die schwierige Aufgabe zu lösen. Eine eingehende Rekognoszierung von der Saletalm und vom Eisbachtale aus hatte den leitenden Faden in dem ungeheuren Felschaos gezeigt. Am 6 . Mai führte er Otto Schück aus Wien auf die Mittelspitze.

Eine kurze Schilderung der Route in großen Zügen ist vielleicht am Platze; die vielen Einzelheiten können hier freilich nicht berücksichtigt werden.

Das erste Ziel ist das kleine Kar unter der Mittelspitze (Siehe Seite 305) das mit einem Ausweichen nach rechts (nordöstlich, in die Südwände der Watzmannkinder) erklettert wird, da der direkte Anstieg zu schwer, vielleicht nicht möglich sein würde. Wenn die Randkluft der Eiskapelle es gestattet, steigt man am besten vom obersten Ende des Schnees in die Felsen ein und klettert nach rechts schräg aufwärts, bis man den Beginn glattgescheuerter Wasserrinnen erreicht. Ist im Herbst die Kluft oben unpassierbar, so betritt man die Felsen vom unteren Beginn der Eiskapelle aus und hält sich dann etwas mehr links, um zu den Rinnen zu gelangen. Durch die rechtsgelegene (östliche) Schlucht klettert man schwierig auf und quert dann nach links hinüber in das Kar, das man oberhalb seines Beginnes betritt (unteres Ende ca. 1400 m). Das Kar verfolgt man aufwärts bis zu seinem Abschluß durch den Felswall des mittleren Mauergürtels, überschreitet die Randkluft, erklettert einige Platten und eine sehr steile Wand, um so in eine schräg nach rechts (Norden) hinaufziehende Schlucht zu gelangen. Die Erkletterbarkeit dieser Rinne und ihrer Absätze ist sehr von den Schneeverhältnissen abhängig; sie scheint zu Zeiten, wenn die Schneereste stark abgeschmolzen sind, nicht möglich zu sein.

In die Wände zur Linken (südlich) münden die drei untersten Bänder der oberen Zone.

Über die Platten und Wände der Schlucht dringt man vor bis zu einer Nische unter einem großen Überhang (ca. 1700 m). Hier verläßt man die große Rinne und wendet sich, südlich in etwas absteigender Richtung querend, den mittleren der erwähnten Bänder zu — das erste bricht mitten in der Wand ab — und verfolgt dieses, wobei man gleich anfangs ausgesetzt über sehr glatten Fels queren muß. Durch ein natürliches Felstor kann man das nächsthöhere Band erklimmen und sucht nunmehr die oben besser gestuften Felsen zu erreichen, wobei in den ausgedehnten, die Orientierung erschwerenden Wänden manche Variante möglich ist. Am besten wird man vorwärts kommen, wenn es gelingt, in eine aus der tiefsten Scharte des Hauptgrates herabziehende Rinne zu gelangen. Will man direkt zur Südspitze aufsteigen, so kann man auch das schmaler und luftiger werdende Band weiter benützen, bis es abbricht und sich 8 m tiefer fortsetzt. Man läßt sich am Seile hinab und quert weiter zu einer Rinne, an deren rechten Begrenzungswänden man hinaufklettert, um schließlich den Hauptgrat nördlich der Schönfeldspitze zu betreten.

Zur Würdigung der Tour und ihrer Schwierigkeit will ich Purtschellers Worte anführen: „Die Erklimmung des Großen Watzmanns von St. Bartholomä gehört zu den bedeutendsten und interessantesten Besteigungen, die im Bereich der Ostalpen ausgeführt werden können. Würden die Berge Berchtesgadens dem eigentlichen Hochgebirge beizuzählen sein und der Sockel des Gebirges um einige hundert Meter höher liegen, so könnte man diese Besteigung unzweifelhaft mit den größten Hochtouren in der Schweiz, in den italienischen Alpen und im Dauphine vergleichen.“ Ich glaube, daß diese Sätze auch heute noch die Erklimmung „dieser wohl höchsten durchkletterten Felswand der Alpen — 1800 m Kletterterrain —“ trefflich kennzeichnen. Gerade die lange Dauer der Arbeit, die fortgesetzt zu überwindenden, mehr oder minder großen Schwierigkeiten, die nicht immer leichte Orientierung, sowie schließlich die — im Vergleich mit einer kürzeren Tour — gesteigerte Gefahr eines Wetterumschlages rücken in mancher Beziehung diese Bergfahrt in eine Linie mit Schweizer Hochtouren und erheischen ein größeres und vielseitigeres Maß alpinen Könnens, als etwa eine durchweg sehr schwere, aber  kurze Dolomittour. Alle diese Faktoren zwingen dazu, die Ostwand des Watzmanns als sehr schwierig zu bezeichnen, obschon sich bedeutendere Schwierigkeiten nur an einigen Punkten des mittleren Mauergürtels vorfinden. Starkes Abschmelzen des Schnees oder durch die Verhältnisse bedingtes Abweichen von der gewöhnlichen Route vermehren natürlich die Hindernisse um ein sehr beträchtliches.

Von der Eiskapelle aufbrechend, wird man im allergünstigsten Falle acht Stunden bis zum Gipfel brauchen; im Durchschnitt wird der Zeitaufwand elf bis zwölf Stunden betragen, und befindet sich der Berg in schlechtem Zustande, noch erheblich mehr. (So brauchten Erwin Hübner und der Verfasser am 15. Juni 1896 vom Einstieg bis zur Südspitze ­16 Stunden, da sie die Wände über dem Kar wegen herabstürzender Wassermassen auf neuem, schwierigerem Wege erklettern mußten. Albrecht von Krafft, Wilhelm Teufel und Frau Friedmann benötigten von einem Biwak zwischen der Eiskapelle und dem Kar mehr als 14 Stunden bis zum Grat, wo sie durch ein Gewitter zu einem zweiten Freilager gezwungen wurden. Diese Ersteigung verteilt sich auf den 3., 4. und 5. August 1896.)

Steinfall ist leider stets zu befürchten, doch ist die Gefahr bei trockenem Wetter keine sehr dringende.

Ein Versuch Purtschellers, mit Kederbacher am 28. Oktober 1883 das Unter Unternehmen ­zu wiederholen, mißglückte. Alle Angriffe auf die Steilwände der großen Rinne blieben, da die Schneereste fast ganz geschwunden waren, erfolglos.

Zwei Jahre darauf, am 12. Juni 1885, führte ihn Preiß in der verhältnismäßig kurzen Zeit von elf Stunden von St. Bartholomä aus auf die Südspitze, ohne vorher durch Rekognoszierung sich mit der ihm unbekannten Route näher vertraut gemacht zu haben. Purtscheller zollt seinem wackeren Führer warmes Lob.

Der dritte Tourist auf diesem Wege war Gottfried Merzbacher, der in den oberen Partien einen abweichenden, schwierigeren Weg einschlug. Ihn begleiteten Kederbacher und Preiß, da Kederbacher, der das Mißlingen des mit Purtscheller unternommenen Versuches dem Fehlen eines dritten Mannes zuschrieb, die Tour nur noch in Gesellschaft eines zweiten Führers machen wollte.

(Die erste führerlose Begehung der Ostwand gelang Albrecht von Krafft und Ernst Platz im Sommer 1895. Am 15. Juni 1896 fanden Erwin Hübner und der Verfasser eine Abweichung vom gewöhnlich benutzten Wege auf, indem sie die Erkletterung der mittleren Zone in den Wänden nördlich der großen Rinne durchführten, diese überschritten und so das oberste der drei großen Bänder erreichten. Diese Route hat den Vorzug, über reinen Fels zu führen und nur in Bezug auf die Randkluft des Kars vom Schnee abhängig zu sein.)

Das Jahr 1890 brachte wieder einen Versuch, der mit dem Untergang eines ausgezeichneten Bergsteigers, Christian Schoellhorns, endete. Er verlor auf den Platten über dem kleinen Kar den Halt und stürzte in die 70 m tiefe Randkluft zwischen Schnee und Fels.

Ein schriftliches Denkmal für die Berchtesgadener Bergführer

Zeitschrift des deutschen und österreichischen Alpenvereins, 1939

Unsere Bergführer

Fritz Schmitt, München

Wir wagen nun einen weiten Sprung hinüber ins Berchtesgadner Land.

Einer der ersten Berufsführer war hier der 1816 geborene Johann Jlsanker, genannt Stanzl. Ein Original ! Sein Leibberg war der Watzmann; im Sommer 1868 stand er 59mal oben, und im Februar 1871 brannte er mit Peter Lölzl nach der Einnahme von Paris auf dem Hocheck ein Siegesfeuer ab. Es war dies die erste Winterbesteigung.

Im nächsten Sommer besuchte der damalige deutsche Kronprinz den Watzmann, und es wurde nach dem ältesten Führer, dem Stanzl, geschickt. Der Prinz erzählte beim Aufstieg von der tapferen bayrischen Armee, die er Anno 70 geführt, und der Stanzl von den guten und minderen Leeren am Seil. Auf dem Hocheck meinte der Prinz nachdenklich: „Das ist eine eigene Sache mit dem Führen, nicht wahr, Stanzl?“ — „Woll, woll, Hoheit!“ antwortete der Berchtesgadner. „A richtiger Führer ist d‘ Hauptsach, und wenn d‘ Hoheit uns Bayern Anno 66 g’führt hält‘, nacher hätten mir sie kreuzweis verdroschen, die großmäuligen Preußen!“

Genau zwölf Jahre später schickte der Kronprinz dem Stanzl zum 50jährigen Führer Führerjubiläum einen freundlichen Brief und obendrein 100 Mark! —

Aus der Anfangszeit sind ferner zu nennen: Johann Berger, der L. von Barth 1868 auf das Grundübelhorn begleitete, die Brüder Johann und Josef Grafl, Simon Lasenknopf, Aschauer, vulgo Wimbacher, und Kaspar Ofner, der alte „Preißei“ und Stiefvater des Johann Punz. Ofner ging häufig mit Kaindl aus Linz und F. von Schilcher.

Der Lorbeer der Berchtesgadner Führerschaft gebührt Johann Grill, dem alten Kederbacher. Am 22. Oktober 1835 wurde er in Ramsau geboren. Mit dem jüngeren Nachbarsbuben Johann Punz, dem „Preißei“, erstieg er 1868 den Kleinen Watzmann über die bauchige Südwand und überschritt alle drei Watzmanngipfel. Es ist hier nicht möglich, nur annähernd die Erstbesteigungen Kederbachers aufzuzählen. 1874 betrat er mit Loschge in den Westalpen Wetterhorn,Schreckhorn, Matterhorn, Lyskamm und andere Gipfel. Als bedeutendste spätere Fahrten seien aus der Fülle herausgegriffen: 2. Begehung der Weißhorn-Westwand mit Farrar, Finsteraarhorn-Südostgrat, neuer Weg auf die Aiguille Verte, Erst Ersterkletterung des „Roten Turmes“ am Bietschhorn und Piz Kesch-Südwand. Ins Insgesamt ­stand er fünfzigmal auf Viertausendern, und in den Ostalpen blieb ihm kaum eine Gruppe fremd. Wenn von Kederbachers schönsten Bergerfolgen die Rede ist, dürfen die Erstersteigungen des Tribulaun (1874), der 1700 m hohen Wahmann-Ost- wand (1881) und des Presanella-Rordostgrates nicht verschwiegen werden. Kederbacher blieb bis in sein hohes Alter rüstig. Mit 57 Jahren durchstieg er innerhalb 14 Tagen zweimal die Watzmann-Ostwand, und als Sechziger erklomm er trotz tiefen Neuschnees Croda da Lago und Kleine Zinne. Ab 1888 bewirtschaftete der berühmte Ramsauer das neu erstellte Watzmannhaus. Die Feier seines 80. Geburtstages brachte ihm ein glückliches Erinnern, und innig freute er sich über ein ehrendes Schreiben des D. A. V.

Im Kriegswinter 1917 trat der alte Kederbacher ohne Siechtum und Kampf seine letzte Erdenfahrt an. In sein Führerbuch schrieben vorbildliche Alpinisten Worte höchster Anerkennung. Farrar bezeichnte ihn als „Sinnbild unbeugsamer Anerschrockenheit“. Dr. Blodig, der ihn einen „Fürsten im Bauernkittel“ nannte, erzählte, daß Keder Kederbacher einmal auf Drängen nach einer Besteigung der Aiguille Blanche gesagt habe:  „Ja, ja, es geht schon, aber i geh net!“ Als Friedmann eine Karte in eine Gipfelflasche gesteckt hatte, erkundigte sich Kederbacher nach dem Sinn dieses Tuns, überlegen meinte er: „Dös hat alles koan Wert! D‘ Hauptsach is, daß i selber woaß, daß i droben war!“ Fast sprichwörtlich ist Kederbachers Beruhigungsformel vor mancher gewagten Fahrt geworden: „Wenn man nur woaß, wo der Berg steht!“ Alle drei Kederbacher-Söhne haben das Führerzeichen erworben, und besonders der älteste, der 1862 geborene Hans, machte seinem väterlichen Vorbild alle Ehre.Mit 17 Jahren autorisiert, mit 19 Jahren auf einem Viertausender — für einen Ramsauer nicht alltäglich! Bei dem erstklassigen Ruf — „völlig gleichwertig mit seinem Vater in dessen besten Tagen“, schrieb Capt. Farrar, mit dem er erstmals Pointe Farrar erklomm und in den Dolomiten Schmittkamin, Winklerturm und Rosengartenspitze-Ostwand kennenlernte — erübrigt sich eine lange Fahrtenliste. Er stand auf mehr als 40 verschiedenen Westalpenhäuptern, beispielsweise auf dem Matterhorn fünfmal. Nach einem Armbruch übernahm er 1905 das Watzmannhaus.

Dem jüngeren Kederbacher war nicht ein so friedlich-glücklicher Lebensabend beschieden wie seinem Vater. 1929 erlag er einem schweren, zehrenden Leiden.

Ein Nachbar,Kamerad und Weggefährte des alten Kederbacher war Johann Punz, als „Preißei“ weit bekannt. Die Einträge im Führerbuch des um acht Jahre Jüngeren beginnen 1861. Im nächsten Sommer lesen wir bereits Glöckner, Lochtenn, Wiesbachhorn und später Weißkugel, Ortler, Zillertaler und Rieserferner. Mehrmals begleitete er Prof. Richter wochenlang auf seinen „Gletscherbeobachtungen“: „War, wie immer, mit seiner Bescheidenheit und Geschicklichkeit sehr zufrieden. …“ 1888 nahmen Purtscheller und Dr. Diener den schneidigen „Preißei“ — ein Turist schrieb einmal „Punz aus Preußen“ auf drei Wochen mit ins Wallis. Von den 20 erstiegenen Gipfeln seien nur genannt: Matterhorn, Weißhorn, Montblanc de Seilon, Grand Combin usw. In seiner Bergheimat schaffte er sich durch Wiederholungen der Watzmann-Ostwandfahrt, Erstbegehung der Lochkalter-Ostflanke und Erkletterung des brüchigen Kleinen Palfelhorns — „ein eminenter Führer“, schrieb F. von Schilcher ins Buch einen guten Ruf. 1890 kam in der Wahmann-Ostwand die dunkle Stunde seines Daseins: Schöllhorn stürzte in die Randkluft. „Preißei“ litt seelisch sehr unter diesem tragischen Ünglück und konnte seine Leistungen vorher lesen wir noch Marltgrat bis zur Lälfte, Monte Disgrazia, Biancograt, Zinalrothorn nicht mehr überbieten. 1894 mußte er wegen eines Herz- und Lungenleidens dem Führerberuf entsagen, und 1907 schloß er seine weltmüden, einst so tatenfrohen Augen.

Gottfried Merzbacher – Der dritte Sieg über die Ostwand

Mitteilungen des deutschen und österreichischen Alpenvereins, 1889

Dritte Ersteigung des Watzmann von Bartholomä

Von Gottfried Merzbacher in München.

Anfangs Juni d. J. von den Höhen der Appeninen, auf welchen um diese Zeit noch ganz erstaunliche Schneemassen lagerten, nach meiner alpenumkränzten Heimat reisend, war ich auf dem Brenner und noch mehr im Innthale überrascht, die stolzen Berge zu so früher Jahreszeit schon ganz im grünen und grauen Sommerkleide zu finden. Nur auf den höchsten Höhen und in tiefen Schluchten erglänzten noch, als letzte Zeugen entschwundenen Wintergrimmes, weisse Schneeflecken; sogar die Gletscherabstürze schimmerten unter den heissen Strahlen einer Frühlingssonne, wie ich sie sengender und drückender nicht auf den Gefilden Siciliens empfand, bereits in jenem zarten Blaugrün, das sie sonst erst im Spätsommer umglänzt. Niemals hatte ich das Hochgebirge in so früher Jahreszeit, so sommerlich gekleidet gefunden, und in Fortsetzung meiner Reise durch das grünende Pinzgau nach Salzburg stiegen besondere Zweifel in mir auf, ob mir wohl ein Vorhaben gelingen würde, ohne dessen Ausführung ich nicht glaubte, nach langen, beschwerlichen Reisen mich mit ruhigem Gewissen einigen Wochen heimatlicher Ruhe hingeben zu dürfen.

Seit mehreren Jahren schon, insbesondere nach Durchlesung von Purtscheller’s hübscher Schilderung in der „Zeitschrift“ 1886, S. 281, steht das Project der Watzmannbesteigung von Bartholomä auf meiner Tourenliste, ohne dass Zeit und Umstände die Ausführung mir bisher erlaubt hätten. Sollte ich auch diesmal wieder unverrichteter Dinge heimkehren? Sollten wirklich die Schneebänder, welche die ungeheuren Watzmannwände oberhalb Bartholomä durchsetzen, schon so weit abgeschmolzen sein, um einen Aufstieg auch für dies Jahr unmöglich zu machen? Waren ja doch (nach Versicherungen Kederbacher‘s) ein Dutzend Aufstiegsversuche an diesen Wänden schon gescheitert und nur zwei bisher geglückt. Wie dem auch sein mochte, den Versuch wollte ich auf alle Fälle wagen! So sass ich denn am Sonntag den 3. Juni morgens im Garten der Post in Berchtesgaden, mit dem Führer Punz (Preiss) aus Ramsau mich eifrig über die Vorbereitungen zu dem Unternehmen unterhaltend, und wir waren bereits vollständig über alles Wichtige ins Reine gekommen, Punz wollte eben aufstehen, um in seiner Behausung Bergkleidung und Ausrüstung zu holen, als der mir wohl befreundete Führer Kederbacher unserm Tische zuschritt, mich freundlich begrüssend.

Kaum hatte er von meinem Vorhaben vernommen, als er sofort die schwersten Bedenken dagegen geltend machte und ernstlich abrieth, die Tour zu Zweien zu unternehmen. Er für seinen Theil würde überhaupt unter keinen Umständen mehr die Tour zu Zweien antreten und wäre der Tüchtigste sein Begleiter, dabei auch auf sein Missgeschick bei dem Versuch mit Purtscheller („Zeitschrift“ 1886, S. 283) verweisend. Bei dem starken Rückgange der Schneezungen stellte er es als sicher hin, dass Wir zu Zweien zurückgeschlagen würden, und nur bei tüchtigem Zusammenarbeiten zu Dreien hielt er einen Erfolg für möglich. Wenn uns aber das Missgeschick der Umkehr, und zwar, wie voraussichtlich, erst auf dem obersten Bande aufgezwungen würde, so könnten die Gefahren des Rückweges, infolge der zu so vorgerückter Tageszeit in diesen Wänden unausbleiblichen Steinschläge und Schneeabbrüche für uns die verhängnissvollsten werden. Vergebens führte ich meine guten Gründe mit möglichster Beredsamkeit in das Feld; es gelang mir nicht, Kederbacher’s Ansicht auch nur im Mindesten zu erschüttern. Da ich aber, bei dem mir genügend bekannten Charakter Kederbacher’s, leidige Gewinnsucht als Motiv seines Abrathens für gänzlich ausgeschlossen hielt, so musste ich mir wohl oder übel sagen, dass, wenn ein Mann von dem unzweifelhaften und so oft erwiesenen Muthe Kederbacher’s, von seinen reichen und grossen Erfahrungen in den Fährlichkeiten und Wagnissen schwieriger Bergfahrten und von seiner ganz eminenten Kenntniss des hier in Frage kommenden Gebirges so urtheilte, mir nichts Anderes übrig bleibe, als mich unterzuordnen, wollte ich mir nicht den Vorwurf zuziehen, bei eventuell schlimmem Ausgang des Unternehmens das Leben eines Andern in sicher voraussehbare Gefahr gebracht zu haben, im günstigsten Falle aber den Spott, unverrichteter Dinge wieder abziehen zu müssen, einheimsen.

Mit schwerem Herzen fügte ich mich denn in die eiserne Notwendigkeit und bestellte nunmehr auch Kederbacher für den Abend zum Treffpunkt am Königsee. Meine frohe Bergeslaune war aber dahin; ein grosser Theil des Zaubers der schönen Bergfahrt war für mich verloren, denn wie gab es mehr eine Selbstständigkeit des Vorgehens für den Touristen, eine Möglichkeit zu frohem Wagen und keckem Handeln, welche einen grossen Theil des Reizes schwieriger Bergtouren ausmachen, inmitten zweier Führer wie Kederbacher und Punz?

Die Schwüle der Luft und der nachmittags zum Ausbruch kommende Regen, nach so langer Reihe ungetrübt schöner Tage, trug auch nicht dazu bei, mich aufzuheitern, und meine Stimmung hatte sich daher um nichts gebessert, als ich abends 8 h mit den beiden Männern am Ufer des Königsees zusammentraf. Der Himmel hatte sich wieder aufgeklärt; aus dem kühlen, dunklen Himmelsblau glänzten freundliche Sterne herab; Wellen und Luft spielten miteinander wehend und wogend und die über den Bergen schwebende schmale Mondessichel, lockte nur auf den höchsten Spitzen derselben einen silbernen Tag hervor, während dunkle Schatten die Schönheiten des Seekessels verbargen. Kühle Luft umfing mich, als nachts 12 h 10 m die an den Felswänden wiederhallenden Ruderschläge der beiden Schiffer, welche uns nach Bartholomä übersetzten, die feierliche Stille der Nacht unterbrachen, und einem gespenstischen Schatten gleich glitt das Boot mit seinen schweigsamen Insassen über den verlassenen Seespiegel. Wie oft hatte ich mir im Vorgefühl jener Bergtour diese nächtliche Fahrt im Geiste ausgemalt, aber anders, ganz anders! Von der frohund wagemuthigen Laune, dem frischen Thatendrang, welche damals mein Herz schwellten, empfand ich heute wenig mehr. Wir landeten um 2 h in Bartholomä und setzten beim flackernden Scheine einer Laterne sogleich den Weg in das Eisthal fort, aus welchem eine wie in einem Backofen erwärmte dicke Luft uns von Zeit zu Zeit entgegenbrodelte; ein schlimmes Vorzeichen, welches auch den Rest getrübter Freude, den die Aussicht auf das Gelingen des Unternehmens noch in mir rege hielt, zu nichte machte. Die Fichten standen regungslos in der Erde und nur die Laubsträucher wiegten leise ihr neugebornes Grün in den lau flatternden Lüften, als wir der hohen, von der Dunkelheit noch verschleierten Bergeswelt entgegen schritten. 2 h 55 m beim ersten schwachen Zwielicht des kommenden Tages erreichten wir die Schneehalden, welche zu den Felsen hinanziehen, und die schwere Arbeit der Ersteigung der Steilwände konnte beginnen.

Angeweht von kühlerer Morgenluft stieg es sich jetzt leicht, allein in immer stärkeren Stössen kam uns die von der Sonnen gluth des vorigen Tages erhitzte und in den Felsschluchten eingepresste Luft, durch die deckenden Nebelschichten der Nacht am Entweichen verhindert, dick entgegen. Es war klar, dass günstigsten Falles bis mittags auf gutes Wetter zu zählen war, dass wir aber sodann mit Sicherheit Regen zu erwarten hatten. „Wenn’s nur bis mittags aushält, dann ist’s gewonnen,“ meinte Kederbacher. Bis dahin durften wir vom Grat nicht mehr weit entfernt sein, denn bei einfallendem Nebel wäre kein Vorwärts- noch Zurückgehen in den schwierigen Wänden mehr möglich gewesen. Eile war daher vonnöthen. Die Führer wollten das Seil herausnehmen und mich an dasselbe befestigen. Das hatte mir nun gerade noch gefehlt, um das Mass meiner üblen Laune voll zu machen. In entschiedenster Weise verwahrte ich mich dagegen und wäre lieber umgekehrt, als unter solchen Umständen die Besteigung auszuführen, eine Entschiedenheit, die mir den Genuss meiner Freiheit wahrte. Nur an einigen wenigen, den allerschwierigsten Stellen, wo ein Zusammenwirken unerlässlich schien, wurde dann allein von dem Seile Gebrauch gemacht. Wir waren alle Drei bei günstigster körperlicher Disposition, und es war ein wahrer Wettlauf, den wir an den Felsen empor ausführten. In einer Kederbacher selbst in Erstaunen versetzenden Kürze der Zeit, in 1 St. 50 Min., hatten wir die erste Terrasse überwunden und standen 4 h 45 m am Beginne des zweiten Schneebandes. Die Sonne blitzte eben über die Berge östlich des Sees herüber und warf ihr Rosenfeuer in das dünn schwebende Gewölk, das in zartesten, beweglichen Farbentönen erglänzte, während das bisher tiefe Blau der Zackenkrone des Gebirges von dämmerndem Golde angehaucht wurde. Wir liessen uns zum wohlverdienten Frühstück nieder und frohe Hoffnung des Gelingens begann mich wieder mit besserem Lebensmuthe zu erfüllen, zumal meinem Thatendrang durch die bevorstehende schwierige Felskletterei Spielraum genug zur Sättigung gegeben war.

Bewundernd betrachtete ich das herrliche Schauspiel, wie der Ring der Berge um den Königsee immer mehr von der Sonne erhellt wurde und die Lichter des Tages, wie Schnee immer tiefer an den Wänden herabrollten indess der See noch von dunklem Schatten bedeckt war. Ein plötzlicher Steinhagel schreckte mich aus meinen Betrachtungen auf und mit knapper Noth konnten wir uns der drohenden Gefahr entziehen. Hoch oben unbemerkt von uns durch die Wände setzende Gemsen hatten die Geschosse auf unseren Lagerplatz herabgesandt. Rasch die bedrohte Stelle verlassend, wurde 5 h 15 m der Weg fortgesetzt. Die Randkluft zwischen Schnee und Fels gähnte überall breit entgegen und nur eine einzige Stelle erlaubte noch einen Uebergang. Noch wenige Tage und jede folgende Partie musste schon hier zurückgeschlagen werden. Der Uebergang war indess nicht leicht. Punz zog seine Schuhe aus, um als der Erste, von uns unterstützt, die ausgewaschenen, plattigen Felsen zu erklimmen; ich folgte, zuletzt Kederbacher, von mir gehalten. Punz benützte die ihm gelassene Pause, um durch eine unachtsame Bewegung zu unserem nicht geringen Schrecken einen seiner Schuhe in die gähnende Randkluft hinabzustossen. Ein wahres Glück, dass er in geringer Tiefe noch auf einem vorspringenden Schneezacken liegen blieb; er wäre sonst unwiederbringlich verloren gewesen. Am Seile musste Punz wieder hinab, um ihn heraufzuholen. Die nun in kurzen Pausen sich folgenden schwierigen Stellen, meist steil aufgerichtete, ausgewaschene Platten, hohe Wandstufen, oder ausgebogene Felsblöcke, wurden sämmtlich ohne grossen Zeitverlust genommen und schon 7 h 48 m war das dritte grosse Schneeband erreicht, welches als Unterlage eine gegen Südwest durch eine tiefe Schlucht unterbrochene Felsterrasse hat. Kederbacher war zufrieden, denn wir hatten ein gutes Stück der schwierigen Arbeit in ungemein kurzer Zeit erledigt. Der Himmel war zwar schon etwas umzogen, allein das Gewölk war noch dünn und stand hoch. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatten wir den Grat schon überschritten, bevor eine Wendung zum Schlimmen eintreten konnte. Die Aussicht auf die so nahe scheinende glückliche Lösung der schwierigen Aufgabe und die Befriedigung, welche die schöne, abwechslungsreiche, alle Kräfte anspannende Arbeit des Felskletterns gewährte, hatten auch das gestörte Gleichgewicht meiner seelischen Erregungen wieder in harmonische Stimmung verwandelt. Unter frohem Geplauder lagerten wir uns unterhalb einer Felswand, neben herabströmendem Schmelzwasser, um eine Stärkung zu nehmen, allein auch diese kurze Spanne Zeit beschaulichen Genusses sollte nicht ungetrübt vorüberrauschen und mit unwiderleglicher Logik wurde erwiesen, dass Kederbacher’s Befürchtungen nur zu begründet waren. Ein in ‚allen Wänden wiederhallendes, donnerähnliches Krachen scheuchte uns auf und schnell suchten wir an der Felswand Schutz vor der drohenden Gefahr. In dumpfem Grollen entfernte sich der Schall und ängstlich lauschten wir seiner Erneuerung. Es wurde jedoch wieder still und wir konnten uns von dem unheimlichen Platze mit heiler Haut zurückziehen. Wie sich später oben zeigte, hatte sich ein grosses Stück einer auf stark geneigter Felsunterlage ruhenden Schneescholle abgelöst und war mit starkem Getöse herabgestürzt, jedoch nach kurzem Falle in einer muldenförmigen Vertiefung liegen geblieben, wodurch wir vor drohendem Unheil beschützt blieben.

Um 8 h 20 m aufbrechend, traversirten wir etwas nach rechts, denn es galt nun, von dem Schneeband aus, die dasselbe überragenden Felswände wieder zu erreichen. Das Mittel hiezu schien ein vorspringender Felskopf zu bieten, am Fusse der grossen Rinne, und die beiden Führer versicherten, dass dies die Stelle sei, welche sie bei ihrer früheren Ersteigung benützt hätten. Der Schnee reichte jedoch nicht hoch genug hinan, um den ganz ausgebogenen Felskopf ansteigen zu können. Das Hinderniss musste also umgangen werden und wir wandten uns nach links, Südwest, hinüber, auf einem Felsbande so lange fortwandernd, bis dasselbe von einem mit Schnee erfüllten klammartigen Einriss unterbrochen wurde, sprangen in den Schnee hinab und setzten über denselben den „Weg fort, der uns hoch und immer höher in südwestlicher Richtung an die Felsen emporführte. Wir glaubten so eine nicht mehr ferne, etwas östlich umbiegende Felsschlucht erreichen zu können, von der anzunehmen war, dass sie sich weiter oben wieder mit der zum Gipfelgrat emporziehenden grossen Rinne vereinigen würde. Bald standen wir indess unerwarteter Weise an einem Abbruch des ganzen Bandes, der jedes Vorwärtsdringen unmöglich machte. Eine etwa 12 Meter hohe Wand trennte uns von einem Graben, über den hinweg eine Fortsetzung gangbarer Felsbänder und Schneehalden zu erkennen war. Abseilen war hier die einzige, doch schwierige Möglichkeit; als Stützpunkt bot sich nämlich nur eine kleine, schmale Felsplatte unter einem überhängenden Felsen. Nach sorgfältigen Vorbereitungen wurde der zögernde Punz, dem die Sache nicht recht gefallen wollte, zuerst hinabgelassen; dann kamen die Rucksäcke und Pickel, hernach meine Wenigkeit und endlich seilte sich Kederbacher mit bekannter Geschicklichkeit und Vorsicht selbst ab. So waren wir denn, nach mehr als einstündiger Arbeit, alle wieder glücklich beisammen unten angelangt; doch nein! — Peinliche Ueberraschung ! Einer war zurückgeblieben, K e d e r b a c h e r’s Hut, den derselbe im Eifer der Arbeit auf dem Felsband oben liegen liess, wo derselbe heute noch liegt.

Wer wird ihn holen ? — Der Verlauf der Schichtenbänder drängte uns indessen immer mehr nach links, Südwest, was Kederbacher unheimlich vorkam, so dass er schliesslich die schwersten Bedenken zur Geltung brachte, ob wir auf diesem Wege eine zum Gipfelgrate emporführende Rinne wohl erreichen würden. Ihm schien es unerlässlich, aus solcher Ungewissheit herauszukommen und auf alle Fälle, wenn auch mit weiterem Zeitverlust, die grosse Hauptrinne wieder zu erreichen. Kurz entschlossen, versuchte er es über einige Felsstufen nach rechts abzubiegen, überstieg einige vorspringende Rippen und verständigte uns dann nachzukommen, nachdem der gewonnene Ueberblick ihn von der Gangbarkeit des Terrains überzeugt hatte. Sein vielbewährter Orientirungssinn hatte ihn auch diesmal nicht getäuscht; über Einrisse, Schneezungen und Schichtenbänder bahnten wir uns einen Weg und erreichten glücklich die Hauptrinne wieder, hatten jedoch im Ganzen durch diese uns allerdings aufgezwungene Abweichung von der Hauptanstiegslinie, der grossen Rinne, ca. 2 St. Zeit verloren.

Und wir hätten eigentlich keine Zeit zu verlieren gehabt, denn die Wolkendecke wurde während des nun folgenden Aufstieges immer dichter, senkte sich tiefer herab und einzelne Nebelfetzen krochen bereits verdächtig unter uns an den Wänden herauf, als wir 11 h 20 m ein kurzes Stück unterhalb des Grates noch eine Rast machten, um durch einen kleinen Imbiss die während der letzten dreistündigen harten Arbeit stark mitgenommenen Kräfte zu erneuern.

Als wir 11 h 50 m wieder aufbrachen, war bereits ein weites Stück des Grates in dichten Nebel gehüllt und die Orientirung auch für Leute vom Schlage der beiden Führer eine schwierige geworden. Kederbacher hatte die Tour nur einmal, und zwar vor acht Jahren ganz ausgeführt, Punz war an dieser Stelle überhaupt nicht vorbeigekommen, denn bei seiner Ersteigung mit Purtscheller war er schon tiefer unten mehr nach Südwesten ausgebogen, um die Südspitze zu erreichen („Zeitschrift“ 1886, S. 286), während die Erreichung der Mittelspize in meiner Absicht lag. Punz wurde also zum Auskundschaften des Weges vorgeschickt, während Kederbacher und ich unter einem überhängenden Fels vor dem nun zum Ausbruch kommenden Regen Schutz such ten. Mit der Rückkehr von Punz nach ¼ St. hatte sich das Wetter indess wieder etwas gebessert und wir setzten mit ihm den Weg fort, der bis zur Erreichung der Grathöhe noch eine längere und anstrengendere Kletterei erforderte, als wir vorausgesetzt hatten. Hart unter den Abstürzen der Südspitze betraten wir gegen 1 h den Hauptgrat gerade in dem Augenblick, als die Sonne den Wolkenhimmel auseinanderwarf. Glänzende Wolkenstücke zogen sich langsam in die Ferne nach Norden zu und ihre Schatten glitten über das helle Grün der Thäler.

Die Sonne zog ein weites Strahlennetz über das mich umgebende einsame, uralte Felsenmeer, voll starr und jäh aufbäumender Wellen. Die Fernen glänzten und dampften und hie und da am Horizonte stäubten schwarze Dunstballen ihren Inhalt in die feucht schimmernde Welt herab. Dieser erhabene grossartige Krieg der Sonne mit dem Wasser, mit den Dünsten und der Erde fesselte mich lange und nöthigte mir stumme Bewunderung ab. Indessen wurde es wieder düsterer um uns und von Neuem umwogten feuchte Nebelballen den wild gezackten Felsgrat, weshalb wir bei Fortsetzung des Weges bald auf demselben, bald unterhalb desselben auf der Nordwestseite durch die Schwierigkeit der Orientirung manchen Zeitverlust erlitten.

Endlich um 3 h betraten wir unser langersehntes Ziel, den Mittelgipfel des Watzmanns, und hatten so doch noch glücklich eine Aufgabe gelöst, deren Gelingen mir am Morgen wenig wahrscheinlich erschien. Ob Kederbacher’s Ansicht, diese Tour nur mehr zu Dreien zu unternehmen, durch den Verlauf unserer Besteigung vollständig gerechtfertigt wurde, möge der denkende geneigte Leser je nach seiner Auffassung und alpinen Erfahrung selbst entscheiden. 13 St. waren verflossen, seit wir bei Bartholomä in der Nacht den Fuss ans Land gesetzt hatten und keine vollen 2 St. waren hievon auf Rasten entfallen. Wären wir durch die ungünstige Beschaffenheit der Schneebänder nicht von der grossen Hauptrinne abgedrängt worden, so hätten wir den Gipfel in weniger als 11 St. erreicht. Nur kurze Zeit konnten wir uns der mühsam errungenen Höhe erfreuen, denn bald fing es zu regnen an und strömende Wasserfluthen geleiteten uns auf dem ferneren Wege zum Hocheck und hinab zum Watzmannhaus, das wir um 5 h betraten, als auch nicht ein trockener Faden mehr an uns war.

Ludwig Purtscheller – Der Große Watzmann von St. Bartholomä aus

Ludwig Purtscheller beging gemeinsam mit Johann Punz als zweite Seilschaft die Ostwand des Watzmanns und fand dabei den heute gebräuchlichen Ausstieg zur Südspitze.

In der Zeitung des deutschen und österreichischen Alpenvereins des Jahres 1886 findet sich sein Bergfahrtbericht.

Zwei Bergfahrten in den Berchtesgadener Alpen
Von L. Purtscheller in Salzburg.
Der Grosse Watzmann von St. Bartholomä aus.

Die Erklimmung des Grossen Watzmann von St. Bartholomä gehört zu den bedeutendsten und interessantesten Besteigungen, die im Bereich der Ostalpen ausgeführt werden können. Würden die Berge Berchtesgadens dem eigentlichen Hochgebirge beizuzählen sein und der Sockel des Gebirgs um einige hundert Meter höher liegen, so könnte man diese Besteigung unzweifelhaft mit den grössten Hochtouren in der Schweiz, in den italienischen Alpen und im Dauphine vergleichen.

Die Mittelspitze des Watzmann, nach Waltenberger 2714 m (nach der Sp.-K. 2712 m) liegt 2112,5 m  über dem Spiegel des Königssees (601,5); Biermann (diese Zeitschrift 1879 S. 182) berechnet den Horizontalabstand des Gipfels vom Ostufer des Sees bei seiner Annahme von 2740 und 603 m auf  4300 m und danach den Elevationswinkel auf 26° 35′, das Verhältniss der Höhe zum Abstand auf 0,497. Man vergleiche auch die interessante Zusammenstellung verschiedener bei Besteigungen zu überwindender Höhenabstände in den Gesammtalpen von R. Seyerlen (Zeitschrift 1878 S. 348—350). Reiht man den Höhenunterschied von 2112 m in Seyerlen’s Daten ein, so übertrifft er die Differenz Sulden-Ortler um 52 m und rangirt zwischen jenen Sta. Caterina-Königsspitze (2118 m), Campitello-Marmolada (2108 m) und Chalets de Valsorey-Grand Combin (2125 m).

Der erste Tourist, der den Grossen Watzmann von der Südostseite erstieg, war Herr Otto Schück aus Wien. Er hatte in den Jahren 1873 und 1879 zwei ähnliche hervorragende Touren ausgeführt, nämlich die Ersteigung des Ortler über das Hochjoch und dann vom Ende der Welt-Ferner über die Ostwand, und war daher vollkommen berufen, auch dieses schwierige und kühne Unternehmen zu wagen. Der Führer Schück’s bei seiner Besteigung des Watzmann war der den Lesern der Zeitschrift wohlbekannte Johann Grill (Köderbacher) aus der Ramsau. Schück benöthigte am 6. Mai 1881 volle 14 Stunden, um auf die höchste (mittlere) Watzmannspitze zu gelangen.

Köderbacher, der als der Vater dieses Projects betrachtet werden kann, urtheilte unzweifelhaft richtig, wenn er diese Tour nur zu Anfang des Sommers, bei noch reichlich vorhandenem Winterschnee, für ausführbar hielt. Bei mangelndem Schnee, oder wenn das in den Rinnen und Schluchten lagernde Eis stark abgeschmolzen und unterhöhlt ist, erscheint es sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, sich den steilen Felsmauern zu nähern und die hohen Abstürze zu überwinden.

Obschon von dieser Thatsache völlig überzeugt, beschloss ich dennoch, in Folge einer Anregung Köderbacher’s, die Ersteigung im Herbst (28. October 1883) zu versuchen.

Es war die erste Stunde nach Mitternacht, als unser Kahn, von den kräftigen Armen zweier Fährleute gelenkt, die unbewegliche, schwarze Fläche des Königssees durchfurchte. Zitternd und klar spiegelte sich in der Fluth das Licht der Gestirne, bis uns eine Nebelschichte den Anblick des Himmels und auch den Bück auf die Ufer verwehrte. In St. Bartholomä nahmen wir den Weg in das Eisthal, die bekannte in das Massiv des Watzmanns eingeschnittene Schlucht, in deren Hintergrund sich die „Eiskapelle“ befindet, eine Anhäufung von Lawinenschnee, der im Sommer allmälig in Eis verwandelt wird.

Schwarze, phantastische Felszacken, der Kamm der Hachelwand, ragen in die Lüfte und verengen mit den mächtigen Baumkronen der Buchen das Stückchen Himmel, das uns in der Wildniss den Pfad weisen sollte. Das bereifte Astwerk und das kaum wahrnehmbare Gemurmel des Eisbachs verkündete, dass die Natur bereits der winterlichen Erstarrung und Ruhe anheim gefallen war.

Nach ¾ 4 Stunden machten wir nothgedrungen eine längere Rast. Wir befanden uns in der Nähe der Eiskapelle, am Fuss der hohen Steilwände, zu deren Erkletterung wir des vollen Tageslichts bedurften. Die Kälte drängte bald zum Handeln. Meine Befürchtungen fand ich, wie ich gleich bemerken will, in vollem Maass bestätigt.

Die Eismasse, welche im Frühjahr bis zur Höhe der Felsstufen hinanreicht, hatte im Laufe des Sommers mehr als die Hälfte ihrer Mächtigkeit eingebüsst. Die Ränder des Eises waren ganz unter unterhöhlt und 2 bis 4 m von den Wänden entfernt. Im Berchtesgadener Lande erzählt man sich noch immer die Geschichte jenes Gemsjägers, der an dieser Stelle durch die dünne Eisdecke brach und in einen tiefen Schlund stürzte, aus dem er sich erst nach zweitägiger Gefangenschaft und mit der grössten Anstrengung retten konnte. Er hatte sich, als er die Oberfläche des Eises schon beinahe erreicht hatte, durch einen zweiten Fall das Bein gebrochen, vermochte sich aber dennoch mit dem Aufwand seiner letzten Kräfte aus der Spalte zu befreien. Unfähig weiter zu gehen, wäre er ohne Zweifel dem Hungertod verfallen, wenn nicht ein Knabe in St. Bartholomä das Fernrohr zufällig auf die Stelle gerichtet hätte, wo der Unglückliche lag. Aus seinen Bewegungen, die anfänglich wegen der Entfernung nicht recht gedeutet werden konnten, vermuthete man, dass es der vermisste Gemsjäger sei, der dann auch aus seiner misslichen Lage befreit wurde.

Köderbacher näherte sich vorsichtig dem Rand, um einen Uebergang ausfindig zu machen. Seine Bemühungen waren erfolglos. Wenn es auch gelungen wäre, den Raum zwischen Eis und Fels zu überspringen, die jenseitige nahezu senkrechte Wand hätte weder den Händen noch den Füssen irgend einen Halt geboten.

Die Route, die man beim Aufstieg zu verfolgen hat, ist ungeachtet des complicirten Terrains und vieler Einzelheiten unschwer festzusetzen. Man hält sich, soweit es durchführbar, in der rechts (nördlich) hinaufziehenden grossen Rinne, und nimmt im letzten Drittel der Wand, wo die Schwierigkeiten erheblich abnehmen, nach Belieben eine links- oder rechtsseitige Richtung. Wer direct auf die Mittlere Spitze gelangen will, der hat sich etwas rechts zu halten, indem er eine breite Mulde überquert und dann einer diagonal eingeschnittenen Plattenrinne folgt, die bis an die Höhe des Grats hinanreicht. Die grosse Rinne – anfänglich der einzig mögliche Weg – wird von einer Reihe senkrechter Abstürze und hoher Felsstufen unterbrochen, deren Ueberwindung eine sehr bedeutende Mühe und einen ebenso grossen Zeitaufwand erfordert.

Die Wand, welche uns den Einstieg in die Hauptrinne versperrte, musste durch eine schwierige Kletterei nach rechts um umgangen werden. Leider erforderte dieses Manöver die Zeit von 2 Stunden, wobei wir kaum mehr als eine Höhe von 50 m gewannen. In der Rinne fortsteigend, trafen wir dann ein kleines Schuttlager und hierauf wieder eine Schichte compacten Lawinenschnees, dessen Ränder ebenfalls durch eine breite unpassirbare Randkluft von der Wand getrennt waren. Die Seitenwände der Rinne erwiesen sich als ganz unersteiglich, nur rechts über uns schien eine sehr glatte, steile, überhängende Platte einen Ausweg zu eröffnen. Dort lag, es war uns dies sofort klar, die Entscheidung, der Schlüssel zu dem vor uns aufgerichteten Bollwerk. Wir mussten die Platte erklettern, oder aber die Partie als verloren aufgeben. Köderbacher versuchte, obwohl wir Beide an den Erfolg nicht glaubten, von einer kleinen Vertiefung aus auf die Platte zu gelangen, aber es war vergeblich. Ein vorspringender Fels drängte ihn immer wieder über den Abgrund hinaus. Die vergebliche, grosse Anstrengung und die Gefahr bemerkend, welcher Köderbacher sich aussetzte, bat ich ihn, von weiteren Versuchen abzustehen. Wir beriethen, ob keine Möglichkeit vorliege, den klaffenden Schlund zu übersetzen; aber der Umstand, dass noch mehrere solche Stellen zu passiren waren, wobei durch den Abgang von Schnee sich ähnliche Verhältnisse ergehen hätten, wie die eben geschilderten, dann die vorgeschrittene Stunde – es war bereits 9 ½ U. – bestimmten uns, den Rückzug anzutreten.

Wir hatten eine Höhe von ca. 2000 m erreicht. In der Tiefe zeigte sich das Eisthal und der blinkende Spiegel des Königssees; von den Randgipfeln des Hagengebirges nahmen sich besonders statt stattlich der Schneibstein und der Kahlersberg aus; rechts thürmte sich das hohe, senkrecht abstürzende Felsmassiv der Hachelwand auf, zur Linken ragten der Kleine Watzmann und der Zackengrat der Watzmann-Kinder in den Aether.

Köderbacher äusserte später, dass wir zu dreien, d. h. mit Hilfe eines zweiten Führers, die schwierige Stelle überwunden haben würden. Ich glaube jedoch, dass ein Angriff nur dann von Erfolg gewesen wäre, wenn wir eine Leiter oder eine lange Stange bei uns gehabt hätten.

Die Rückfahrt über den See und die milde Herbstsonne, die alle Dinge in vergeistigenden Glanz einhüllte und die Wände des Felsenthals mit goldenen Flecken zierte, liessen mich meinen damaligen Misserfolg leichter verschmerzen.

Am 12. Juni 1885 fand ich mich wieder mit derselben Absicht in Berchtesgaden ein. Dieses Mal lag in den Schluchten des Watzmanns noch ziemlich viel Winterschnee und ich durfte daher eher hoffen meinen Zweck zu erreichen. Je früher im Jahr die Ersteigung versucht wird, mit um so mehr Wahrscheinlichkeit kann auf Erfolg gerechnet werden. Doch hat man zu warten, bis ein Theil der Schneemassen abgeschmolzen ist, da im Frühjahr in den Schluchten des Watzmanns Lawinenstürze und Steinschläge zu den täglichen Erscheinungen gehören.

Auf dieser Fahrt war mein Begleiter Preiss (Johann Punz) von Ramsau, der mit Köderbacher zu den tüchtigsten und empfehlenswerthesten Führern der Deutschen und Oesterreichischen Alpen gehört.

Wir verliessen 11 U. 30 Nachts Berchtesgaden und langten dann nach einstündiger Fahrt über den See bei Anbruch des Tages (3 U. 15) bei der Eiskapelle an. Der Felsabsturz, der das erste Mal wegen der Randkluft mühsam umgangen werden musste, lag jetzt bis zur Hälfte im Schnee vergraben. Er wurde ohne Zeitverlust und ohne besondere Anstrengung erklettert. Eine rechts hinanziehende mit einigen Grasbüscheln bewachsene Rinne vermittelte, wenn auch sehr schwierig, die Gewinnung des nächsten Absatzes. Auf einem Schneefeld, dem ersten in der grossen Rinne, hielten wir eine kurze Rast (4 U. 55 bis 5 U. 10), um dann die hohe Wandstufe anzugehen, wo ich und Köderbacher bei unserem ersten Versuch zurückgeschlagen worden waren. Der Schnee reichte bis ¾ m an die Wand heran, aber der richtige Ausweg war nicht so bald zu entdecken. Während Preiss die Stelle noch einmal „ausprobiren“ wollte, an welcher Köderbacher seine Kraft eingesetzt hatte, stieg ich etwas zurück, um einen kleinen Einriss zu untersuchen, der sich direct an der Felswölbung hinaufzog. Auch Preiss, der unverrichteter Dinge zurückkam, meinte, dass hier die einzige Möglichkeit vorliege, emporzudringen. Die zwischen dem Schnee und der Felswand gähnende tiefe Spalte machte die Lage des Kletterers, der sich fast nur auf die Fingerspitzen verlassen konnte, zu einer gefährlichen. Der Dachsteinkalk, aus dem das Gebirge seiner Hauptmasse nach besteht, zeigt hier seine schlimmsten, abgeschliffenen Plattentafeln, und bietet ungeachtet seiner Festigkeit der Ersteigung viel grössere Schwierigkeiten dar, als der leichter verwitternde Wettersteinkalk, wie er in den westlichen Kalkketten, z. B. im Karwendel- und Wetterstein-Gebirge, auftritt.

Preiss stieg voran, aber schon nach wenigen Schritten traf er auf sehr glatte, jedes Vorsprungs bare Platten. Er erklärte, dass es ihm unmöglich sei mit den Schuhen weiterzuklettern. Da er die Hände nicht frei hatte, so entledigte ich ihn seiner Schuhbekleidung, die indessen in meinem Rucksack verwahrt wurde. Mit dem Bergstock konnte ich Preiss ein wenig unterstützen. Langsam, mit grosser Anstrengung und oft lange vergeblich nach Griffen tastend, schob er sich empor. Es waren aufregende Augenblicke, wie ich dergleichen im Gebirge selten erlebt habe. Als es ihm endlich geglückt war, einen sicheren Stand zu erreichen und Sack, Stock und Pickel aufgeseilt worden waren, folgte ich an einem Strick gehalten nach. Die Gesammthöhe der Wand dürfte ca. 15 m betragen. Es folgte nun eine Partie steiler, doch nicht schwieriger Platten und hierauf ein Felsband, welches zu einem kleinen Schneefeld führte. Hier hielten wir eine kurze Rast (6 U. 40 bis 6 U. 55).

Die gerade über uns aufragende Wand zeigte sich zwar, als wir sie in Angriff nahmen, sehr ausgewaschen und glatt, jedoch nicht sehr steil. Ein schmales Felsband, das uns aus dem Couloir lockte, endete an einem thurmhohen Absturz. Wir mussten, nachdem wir 20 Minuten auf vergebliches Recognosciren verwendet hatten, wieder auf die alte Stelle zurück und unser Heil neuerdings in der Rinne versuchen. Ein dritter sehr steiler Absatz konnte Dank der hoch anliegenden Schneemasse ziemlich leicht erklettert werden; in späterer Jahreszeit dürfte dies, wenn überhaupt, nur unter grossen Schwierigkeiten gelingen. Einem Schichtenhand zur Rechten vertrauend, liessen wir uns über eine durchnässte Platte hinab und querten (8 U. 8) ohne besondere Schwierigkeit die Hauptrinne.

Nach einem erfolglosen Angriff in linksseitiger Richtung das anfänglich breite Band endigte an einer tief eingerissenen Schlucht — nahmen wir den Weg gerade aufwärts, indem wir einen Felssporn ins Auge fassten, der wenn einmal erreicht, einen besseren Ausweg versprach. Zunächst war es aber nöthig, wieder in die grosse Rinne zurückzusteigen. Eine Wandstufe in derselben erwies sich so steil und glatt, dass wir uns zum zweiten Mal der Schuhe entledigen mussten. Ich hätte an dieser Stelle, die eine Höhe von ca. 10 m haben dürfte, beinahe einen schlimmen Fall gethan. Während ich, an einen Vorsprung gelehnt, die Bewegungen des über mir kletternden Preiss verfolgte, gab der Fels unter meinen Füssen plötzlich nach. Ich sank einen halben Meter tief, konnte aber gleich wieder Halt gewinnen. Während des Fallens ergriff ich mit der linken Hand, mehr instinctiv als überlegt, das herabhängende Seil, das Preiss sich um den Leib gebunden hatte.

Jeder andere Führer hätte mir wegen dieser Unvorsichtigkeit – denn der Ruck traf denselben völlig unerwartet – eine Rüge ertheilt. Preiss aber lächelte nur, wie er dies häufig thut, ohne ein Wort zu sagen.

Wir hielten eine zweite Frühstückrast (9 U. 55 bis 10 U. 5) und füllten unsere Flaschen mit Wasser. Im Begriff aufzubrechen, vernahmen wir plötzlich hoch über uns das Krachen fallender Steine. In Intervallen von 6 bis 8 Secunden, aber mit furchtbarem Getös näherten sie sich uns, aber nur einzelne Trümmer gelangten in unsere Nähe und sausten unschädlich an unseren Köpfen vorüber. Gleich beim ersten Geräusch drückten wir uns an die Felswand, dennoch war unsere Lage eine sehr gefährdete. Die Steine waren unzweifelhaft von Gemsen in Bewegung gesetzt worden, die auf dem Grat ihren Morgenspaziergang ausführten.

Trotz unseres unausgesetzten Anstürmens hatten wir noch keine dominirende Höhe erreicht. Der Kleine Watzmann, die Watzmann-Kinder und die Hachelwand ragten noch hoch über uns empor. Aber die Felsklippen zeigten sich allmälig weniger steil und im selben Maass besserte sich auch ihre Gangbarkeit. Die Seitenwände der Rinne wichen zurück und verflachten sich nach oben mehr und mehr. Wir kletterten ohne besondere Hindernisse auf dem erreichten Felssporn aufwärts. Die südliche Watzmannspitze, zweifellos der schönste Bau im ganzen Massiv, enthüllte uns ihren mächtig ausgreifenden mit blinkenden Schneebändem gezierten Südostgrat; aber auch die anderen Erhebungen des Watzmanngrats, thurmförmige, ruinenhafte und schuttbedeckte Felsgestalten tauchten stolz empor in den klaren Aether. Unmittelbar vor uns breitete sich die vorher erwähnte breite Mulde aus, von welcher eine steile, schräg eingeschnittene Rinne auf die Kammhöhe  (zwischen der mittleren und südlichen Spitze) hinanzog. Ich wandte mich der südlichen Spitze (Schönfeldspitze) zu, da es meine Absicht war, heute alle drei Watzmanngipfel zu ersteigen.

Unsere Richtung war von nun an eine südwestliche. Preiss wollte eben einen steilen Felsabsatz erklettern, als ich unterhalb desselben ein Band bemerkte, dessen Verfolgung einen besseren Weg zu bieten versprach. Dasselbe endete am Rand einer tief eingerissenen, glattgescheuerten, wilden Schlucht, deren rechte (südliche) Seite vom Südostgrat der Schönfeldspitze flankirt wurde.

Der diesseitige Hang der Schlucht war jedoch ohne besondere Schwierigkeiten zu begehen. Das Klettern gestaltete sich von nun an zu einer bloss unterhaltenden, wenig anstrengenden Arbeit: rasch, in einem förmlichen Wetteifer stiegen wir vorwärts. Schon tauchten dort die starren Klippen des Steinernen Meeres auf, das blinkende Firnfeld der Uebergossenen Alpe und der Hohe Göll; es wehte die kräftige und schärfere Luft der Höhe. Die beengenden Felsmauem wichen fast plötzlich zurück und der Blick fand keine Schranke mehr. Je enger und drückender unser Gesichtskreis gewesen, desto mehr überraschte uns jetzt der weite unermessliche Raum. Gleich darauf setzten wir den Fuss auf die südliche Watzmannspitze. Die letzten 50 Schritte hatten wir auf der Südseite des Gipfels zurückgelegt. Es war 1 U. Nachmittags. Die Ersteigung beanspruchte daher von St. Bartholomä, inclusive einiger kurzen Rasten, 11 Stunden.

Das Endziel unserer Partie war jedoch die mittlere Spitze des Watzmanns. Im Vergleich mit der hinter uns hegenden Kletterei erschien uns der Weg zu derselben wie ein Spaziergang. Wir blieben so nahe als möglich auf der Höhe des Grats, anfänglich auf der Süd-, später auf dessen Nordseite. Es war 3 U. 15, als wir den culminirenden Punkt des ganzen Watzmannstocks betraten.

Unsere stark angespannten Kräfte beanspruchten eine längere Rast. Der ursprüngliche Gedanke, von der mittleren. Spitze direct in das Wimbachthal abzusteigen, musste mit Rücksicht auf die späte Stunde, und da ein Freilager in den Felsen unser Project für den nächsten Tag gestört hätte, aufgegeben werden.

Der directe Abstieg von der mittleren Watzmannspitze in das Wimbachthal wurde das erste Mal 1869 von Baron v. Jeetze, Karl Hofmann aus München und Joh. Stüdl aus Prag ausgeführt. Seitdem wurde diese Tour mehrmals und vor einigen Jahren auch in umgekehrter Richtung unternommen. Die Abstürze des Watzmanns gegen das Wimbachthal zeigen in der Nähe betrachtet nicht jene ausserordentliche Neigung, die ihnen auf den ersten Anblick von unten aus eigen zu sein scheint, und die Erkletterung derselben wird geübteren Bergsteigern keine übermässige Schwierigkeit verursachen.

Der krystallklare, glanzvolle Tag und die vorzügliche durch Nichts getrübte Rundschau liess die Zeit unseres Aufenthalts rasch verfliessen. Erst nach 5 U. machten wir uns auf den Rückweg, der über das Hocheck und die Guglalpe in die Ramsau ausgeführt wurde.

Der herannahende Abend warf bereits seine dunklen, tiefvioletten Schatten in die waldernste, maienfrische Gegend hinein und die Menschen, des Tagwerks müde, waren schon in ihre Hütten zurückgekehrt. Aber hoch oben an den altersgrauen Wänden König Watzmanns glühte und funkelte es in unbeschreiblichem, geheimnissvollem, rosafarbigem Lichtglanz. Wiederholt und noch 20 Minuten nach 9 Uhr trat ich mit meinem treuen Begleiter Preiss vor die Hausthür, um ein Schauspiel zu gemessen, welches Auge, Herz und Gemüth in gleicher Weise erfreute.

 

 

Gipfelgeschichten

Kurz zusammengefasst einige Rahmeninformationen zu Besteigungen der Gipfeln des Watzmannmassivs.

Großer Watzmann – 2713 Meter

Gipfel

Erstmals bestiegen wurde der grosse Watzmann, dessen Mittelspitzeam 28.07.1880 Valentin Stanig.

Bereits vorher herrschte reger Betrieb am Hocheck, welches als Wallfahrtsort fungierte.

Die Südspitze des Watzmanns wurde erstmalig 1832 durch Peter Carl Thurwieser über die Südflanke, d.h. aus dem Wimbachtal, erklommen.

Überschreitung

Die erste Überschreitung aller drei Gipfel von Norden nach Süden gelang im Jahre 1868 den Bergführern Johann Grill, Kederbacher, Johann Punz, Preissei, und Albert Kaindl.

Eine Überschreitung von Süden nach Norden führten im Jahre 1873 Johann Punz, Preissei, und Josef Pöschl durch.

Ostwand

Die Ostwand des Watzmann, auch Bartholomäwand genannt, wurde erstmalig durch den Bergführer Johann Grill gemeinsam mit dem Wiener Alpinisten Otto Schück am 06.06.1881 bezwungen.

Am 23.05.1920 erstiegen Hermann Lapuch und Kaspar Wieder die Ostwand der Mittelspitze vom Watzmanngletscher aus.

Kleiner Watzmann – 2307 Meter

Die Erstbesteigung des kleinen Watzmanns zu datieren gestaltet sich schwierig.

Durch einen Fahrtenbericht belegt ist dessen Besteigung am 27.08.1863 durch den Bergführer Johann Grafl und Franz von Schilcher.

Mündlichen Überlieferungen nach, die in zeitgenössischer Literatur aufgeführt sind, datieren die erste Besteigung auf das Jahr 1852 durchgeführt durch die Bergführer Johann Grill, Kederbacher, und Johann Punz, Preissei.

Eine weitere Seilschaft bestehend aus Johann Graßl, Josef Graßl, Rupert Holzeis und Michael Walch soll im Jahre 1861 erfolgreich gewesen sein.

Watzmannkinder

Im Wohnzimmer der Watzmanns, dem Watzmannkar, finden sich die fünf Kinder von grossem und kleinem Watzmann.

Von Ost nach West nummeriert sind dies

Erstes Kind – 2247 Meter

Ludwig Purtscheller, bereits Erstbesteiger der Jungfrau, erklomm am 24.06.1891 als Erster das erste Kind über dessen Nordflanke.

Zweites Kind – 2230 Meter

Nachdem Ludwig Purtscheller schon zwei Erstbesteigungen der Kinder zu verzeichnen hatte gelang ihm am 29.06.1892 die Erstbesteigung des zweiten Kindes über die Südflanke.

Drittes Kind – 2165 Meter

Das dritte Kind der Familie ist kein Ersteigungs- sondern ein Ergehungsgipfel. Auch wenn die Neigung von ca. 40 Grad ordentliches Reibungsgehen erfordert stellt es keine alpinistische Herausforderung dar. Es ist davon auszugehen, dass eine Begehung im frühesten Stadium der Erschliessung des Watzmannkars erfolgt ist. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist eine Reise von Franz von Paula Schrank in die Region im Jahre 1784. Von Paula Schrank berichtet über die Geologie, Botanik und Zoologie der Region.

Viertes Kind, auch Jungfrau genannt – 2270 Meter

Am 07.06.1891 erfolgte die Erstbesteigung der Jungfrau durch Ludwig Purtscheller, Heinrich Hess und Adolf Holzhausen über deren Ostflanke.

Fünftes Kind – 2225 Meter

Der Ruhm der Erstbesteigung des fünften Kindes im Jahre 1895 gebührt Guido Lammer und dessen Frau Paula.