Wilhelm von Frerichs – Ein Denkmal für die Kederbacher

Zeitung des deutschen und österreichischen Alpenvereins

1929, S. 169ff

Die Kederbacher aus der Ramsau

 Eine deutsche Führerfamilie

 Von W. F. b. Frerichs, Berchtesgaden

In steigendem Maße wird der Alpinismus zu geschichtlichem Rückschauen genötigt; mit allen anderen Erscheinungen dieses Zeitalters der Wende teilt er die historische Einstellung. Überall ertönt die Frage, wie es doch kam, daß wir in dieser so janusköpfigen Gegenwart stehen. Kein Zweifel, daß wir uns einem Abschluß nähern, der zwingt, für einen Augenblick haltzumachen und rückwärts gewendet im Geist den Weg nochmals zu durchmessen, der hinter uns liegt. Dieser Trieb zur Rechenschaft hat nichts gemein mit jenem Historizismus, der wie eine schleichende Krankheit auf dem letzten Jahrhundert gelastet hat. Nicht um ein Zurückrufen endgültig abgelebter Zeiten handelt es sich, nicht um Romantikerwunsch des Wiedererweckens der Vergangenheit, sondern um ein klares überblicken der Richtlinien, die unbewußter Trieb früherer Geschlechter einst zog. Auch der Alpinismus unterliegt solchem Zwange. Die Rückschau leitet aber nicht nur zu den großen, seelengeschichtlichen Geisteskurven, zu deren Auswirkungen die so verschieden gearteten Epochen der Beziehungen zwischen Mensch und Berg ebenfalls gehören, sondern auch zu der Kleinwelt der handelnden Personen, den vielköpfigen Trägern der Bewegung. Die Pioniere der Alpen, ihr Leben und Erleben, stehen heute von neuem im Vordergrund der Betrachtung für jene Alpenfreunde, deren Empfinden nicht auf dem dünnen Querschnitt des Ewig-Gegenwärtigen allein fußen mag, die vielmehr ihr Weltbild um die Dimension der Vergangenheits-Tiefe abzurunden sich mühen, um ahnend die Zukunfts-Weite fühlen zu können. Die Schar der Vorläufer, der Pioniere der Alpen, formt sich aus Liebhabern, Führern und Berufs-Bergsteigern; zu diesen zählen auch die Grills aus der bayerischen Ramsau, die einzigen großen Führer, die den deutschen Berglanden entsprossen sind.  Ihnen gelten diese einfachen Worte des Gedenkens, obwohl — oder vielleicht gerade weil — ihr Wirken dem heutigen Geschlecht schon sehr fernsteht.

 Heimat und Vater

Schmal nur ist der Alpensaum, der vom Hagengebirge im Osten bis zum Bregenzer Wald im Westen Deutschlands Südwall bildet. Nicht in eisige Höhen ragen seine bescheidenen Voralpengipfel. Waldige Täler, zierliche Hörner, dunkle Seen, wuchtig lastende Kalkklötze, rauschende Flüsse und Wiesenmatten fügen ein Erdbild, das immer klein, eng, anspruchslos bleibt, nirgends die Größe klastischer Gebirgslandschaften auch nur streift; ein behagliches Bürgerhäuschen im Vergleich mit den schimmernden Palästen der westlichen Alpentäler. Bajuvaren, Bergschwaben, Alemannen besiedelten einst dies Land, rangen armem Boden, rauhem Klima kärgliches Leben ab.

Ehe das Tal der Ache stromaufwärts zur bayerischen Ramsau sich weitet, schnüren die Uferwände sich zu enger Klause, über deren Felswall eine sonnige Berghalde sich dehnt. Dort Hausen seit Jahrhunderten die Grills auf dem Kederbach-Lehen, als vom fürstlichen Stift Berchtesgaden angesiedelte Lehensbauern. Klein nur war von jeher der ihnen zugewiesene Besitz, klein ist er noch heute. Zehn Hektar nur umfaßt er, zu gering, um auf karger Erde unter rauhem Himmel auch bei Anspannung aller Kräfte eine Familie zu nähren. Neben der Viehzucht mußte deshalb seit alters her noch ein anderer Erwerb die Führung des Lebens erzwingen.

In diesem Lande, auf diesem Fleck Erde ward 1835 Johann Grill geboren, der größte der deutschen Führer, ebenbürtig den Pionieren der Westalpen, ja überlegen gar manchem unter den berühmten Vorkämpfern der Schweiz und Frankreichs. Noch seltener als anderwärts erblühen Genies im Schoße der Bergbayern. Kleine Talente sprießen wohl häufig auf in diesem leicht bewegten Volke, aber hohe Gaben sucht man dort vergebens in den verschiedenen Bezirken menschlichen Wirkens. In Grill aber wurde der göttliche Funken künstlerisch bildender Bergmeisterschaft geboren. Auf seine Wiege blickten über den Kranz der Wälder hinweg der flache Rücken des Watzmanns, die grauen Kalkmauern des Hochkalters: die ersten Berge, die das junge Auge erspähte. In den Forsten zu ihren Füßen, auf den bröckelnden Graten ihrer Höhen wurde der Jüngling heimisch, als Holzknecht, als Treiber bei den Gemsjagden der Oberhäupter des Staates. Denn noch waren die Berchtesgadener Voralpen das bevorzugte Jagdgefilde der neuen Landesherren, der bayerischen Könige, wie zuvor das der Fürstpröpste des Stiftes. Hier betrat Kederbacher zum ersten Male das unwegsame Berggelände, übte Auge und Fuß, lernte die Schönheitswerte heben, die im dürren, krummholzbehangenen Kalk schwerer zugänglich sind als im lichteren Reiche der Hochwelt.

Schweiften seine Wünsche vielleicht damals schon hinüber zu den blinkenden Eishörnern der Tauern?

Die Liebe zur Schönheit der Berge war früh in ihm aufgegangen; ein echteres, einfacheres, geraderes Gewächs als das Naturgefühl des stadtgebundenen Menschen, das, aus dem tiefen Zwiespalt zwischen Erde und Mensch gezeugt, um so heißer betont ist, je größer und unschließbarer die Kluft geworden. Des noch naturverbundenen Bergbauern Liebe zur Alpenschönheit, umweglos unromantisch, nicht aus Abkehr geboren: ein seltenes Ding.

Abenteuerlust brannte heiß in seinen Adern, die Dynamik der wilden Europäerseele, jenes wunderlichen Gemisches aus Mittelmeergeist und Nordlandssturm. Das, was man heute den Sportgedanken nennt, lebte schon damals in ihm: der Drang, das Neue, unmöglich Scheinende zu erzwingen, die Grenzen weiter vorzurücken und immer weiter. Dies war die Triebfeder, die den Körper hinaufriß auf noch unbetretene Höhen der Heimatberge, allein, oder mit gleichgesinnten Genossen; innerem Rufe folgend, nicht von den Wünschen der Alpenfreunde angefeuert. Denn damals, in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war im Osten das Bergsteigertum erst schwach entwickelt, lebte es noch vom Geist der wissenschaftlichen Gebirgsforscher, von der romantischen Naturliebe der nachsentimentalen Zeit, während im Westen die ersten Schritte empor zur klastischen Höhe des Alpinismus getan werden. In Kunst, in Weltanschauung, in sozialem Geschehen bedeutet diese Epoche einen Einschnitt, einen Wendepunkt des europäischen Geistes, von dem aus ein neues Lebensgefühl seinen Anfang nahm — früher im Westen, später im Osten.

Kederbacher war von Jugend an aus sich selbst heraus Alpinist im vollen Sinne des Wortes ohne die Einwirkungen äußeren Zeitgeschehens, ohne den Antrieb durch die im Entstehen begriffene Gilde der Bergsteiger. Stets hat er diesen Wesenszug zur Schau getragen, auch noch als er Bergführer von Beruf geworden war. Unbeugsamer Wille, höchster Tatendrang wohnten in dem schmächtigen Körper, der von seltener Verstandesschärfe gelenkt wurde. Denn nicht physische Kraft allein, Geist und Seele machen den Meister der Berge. Wahre Herzensbildung, freundliche Sitten, echte Menschlichkeit rundeten sein Wesen zu einem vollen Akkord. Kederbacher war nicht nur ein idealer Bergsteiger, sondern auch eine harmonisch ausgeglichene Natur. Diese reichen Gaben waren ihm vom Schicksal in die Wiege gelegt; er aber hat sie genützt und mit seinem Pfunde gewuchert. Ein verbreiteter Wahn ist der Glaube, daß der Alpinismus den Menschen charakterlich, moralisch, geistig, veredle und auf ein höheres Niveau trage. Wer seltenere Gaben des Willens, Verstandes, Gemütes in sich birgt, der kann sie auch im Gebirge vervollkommnen, wer ohne solche Mitgift geboren, der bleibt in den Bergen das, was er zuvor im Tal gewesen.

Ans Licht der Firne, in die Tauern, zog den schon reifen Kederbacher zuerst Albert Kaindl aus Linz, einer jener schlichten Bergsteiger der Ostalpen, die liebevoll-bedächtig die Höhen ihrer Heimat erstiegen und erschlossen. Es war um das Jahr 1870; Grill stand damals im fünfunddreißigsten Lebensjahr. Im Westen war die Zeit der klassischen Höhe, der Probleme voll Größe und Einfalt, schon fast vorüber; die Pioniere hatten sich teilweise von den, wie es schien, erschöpften Alpen gewendet. Langsam erst, mit spürbarem Zwischenraum, begann sich die Barockperiode neuerer Problematik im westlichen Alpinismus zu entfalten. Im Osten hatte sich der hohe Stil nicht so folgerecht und geradlinig emporbilden können, fehlte hier doch der rechte Stoff für Werke dieser Art. So brach in den deutsch-österreichischen Bergen schon früh die zweite Zeitstufe der Kleinkunst an, in der bald das rasch wachsende Gewimmel des führerlosen Demos sich zu üben beginnen sollte. Neben dem neuen Wesen lebte freilich in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts noch eine kleine ostalpine Pioniertätigkeit kräftig weiter. Zu den Vertretern dieser Richtung gehörten mehr oder weniger F. Arning, K. Babenstuber, G. Hofmann, A. Kaindl, G. Merzbacher, V. Minnigerode, O. v.  Pfister, I. Pöschl, R. v. Lendenfeld, E. Richter, O. Schück, I. Stüdl, B. Wagner: Eisrinnen, Grate und Hütten bewahren noch heute die Namen eines Teiles dieser Männer, welche mit Kederbacher die Alpen vom Ennstal bis zum Montblanc durchzogen und manchen unerstiegenen Gipfel mit seiner Hilfe betraten. Der oft belagerte Tribulaun (1874), der Ödstein (1877) fielen unter seinem Ansturm, zahlreiche neue Wege fand er von der Ortlergruppe im Süden bis zu den bayerisch-österreichischen Kalkalpen im Norden, darunter den Pfad durch die riesenhafte Ostwand seines heimatlichen Watzmanns (1881). Der verwegene Geist Otto Schücks, auf große Dinge gerichtet, stand Pate zu jenem Unternehmen, das später Ludwig Purtscheller, ein großer Freund Kederbachers, mit diesem zu wiederholen versuchte.

Im Jahre 1874 hatte Heinrich Loschge aus Nürnberg den nun schon lange wohlbekannten Führer in das Oberland und Wallis mitgenommen. Seitdem betrat Grill fast alljährlich die Westalpen, oftmals mit nur schwach befähigten Bergsteigern, denen er als einziger Führer diente. Nicht leichtsinnig unterfing sich Kederbacher solcher Dinge, die damals in der Schweiz unerhört waren. Seine Meisterschaft war so groß, daß er es wagen durfte, nicht nur allein den Weg auf die höchsten Berge sicher zu finden, sondern auch noch hilflos-ungeschickte Begleiter glücklich hinauf und hinunter zu lotsen. Die ungeheure geistige Anspannung, die zu solchem Tun gehört, trug er spielend. Und der Lohn für solche Mühen? Es muß festgestellt werden, daß wohl fast alle Ostalpen-Bergsteiger, die mit Kederbacher in die Schweiz zogen, sich in erster Linie aus Ersparnisgründen seiner bedienten, weil sie die hohen Schweizer Führertarife, noch verschärft durch das Zwei-Führer-System, nicht zahlen wollten oder konnten. Ganz zu schweigen davon, daß Grill früher in den Ostalpen, wie er einst selbst unmutig bemerkt hat, schwere Arbeit für fünf Mark täglich geleistet bat. Auch vom geldlichen Standpunkt aus sind ihm manche deutsch-österreichischen Alpinisten zu hohem Dank verpflichtet.

Für seine Laufbahn wurde 1882 ein wichtiges Jahr. „Dessen Sommer sah“, so schreibt Mr. Farrar, „Kederbacher und Peter Dangl von Sulden, einen ebenfalls ausgezeichneten Mann, bekannt durch verschiedene großartige Unternehmungen in seinen Heimatlichen Bergen, in Zermatt, im Dienste zweier brillanter junger Alpinisten, Louis Friedmann und Carl Blodig. Sie bestiegen die üblichen hohen Berge und schickten schließlich ihre beiden Leute auf den Riffel zum Warten und zum Beobachten, wie ihre Herren die Besteigung des Weißhorns führerlos wiederholten. Dies war zuviel für die Selbstachtung Dangls, der sich eines ihm von mir angebotenen Engagements entsann und zu mir nach Paznaun in Tirol entfloh. Dort fand er die Berge zu niedrig für mich. Verschmitzt meinte er: „Das ist nichts für Sie, Herr!‘ und so eilten wir Hals über Kopf nach Zermatt, wo wir, das Weißhorn in der Tasche, sehr zufrieden mit uns selbst eintrafen.

Ich merkte, daß ein Grund für Dangls Vorliebe für Zermatt darin bestand, daß der diplomatische Herr Seiler die Tiroler, die gerade damals mit ihren Herren nach Zermatt zu kommen begannen, an feinem Hoteltisch essen ließ. Dangl erklärte mir mit großer Höflichkeit und ebenso großer Entschiedenheit, ich möge in jedes mir passende Hotel gehen, was ihn aber anbeträfe, so stiege er stets im Mont-Cervin ab.

Dort fanden wir Kederbacher, dessen Ruf mir damals wohlbekannt war; ich war eher enttäuscht, als ich seine nicht sehr imponierende Erscheinung sah, mit ziegelrotem Gesicht, langem braunen Bart, zusammengekniffenen und vom Wetter angegriffenen Augen, und soweit man sehen konnte, nur zwei großen Eckzähnen, was seine Aussprache einigermaßen undeutlich machte. In gewisser Weise erinnerte er mich an die kaum imponierendere Gestalt Christian Almers. Wenig ahnte ich von den Herzen, die in den Körpern der beiden wohnten, noch von der Bergkunst, die in ihren klugen Köpfen steckte. Wer es will, der mag in manchem Aufsatz von Kederbacher lesen, namentlich in der Ö. A.-Z. in den Artikeln Friedmanns, des seinerzeit vorzüglichsten österreichischem Bergsteigers, von einer fabelhaften Geschwindigkeit, und dazu ein sehr belehrender Schriftsteller, wie seine brillante Monographie der Ortlergruppe beweist.

In diesem Winter verstand es Dangl, den ich für drei Wochen engagiert hatte, und der ein großer Verehrer Kederbachers war, es irgendwie so einzurichten, daß Vlezinger (ein württembergischer Amtsrichter, ein ganz reizender Mann, der nun schon lange tot ist) — er hatte Kederbacher engagiert — mich auffordern sollte, unsere Kräfte zu vereinen und mir die Aufstellung des Programms zu überlassen 1).“

1) A. I. XXXI S. 262 sf.

Dieses ist die Vorgeschichte des großen Tages, den ihm das Jahr 1883 bringen sollte, als er im achtundvierzigsten Jahr, zum achten Male innerhalb eines Jahrzehnts die Schweiz wiederum betrat. Die Partie Blezinger-Farrar unternahm zunächst die Besteigung des Wetterhorns, sodann die des Schreckhorns und überschritt die Jungfrau vom Guggi nach Concordia. Darauf vollführten sie die dritte Ersteigung des Finsteraarhorns über den Südostgrat, eine Tur, die später das Sonderstudium des englischen Bergsteigers werden sollte. Ihm vertraute Kederbacher seinen Herzenswunsch an, endlich einmal „etwas wirklich Schwieriges“ unternehmen zu dürfen. Die Ziele des Ramsauers lagen also viel höher als die nicht gerade leichten Wege auf verschiedene Viertausender, die er bereits kennengelernt, ganz zu schweigen von den Normalanstiegen. Sein Augenmerk hatte sich auf die wahrhaft furchtbare Nordwand des Eigers gerichtet, an deren Fuß er bei Alpiglen vorbeigezogen war. Zwar sieht man von dort die Wand stark verkürzt, so daß sie ihren wahren Charakter hinter scheinbar harmlosem Aussehen verbirgt. Trotzdem ist kaum anzunehmen, daß Kederbacher die Wand völlig verkannt haben sollte; denn er hatte zuvor sowohl den Eiger selbst einmal, wie auch das Wetterhorn viermal bestiegen, so daß er von verschiedenen Standpunkten aus mit der wahren Neigung und Länge des Objektes seiner Wünsche vertraut sein mußte. Sein Herr hatte Mühe, ihn von der Wand loszureißen. Bis heute ist diese Mauer undurchstiegen geblieben 2).

2) Die Ciger-Rordwand ist bereits 1874 von den Brüdern Hartley mit Peter Rubi und Peter Kaufmann versucht worden. Sie schlugen einige Stunden lang Stufen gerade empor, zweigten dann aber nach links zum Mittellegigrat ab. Mr. Farrar hatte die Güte, dem Verfsasser diesen beachtenswert frühen Versuch englischer Vesteiger mitzuteilen. Ferner stieg Mr. Claude Macdonald in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts vom Mittellegigrat durch den unteren Teil der Nordwand nach Alpiglen ab, nachdem ein Versuch aus den Grat gescheitert war. (Alpine Journal November 1928.)“

Der sie begrenzende Mittellegi-Grat trotzte durch vier Jahrzehnte allen Aufstiegsversuchen und wurde erst 1921 bezwungen. Niemand weiß, ob Kederbachers Wand möglich ist, ob nicht Steinschläge ein Begehen verbieten. Bewundernswert bleibt, daß er als einer der ersten den Entschluß gefaßt, seine Kunst dort zu erproben. Aus sich selbst heraus, ohne Anreiz von außen; als reifer Mann den Fünfzigern nahe, dem die großen Berge der Schweiz auf schon begangenen Wegen nicht genügten.

An die Stelle dieses allzu abenteuerlichen Unternehmens setzte Mr. Farrar für seinen Bayern ein anderes Problem: die Westwand des Walliser Weißhorns. Einmal erst war diese eisige Plattenflucht durchstiegen worden. Ferdinand Imseng, der Sieger an der Macugnaga-Flanke des Monte Rosa — sein späteres Grab —, hatte mehrfacher Anläufe bedurft, ehe er dies gewaltige Unternehmen zu einem glücklichen Ende hatte führen können. Kederbacher besah die Wand nur flüchtig und durchstieg sie im ersten Ansturm. Eine zweiköpfige Seilschaft: Grill und Farrar. Welcher Schweizer Führer der damaligen Zeit hätte es gewagt, diese Fahrt ohne einen oder gar zwei Berufsgenossen zu unternehmen, mit einem Herrn, den er erst seit etwa zwei Wochen kannte und auf nur vier vorherigen Türen beobachtet hatte? Freilich ging Alexander Burgener mit Güßfeldt und Mummery allein auf verwegene Taten aus, und andere Westalpengrößen mögen manchmal ähnlich gehandelt haben, aber stets nur als seltene Ausnahme und mit Bergsteigern, deren Fähigkeiten sie genau und lange geprüft hatten. Nicht Übermut und Vermessenheit bewogen den Ramsauer zu solchem Handeln. Seine scharfe Beobachtung, sein heller Verstand hatten ihm in wenig Tagen gezeigt, wessen der junge englische Bergsteiger fähig war, und sein eigenes Vermögen hat Grill nie überschätzt.

So kämpften sich denn die beiden in gemeinsamer Arbeit durch diese noch heute zu den schlimmsten Plattenschüssen der Alpen zählende Wand, verbrachten schutzlos eine leidensvolle Frostnacht in mehr als 4300 m Höhe 1), erreichten anderen Tages den Gipfel und stiegen über den langen Ostgrat wohlbehalten nach Randa hinunter.

1) Kein Wort verlor Kederbacher, als die Nacht hereinbrach und das Biwak unvermeidlich wurde. Er zuckte die Achseln und sagte nur: „Wir müssen hier bleiben.“ (Alpine Journal XXXI.) — Captain Farrar bezeichnet sich selbst als „bescheidenen Zweiten“ aus dieser Tur. Hat er auch den Führer vielleicht aktiv nicht zu unterstützen brauchen, so war er doch sicherlich ein starker moralischer Rückhalt für den Ersten, man müßte denn annehmen, daß Grill die Fahrt auch als Alleingänger hätte ausführen können.

„Ich gab ihm“, schreibt Farrar, „fünf Pfund und einen Napoleon, alles was ich hatte, außer ein paar überzähligen Franken für meine Heimreise. Ich erinnere mich, daß er mir genau ebenso dankte, wie wenn ich ihm fünfhundert Franken oder auch nur deren zwanzig gegeben hätte. Aus wundervoll stolzer Unternehmungslust heraus hatte er seine Arbeit geleistet, nicht des Gewinnes halber 2).“

2) Die Weißhorn-Westwand hat auch in der Neuzeit ihren Rang voll bewahrt. Die junge Generation hat sich, soweit bekannt, an ihr bisher nicht erprobt. Es gibt kaum einen Berg von 4500 m Höhe, der eine ähnliche Plattenflucht aufweist, wenn man von der anders gearteten, noch undurchstiegenen Nordwand des Matterhorns absieht. Seit Georg Winklers Tod in der Westwand (1888) ist sie nicht mehr ernstlich angegriffen worden.

Das Jahr 1883 blieb das einzige, in dem Grill die Schweiz mit Mr. Farrar betrat, der gleich darauf Europa für längere Zeit verließ. Man muß sagen: leider, denn welche Leistungen blieben dadurch unvollbracht, daß Kederbacher zuvor und später die Westalpen nur mit deutschen Bergsteigern aufsuchen konnte, deren Höhendrang meist schon mit den üblichen Gipfeln gestillt war. Hier liegt eine Tragik in Kederbachers Geschick; sein Genius ruhte ungenutzt in einem stillen Bergwinkel, aus dem er nur selten hervorgezogen wurde an das volle Licht. Die Heimat bot ihm kein Feld für große Taten, das Ausland stand ihm nur bedingt offen: ein echt deutsches Schicksal. Kein Zweifel, daß er es nicht so empfand. Zufriedenen und heiteren Gemütes führte er, heimgekehrt aus den Hochalpen, wiederum auf den Watzmann und die anderen Kalkhöhen, wandelte auf Pfaden, die nicht mehr als Trägerarbeit heischten. Hätte sich je einer unterfangen dürfen, Alexander Burgener zu einer Besteigung des Breithorns oder gar des Gorner Grates aufzufordern? Mit verächtlichem Stolze hätte der Walliser solche Einladung abgewiesen.

Viermal noch durfte Grill die Schweiz Wiedersehen; dort war es ihm im Jahre 1885 beschieden, den von Christian Almer und anderen stets unberührt gelassenen und auf gefährlichem Wege umgangenen Roten Turm des Vietschhorn-Westgrates zu erklimmen, und so einen neuen sicheren Weg zu eröffnen. Zwei Jahre darauf nahm er auf dem Gipfel der Dent Blanche, begleitet von seinem ältesten Sohne, Abschied von den Westalpen.

Sein Gefährte vom Weißhorn aber hatte ihn nicht vergessen. Wenn es auch zu keiner gemeinsamen Fahrt ins Hochgebirge mehr kam, so suchte ihn Captain Farrar doch, einem alten Versprechen getreu, nach neun Jahren in der Ramsau auf und ließ sich das damals größte Schaustück der Nördlichen Kalkalpen, die Ostwand des Watzmanns, von Vater und Sohn Grill im Aufstiege zeigen. Nach einem Ausflug in die Dachsteingruppe und das Glocknergebiet nahm Kederbacher in Huben den letzten Abschied von seinem Engländer.

Dann kam der Lebensabend als Pächter des Watzmannhauses, das er schon 1887 übernommen hatte. Mit sechzig Jahren noch erklomm er im Oktober 1895 bei tiefem Neuschnee die ihm unbekannten Dolomitgipfel der Kleinen Zinne und der Croda da Lago, wohl die letzte größere Leistung, die ihm beschieden. Fortan nahm ihn seine Wirtschaft ganz in Anspruch, der er bis 1905 Vorstand, um sie dann an seinen ältesten Sohn abzugeben. Als fast Achtzigjähriger erstieg er noch einmal seinen besten Freund, den Watzmann.

Als ihm zu seinem achtzigsten Geburtstage eine besondere Ehrung erwiesen wurde, schrieb er in seinem Dankesbriefe: „Ich hätte niemals gedacht, daß meine wenigen Bergführerdienste, welche ich seinerzeit mit Freude, Lust und Begeisterung pflichtgemäß mit vielen Alpenfreunden ausgeführt hatte, mir an meinem Lebensabend solch eine Ernte von Freuden, Lob und Ehrenbezeigungen eintragen könnte. War ich doch damals schon bei meinen Land- und Bergfahrten der glücklichste Mann in der Welt, weil ich alle Schönheiten mit meinen Bergfreunden unentgeltlich mitansehen durfte, und überdies noch reichlichen Lohn nach Hause brachte 1).“

1) Der Brief befindet sich in der Alpenvereins-Bücherei in München.

 

Er zeichnet seinen Brief als „altersgrauer ehemaliger Bergführer und Alpenfreund“. Ruhig ging er hinüber im zweiundachtzigsten Jahre am 14. Februar 1917.

Ins Grab ruft Farrar dem Vater Kederbacher nach: „Du läßt mir Erinnerungen zurück an herrliche Tage. Immer wirst Du für mich das Sinnbild unbeugsamer Unerschrockenheit bleiben. Du flößtest Deinen Leuten eine Willenskraft ein, die schon die Hälfte des Sieges bedeutete. Oft noch werde ich Dich in der Erinnerung sehen, immer auf dem verantwortlichen Posten, vorsichtig, ruhig und gefaßt in den Stunden der Gefahr — ein großer Pilot — ein Mann, der sich stets ganz einseht 2).“

2) Der einzige würdige Nachruf für Kederbacher ist von Mr. Farrar im A. I. XXXI veröffentlicht worden. Captain Farrar schätzte Grills Können außerordentlich doch ein. Kein Westalpen-Führer sei dem Bayern in seiner Vollkraft überlegen gewesen, höchstens ein halbes Dutzend ihm gleich gekommen. Dies ist das sehr wohlerwogene Urteil, das einer der besten Bergsteiger im Jahre 1917 fällte, nach reichlicher Überlegung und gestützt auf langjährige, unvergleichliche Kenntnis der Alpen und vieler großer Alpinisten. „Er war in jeder Beziehung ein großer Mann.“ (Nach einem an den Verfasser gerichteten Brief Farrars.)

Uns aber bleibt sein Bild, wie er im Zenit seines Lebens in die Hochalpen stieg:

Der kurze, stämmige Mann mit großem, wehendem Bart, nicht in der Berchtesgadener Tracht, sondern mit langen, zugebundenen Hosen, den Hut mit einem roten Taschentuch unterm Kinn festgeknüpft. So steigt er auf eisigem Grat für uns hinüber in die Zeitlosigkeit, ein großer Mensch und ein großer Führer.

Die wichtigsten von Johann Grill Vater bestiegenen Westalpen-Gipfel

Die zahlreichen Hochpässe sind weggelassen:

Verninagruppe:

Piz Bernina 2, Piz Corvatsch 2, Piz Kesch (Reutur) 2

Berner Oberland:

Finsteraarhorn 6, Aletschhorn 2, Jungfrau 5, Mönch 1, Schreckhorn 4, Eiger 3

Bietschhorn (Reutur) 2, Balmhorn 3, Wetterhorn 5, Blümlisalphorn 1, Gspaltenhorn 1

Peters Grat 1.

Titlisgruppe:

Titlis 1

Tödigruppe:

Tödi 1

Dammagruppe:

Galenstock 1

Wallis:

Monterosa 5, Dom 1, Täschhorn 1, Lyskamm 1, Weißhorn 8, Matterhorn 6, Dent Blanche 3

Zinalrothorn 3, Breithorn 2, Ober-Gabelhorn 2, Allalinhorn 1, Mittaghorn 1

Montblancgruppe:

Montblanc 2, Aiguille Verte 1) 1

1) Im Führerbuch Johann Grills des Älteren findet sich eine Eintragung des Herrn H. Loschge-Rürnberg, laut der er mit Kederbacher im Jahre 1875 die Aiguille Verte von Argentiere aus auf neuem Wege bestiegen habe. Es ist schwer zu glauben, daß Herr Loschge die furchtbare östliche Eiswand der Verte vor O. Maund, Th. Middlemore und H. Cordier (1876) eröffnet habe. Vielleicht hätte auch Kederbacher allein die nötige Eisarbeit nicht leisten können. Zwar war ein Venediger-Führer bei dem Unternehmen beteiligt, doch muß man zweifeln, ob er Grill bei einer derartigen Arbeit hätte unterstützen und ablösen können. Zudem hat Kederbacher oft und gern von der Weißhorn-Wand fabuliert, nie aber von der Aiguille Verte, deren Ostwand ihm ebenfalls den stärksten Eindruck hätte hinterlaffen müssen. Andrerseits sind die Eintragungen Loschges stets knapp, genau und durchaus glaubwürdig. Man sollte fast annehmen, daß die Partie Loschge den üblichen Verte-Anstieg von Lognan aus erreicht habe. Dem scheint aber der hierfür erforderliche Zeitaufwand entgegen zu stehen. Der Verfasser überläßt die Lösung dieses Problems den alpinen Historikern. Übrigens ist die Route O. Maunds und Genossen bisher nur einmal wiederholt worden, und zwar 1924 durch französische Führerlose.

Der Sohn

Die Kederbachers gehören zu den Aristokraten unter den Bauern des Berchtesgadener Landes. Freilich nicht im Sinne des Besitzes, sondern in dem schöneren des geistigen und sittlichen Vorranges. Ihre engere Heimat — die entlegene Ramsau — bildet überhaupt hinsichtlich ihrer Bewohner einen Gegensatz zu dem Rest des Landes, das schon seit Jahrhunderten eine an Industriegegenden gemahnende Bevölkerungsdichte mit all ihren charakterlichen Folgeerscheinungen aufweist, so daß der böse Einfluß des Fremdenzustroms dort üppigen Nährboden findet. Von jeher lagen in der Ramsau die Verhältnisse anders und besser. Dort herrschen noch Geradheit, Ehrenhaftigkeit, einfache Sitten. So ist es nicht zu verwundern, wenn der große Name des Vaters dem Sohn nicht zum Hemmnis ward, wie solches sonst wohl die Regel bildet.

Am 12. Juli 1862 kam er zur Welt, stand also in der Glanzzeit seines Vaters schon in einem Alter, um den Erzählungen des Heimkehrenden von seinen Abenteuern mit Verständnis folgen zu können. Roch heute entsinnt er sich lebhaft der Sorge, die oft viele Tage auf der Familie lastete, wenn vom Alten keine Nachrichten eintrafen und die Möglichkeit eines Unfalles schwarze Schatten vorauswarf. Um so größer war dann die Freude über die glückliche Heimkehr und die Schilderungen der kühnen Taten. So ward ihm schon die Kinderzeit erfüllt von Bergabenteuern und Belehrung über die Hochwelt. Als Knabe übte der junge Grill sich an den Wänden der Preißenklamm, mit denen sein heimatlicher Hof zur Ache abstürzt, ein Klettergarten, wie er ihn sich näher und schöner nicht wünschen konnte. Mit zwölf Jahren ging er als Hüterbube auf die Kematenalm, hoch über dem grünen Pinzgau und dem Zeller See, in dem die weißen Tauern sich spiegeln. Dort war er schon mitten im Gebirge, das nahe Kammerling-Horn lockte ihn oft hinauf und ward sein erster Gipfel, während fern die geheimnisvolle Gletscherwelt winkte. Dann nahm ihn der Vater in ernste Schule, lehrte ihn mit Wort und Tat und ließ ihn an einem sonst nie betretenen scharfen Felsgrat des Watzmannstockes sein Probestück als Geselle ablegen. Schon mit siebzehn Jahren ward er im Herbst 1879 zum Bergführer autorisiert.

Als Dr. Arning und Herr R. Mitscher im Jahre 1881 den Vater Grill in die Schweiz riefen, durfte auch der neunzehnjährige Sohn mitziehen, den Fuß auf seinen ersten Viertausender, die Jungfrau, setzen und die strahlende Bernina erblicken. Hier lernte er Peter Dangl kennen, den Bewunderer des Vaters, den Stifter der Freundschaft mit Mr. Farrar.

Die alten Ostalpen-Bergsteiger Carl Arnold, Demeter Diamantidi, Gustav Curinger, Eduard Lanner, Bruno Wagner verknüpfen sich auch mit des Sohnes Berg-Erleben und verweben seine Jugend mit der ausgehenden Zeit der Erschließung der deutschösterreichischen Gebirge. Anekdotenhafte Erinnerungen tauchen auf und bringen Leben in die trockenen Besteigungslisten: So eine Neujahrsfahrt mit dem Vater und Dr. B. Wagner auf den Hochkönig, Gegenstand einer Fünfhundert-Gulden-Wette, wenn die Tur Wien—Hochkönig—Wien in bestimmter knapper Frist beendet sei. Die Grills sorgten dafür, daß Wagner seine Wette gewann. Dann kam die Militärzeit bei den Landshuter Jägern, die ihm, obwohl vorzüglicher Soldat, durch die Sehnsucht nach den Bergen getrübt wurde.

Erst sechs Jahre nach seiner ersten Schweizer Reise kam er wieder in den Westen, auch diesmal als Gehilfe seines Vaters, mit dem er Herrn G. Curinger auf manchen der Riesen des Oberlandes und des Wallis geleitete. Die Zeiten hatten sich gewandelt. Den früh schon unternommenen, aber vereinzelt gebliebenen Fahrten Führerloser und Alleingänger war nun das erste Anschwellen der neuen Bewegung gefolgt. Auf die kühnen Taten der Mesirs. Gardiner und Pilkington antworteten die österreichischen Vorkämpfer Purtscheller, Zsigmondy, Lämmer, während langsam der Stern Mummerys zum Zenit emporstieg. Aber noch immer herrschte der Fachmann, der Führer, wie er ja bis heute im friedlichen Wettbewerb mit den Liebhabern, dem neuen Salz der Berge, seinen großen Anteil am alpinen Geschehen bewahrt hat. In zwölf von den Jahren, die zwischen 1881 und 1902 liegen, hat Grill fünfzehn Reisen in die Westalpen unternommen, die bedeutendsten Gipfel fast sämtlicher Schweizer Gruppen betreten und in den Gebieten des Montblanc und des Grand Paradis sein Können gezeigt. An fünfzigmal hat er auf Viertausendern gestanden. Auch er hat, wie sein Vater, oft ohne zweiten Führer im Vertrauen auf sein Können zu dritt oder auch nur zu zweit am Seil auf hohe Berge den Weg gebahnt. Den Ruhm führerloser Kalkalpen-Größen sah er als ihr Begleiter einmal an den Rottal-Wänden der Jungfrau im Schneesturm zerflattern 1).

1) Grill erzählte dem Verfasser, daß Mr. Farrar, der sich damals in Südafrika befand, von dieser Tur gehört und ihm einen Brief geschrieben habe, in dem er den Führer vor derartigen Unternehmungen mit Nur-Kletterern ohne Zuhilfenahme eines zweiten Führers gewarnt habe.

Auf der anderen Seite gewann er von den Fähigkeiten eines gewissen Führerturisten eine ganz andere Ansicht als Norman-Neruda, der vor einem Menschenalter die ätzende Lauge seines Spottes über die Unglücklichen ergoß, der es wagte, die damaligen Modeturen der Dolomiten allzu niedrig einzuschätzen. In der alpinen Geschichte steckt viel Wahrheit und Dichtung, gar oft nur dünn verhüllt. Wie vor seinem Kammerdiener ist auch vor seinem Führer niemand ein Held, und umgekehrt zeigt sich mancher, der vor die Augen der Welt als Tropf hingestellt wurde, als Mann vor dem Berggefährten.

Mr. Farrar, der den jungen Führer 1892 an der Watzmann-Ostwand kennengelernt hatte, durchstreifte fünf Jahre später mit ihm die nördlichen Kalkalpen vom Allgäu bis zum Karwendel und nahm ihn darauf zu ernster Arbeit in das Berner Oberland mit, wo die Partie, verstärkt durch den großen Meister Daniel Maquignaz 1) manch schwere Tat vollbrachte.

1) Der Neffe und Schüler des berühmten Jean Joseph Maquignaz, des Erstersteigers der Dent du Geant. Mr. Farrar und D. Maquignaz haben 1893 den Ostaufstieg auf die Aiguille Blanche de Peteret und den Übergang zum Montblanc als Erste erkundet und geplant. Güßfeldt kam ihnen in der Ausführung zuvor, doch konnten sie kurz darauf die zweite Begehung der Route durchführen.

 

Das Ergebnis weniger Wochen war: das Kleine Viescherhorn von Norden, Versuch auf das Lauteraarhorn vom Schrecksattel 2), das Wetterhorn auf neuem Wege über die Westflanke und den Nordgrat, die Überschreitung des Schreck-Horns von Lauteraar zur Schwarzegg, der Mönch über den Nöllen im Auf- und Abstieg, und schließlich nochmals das Wetterhorn.

2 ) Schlechte Verhältnisse zwangen zum Abbruch des Versuches.

Abgesehen von der letztgenannten Tur sind sämtliche übrigen Fahrten außergewöhnliche Unternehmungen. Erst fünf Jahre später gelang es, das Lauteraarhorn auf dem von Mr. Farrar versuchten Wege zu erreichen. Das Schreckhorn war, soweit bekannt, zuvor erst zweimal von Ost nach West und einmal von West nach Ost überschritten worden. Der Nordgrat des Wetterhorns bedeutet eine Erstlingstur, und der Mönch über die Eiswand des Nöllen wird von manchen Sachkennern als eine der härtesten und schwersten Arbeiten im Eis gewertet.

Das folgende Jahr 1898 sah ihn wiederum als Gefährten von I. P. Farrar und D. Maquignaz. Die Grivola wurde über den Nordgrat bezwungen, eine zweite Besteigung, dann der gesamte Grat mit allen Erhebungen vom Grand Paradis bis zum Mont d‘ Herbetet überschritten. Im Montblanc-Gebiet wurde der Gipfel des Monarchen zum ersten Male von der Aiguille de Bionnaffay über den Dome du Goüter erreicht, und vom Col de Miage bis zum Col du Midi der gewaltige Halbkreis gezogen. Bisher war es nur einmal gelückt, über den Ostgrat der Aiguille de Bionnaffay bis zum Dome zu gelangen.

Den Abschluß bildete ein zweitägiger Versuch, den Nordostgrat der Aiguille Verte vom Col des Grands Montets aus zu bezwingen. Sechs Jahre darauf glückte die Ersteigung des abweisenden Berges von dieser Seite, wenn auch nicht über den Grat selbst, vier italienischen Führerlosen nach mehrtägiger Arbeit und zwei Biwaks unter ungeheuerlichem Zeitaufwand. Der Grat fiel erst 1925 unter dem Angriff französischer Führerloser 3), freilich nur teilweise, da verschiedene Türme umgangen wurden.

3 ) Der Partie P. Dalloz, I. Lagarde, H. de Segogne.

Streng genommen ist der Grat bis heute noch nicht überschritten worden. Daher ist die Kühnheit des so frühen Versuches von 1898 besonders bemerkenswert. Es ist klar, daß Aufgaben solchen Umfanges erst nach längeren Versuchen gelingen können. Ebenso verständlich ist es, daß der geistige Leiter einer Führer-Partie seine Leute nicht einem solchen Risiko auszusehen vermag, wie er es für seine Person vielleicht übernähme. Es ist daher sinngemäß, daß die endliche Lösung Führerlosen glückte. Als Denkmal des Versuches bleibt ein zum ersten Male erreichter Turm, der heute den Namen Pointe Farrar trägt 4).

4 ) Der Mangel eines genügend langen Reserveseiles ließ den Versuch scheitern, überdies hatte die Partie eine schwere Campagne hinter sich und wollte daher nicht die Gefahr eines oder mehrer unvorbereiteter Biwaks laufen. In jüngster Zeit hat übrigens auch der vorzügliche junge Chamonix-Führer Armand Charlet mit M. de Eigord die Aiguille Verte von dieser Seite bestiegen. Die Umgehungsroute soll nichts Ungewöhnliches bieten, hingegen wäre die Verfolgung der Gratlinie selbst etwas sehr Schwieriges. — Es scheint, daß die Partie Farrar-Maquignaz-Grill am zweiten Tage auch die große Nordost-Rippe der Aiguille Verte ernstlich, aber erfolglos angegriffen hat. Diese Rippe gehört der furchtbaren Argentiere-Flanke des Berges an und ist bis heut unbezwungen. (Alpine Journal XXXVI S. 398.)

 

Das Jahr 1900 sah Grill wiederum in der Schweiz, als Gefährten der Herren Dr. G. Meyer und Dr. F. Pflaum, der später sein Leben der Unfähigkeit eines Schweizer Führers zum Opfer bringen sollte. Mit ihnen betrat er die Hauptgipfel des Oberlandes und des Wallis. Auf dieser Reise hatte er gleich zu Beginn Gelegenheit, durch sofort handelsbereite Geistesgegenwart und mutige Tatkraft ein Menschenleben zu retten. Es war auf dem Wege zur Dossenhütte. Dr. Meyer und sein Führer stiegen über steile, schmelzwasserüberronnene Platten empor, die teilweise mit riesigen Geröllmassen bedeckt waren. „Da rutschte plötzlich ein großer Block“ — so schildert Dr. Meyer den Unfall — „andere kamen aus dem Gleichgewicht, und dann setzte sich die ganze Masse aus glatter Platte mit mir in Bewegung. Vergeblich suchte ich frei zu kommen, ein Schlammstrom unter dem Geröll hob jede Reibung aus und die Mure rollte unaufhaltsam mit mir dem nahen Absturz entgegen. Schon war ich bis fast zur Brust in dem Steinstrom versunken und ungefüge Klötze trafen meinen Kopf. Blitzschnell war Kederbacher zu meiner Rettung auf einen riesigen Felswürfel gesprungen, an dem die Mure brandete. Niederkniend reichte er mir seinen Pickel, den ich zuerst nicht annehmen wollte, da ich jede Hilfe für aussichtslos hielt. Aber unter Grills Belastung wankte der nur scheinbar feste Riesenblock und gleich daraus stand auch der Führer bis zu den Knien im Steinstrome. Doch glückte es ihm, sich auf eine geröllfreie Platte zu retten, an die er sich mit aller Kraft klammerte, um mich schließlich herauszureißen.“ Während banger Augenblicke hatte Grill gezweifelt, ob er dem übermenschlichen Zuge würde standhalten können oder mit seinem Gefährten den Weg in die Tiefe werde nehmen müssen. Für ihn hieß es: Beide oder keiner, und das Schicksal war ihm gnädig. Es war ein Anfall, wie er dem Besten ohne Verschulden zustoßen kann. Nur die nie, auch auf den Wegen zu Hütten — die freilich in der Schweiz anderer Natur sind als im Osten — erlahmende Aufmerksamkeit des Führers und sein opfermutiges rasches Zugreifen verhinderten einen verhängnisvollen Ausgang.

Seine letzte Fahrt in die Schweiz fällt in das Jahr 1902, in welchem er vier Monate lang als Begleiter Dr. Gilems, eines holländischen Bergsteigers 1), die Ost- und Westalpen durchstreifte und — außer den alten bekannten Viertausendern — den sehr schwierigen Monte Scerfcen über die Eisnase bezwang.

1) Abgestürzt am Lol du Geant i. 1.1907.

Die vergletscherten Gebiete der Ostalpen hat er ebenfalls oft betreten. Wiederholt waren die Hohen Tauern, das Zillertal, das Stubai und das Otztal, sowie der Ortler der Schauplatz seiner Tätigkeit. Bezeichnenderweise beträgt die Zahl der von ihm im Osten erstiegenen Gletschergipfel und überschrittenen Hochpässe nur wenig mehr als die Hälfte seiner Westalpenturen. Im Zillertal glückte ihm mit Mr. W. F. Kendrick die erste Begehung des Grates vom Hochfeiler zum Weißzint 2).

2) 29. 8.1892.

Der heimische Kalk ist ihm natürlich vom Dachstein bis zum Allgäu aus das engste vertraut. In seinem Führerbuche, das die Jahre 1881—1900 und 1917—1927 umfaßt 3), sind fast anderthalb hundert Besteigungen des Watzmanns verzeichnet.

3 ) Das Buch von 1901—1916 wurde ihm von einem Bergsteiger entwendet.

Welch eine Vergeudung solcher Begabung, und zugleich welch rührendes Beispiel von Bescheidenheit! In fast unendlicher Wiederholung hat er wohl sämtliche Gipfel der Heimat erwandert, als Begleiter von bergunkundigen Sommerfrischlern, von oftmals gewiß auch jener wenig gewählten Art, wie sie für das Berchtesgadener Land kennzeichnend ist. Gegen die selbstischen Quäler, die im Führer nur den Packesel erblicken, wird er sich schon zur Wehr gesetzt haben, denn die Grills sind stärkeren Charakters, als ihr armer Berufsgenosse Preiß, der unter der erbarmungslos ihm aufgepackten Belastung schließlich körperlich zusammenbrach.

Immerhin, es klingt verwunderlich, daß der Mann der Walliser Riesen, dem der Ehrenposten des Letzten im Abstieg auf dem Vionnassay-Ostgrat anvertraut war, in der Heimat sich zu Waldausflügen wie dem Vlaueisgletscher hergeben mußte. Man atmet wieder auf, wenn man liest, daß er im letzten Jahrzehnt zweimal den schwierigen Blaueis-Nordgrat erklettert hat, ein würdigerer Gegenstand seiner reiferen Jahre, als die anderen mühsamen Wanderungen.

Spät erst im Leben, und nur ein einziges Mal ist Grill nach Südtirol gekommen. Es war im Jahre 1901, als der alte Freund der Familie, Mr. Farrar, ihn mit den Dolomiten vertraut machte. Damals waren der Schmitt-Kamin, der Winkler-Turm, die Rosengarten-Ostwand noch nicht so alltägliche Unternehmungen geworden, wie dies heute vielleicht der Fall ist. Auf diesen Fahrten, wie auch auf die Grohmannspitze und die Häupter der Pala-Gruppe ließ der mitgenommene Ortsführer dem Berchtesgadener ohne weiteres den ersten Platz.

Mit 1902 schließen Grills Wanderungen in größere Fernen. Seine Taten beschränkten sich fortan auf die nördlichen Kalkalpen und die nahen Tauern. Ein Armbruch, den er 1903 erlitt, hielt ihn längere Zeit von den Bergen fern und festere Bande ketteten ihn bald darauf an die Heimat, als er das Watzmannhaus übernahm und von 1905—1910 dies Gasthaus leitete.

Doch blieben ihm die alten Bergfreunde stets getreu und suchten ihn immer wieder auf, um auf neuen Fahrten alte Erinnerungen wieder aufleben zu lasten. Manche Namen tauchen in seinem Führerbuche regelmäßig von neuem auf, wenn auch zwischen dem ersten und dem letzten Eintrag manchmal fast vier Jahrzehnte liegen 1).

1) So Dr. Bertram, der schon 1881 mit dem Vater gegangen war und 1886 mit dem Sohn  eine Winterbesteigung des Watzmanns gemacht hatte. 35 Jahre später zogen Dr. Bertram und Grill in die Glocknergruppe, wo der Führer den erkrankten Bergsteiger mit seltener Auf opferung in der Stüdlhütte pflegte.

Solche Anhänglichkeit zeugt beredter als alle Worte von den menschlichen Werten, die Grills Charakter in hellstem Lichte erscheinen lasten.

Die letzten Julitage des Jahres 1922 sollten ihm eine unerwartete Begegnung bringen. Er war aus einer der üblichen Fahrten über das Steinerne Meer und die Riffelscharte zum Glöckner gewandert; schlechtes Wetter trieb die Partie hinunter nach Heiligenblut. In der Gaststube des Wirtshauses stärkte man sich nach den erlittenen Unbilden. An einem nahen Tische saßen mehrere Bergsteiger, darunter ein älterer. Wieder und wieder zog der Kopf des Grauhaarigen Grills Auge auf sich. Auch der Bergsteiger blickte immer von neuem forschend auf Kederbacher und dann plötzlich erkannten sich die beiden: der junge Engländer des alten Grill, nun nicht mehr jung, Captain I. P. Farrar und der einstmals junge Kederbacher trafen sich wieder, zwei Jahrzehnte nach ihrer letzten gemeinsamen Fahrt. Die Leistungen, die der Sohn der Voralpen im Hochgebirge vollbracht, sprechen eine beredte Sprache. Voll gewürdigt können sie nur werden vom Standpunkt der nun abgetretenen Generation, und nicht aus dem Geiste der Jungen, welche die Vrenva-Flanke des Montblanc in wenigen Stunden durchmessen. „Er ist nach meiner Ansicht in jeder Beziehung erstklassig — völlig gleichwertig mit seinem Vater in besten Tagen 2).“

2 ) Führerbuch Grills des Jüngeren. — „Beide Kederbachers waren ganz außerordentlich anständige Leute. Man konnte ihnen in jeder Beziehung vertrauen und sie verfehlten nie, ihre Pflicht voll und ganz zu tun. Ich habe noch heute die allerbeste Erinnerung an sie und die größte Achtung vor ihnen.“ (Aus einem Brief Mr. Farrars.)

Dies Zeugnis gibt ihm der — kürzlich verstorbene — seit fünfundvierzig Jahren weitgereiste englische Bergsteiger Mr. Farrar, einer der besten Kenner der Geschichte des Alpinismus. Es ist überflüssig, die zahllosen gleichartigen Urteile anderer Alpinisten über Grills Meisterschaft auf Fels und Eis anzuführen. Aber nicht das technische Können allein, auch die Gaben des Herzens und des Verstandes gehören zu seinem Bilde. Vielen war er „nicht nur ein meisterlicher Führer, sondern ein Freund, der den ihm Anvertrauten mit treuester Fürsorge umgibt, und ein Mensch mit Auge und Sinn für die Schönheiten der Bergwelt“.

In seines Vaters Buch hatte einst eine Bergsteigerin geschrieben: „Es gibt nur einen Kederbacher.“ Daran anknüpfend bemerkt einer der Herren des Sohnes, er müsse nach seinen Erlebnissen auf schwerer Kletterfahrt sagen: „Es gibt zwei Kederbacher, Johann Kederbacher Vater und Sohn.“ Mit diesem Urteil aus dem Jahre 1919 wollen wir das Führerbuch schließen.

Einer der besten Alpenführer und ein ganzer Mensch steht vor uns, wenn wir seine Taten an uns vorüberziehen lasten. Auch Johann Grill der Jüngere nimmt, wie sein berühmter Vater, einen würdigen Platz ein unter den Pfadfindern der Alpen.

Die wichtigsten von Johann Grill Sohn bestiegenen Westalpen-Gipfel

Die zahlreichen Hochpässe sind weggelassen : 1)

1) Das verlorene Führerbuch Grills des Jüngeren (1901—1916) konnte nur annähernd ergänzt werden. Seine hier angeführten Westalpen-Turen find daher nicht ganz vollständig.

Verninagruppe:

Piz Bernina 1, Piz Roseg 2, Monte Scerscen 1, Piz Lorvatsch 1

Berner Oberland:

Finsteraarhorn 4, Metschhorn 1, Jungfrau 5, Mönch 1, Schreckhorn 4, Eiger 1, Metschhorn 2

Kl. Mescherhorn 1, Balmhorn 1, Wetterhorn (Neutur) 3, Petersgrat 2

Wallis:

Monterosa 5, Dom 2, Täschhorn 1, Lyskamm 1, Weißhorn 4, Matterhorn 5, Dent Blanche 1

Grand Combin 1, Castor 1, Zinalrothorn 3, Dem d’Herens 1, Breithorn 2, Ober-Gabelhorn 2

Weißmies 1, Kleines Matterhorn 1, Limes Manches 1, Almagellhorn 1

Montblancgruppe:

Montblanc 2, Aig. de Bionnaffay (Neutur) 1

Aig. du Midi 1, Pointe Farrar (1. Erst.) 1

Mg. des Grands Charmoz 1

Paradis-Gruppe:

Grand Paradis 1, Grivola 1, Petit Paradis 1, Bec de Montandeyne 1, Mont d’Herbetet 1

Benutzte Schriften

2t. 3. XXIII 6.308, XXIV 6.303, XXV 6.51, XXVII 6.263, XXXI 6.262, XXXVII 6.363.

Voll. L. A. I. 1904,5 6. 311, D. A. Z. X 6.191, XV S. 244.

Ib. 6. A. C. XXI 6.127, M. A. V. 1886 6. 79, 1917, 6.3, M. A. V. 1892 6.247.

A. V. 1883, S. 507, 1885 S. 266, 1914 6.195.

Dübis Hochgebirgsführer durch die Berner Alpen II S. 167, III (1909), S. 131.

Guide Kurz, La Chaine du Montblanc 1927.

Purtschcller-Heß, Der Hochturist in den Ostalpen (1911).

Führerbuch Johann Grills des Älteren (Abschrift).

Führerbücher Johann Grills des Jüngeren 1880—1900, 1916—1927.

 

 

 

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