Kaspar Wieder – Durch die Ostwand der Mittelspitze

Ein neuer Weg zur Watzmann-Mittelspitze

(1. Ersteigung über die Ostwand, direkt vom Gletscher aus.) 

Von Kaspar Wieder Salzburg.

 Die Salzburger und Berchtesgadener Alpen in Wort und Schrift bereits vielfach gepriesen, verdienen dies Lob in der Tat. Großzügig an Masse und Gestaltung, Wände, Grate und Türme, den vielgerühmten Bergen südlich des Brenners vielfach ebenbürtig. Eine stattliche Reihe von Wanderungen in obengenannten Gebirgsgruppen erschloß mir eine Fülle ihrer Geheimnisse und Schönheiten.

Ein herrlicher Wintertag im Gebiete des Watzmanngletschers zunächst des westlichsten „Kindes“. Dem Eise des Gletschers entsteigt die Ostwand der Mittelspitze, hunderte von Metern türmt sich eine Flucht prachtvoller Platten zum höchsten Gipfel. Durch Jahre als unersteiglich in Geltung, lockte ihr Prachtbau ganz einfach unwiderstehlich. In voller Wucht und Höhe zeigt sich die schneebelastete Wand. Mit hohen, platten Mauern erhebt sich der massige Bau aus dem Gletscher, ein riesenhaftes Band gewaltiger Breite und Länge krönt diesen Abschnitt.

Der rötlich gelbe Wandteil unter dem untersten Drittel des Riesenbandes , wird, bis herab zum Gletscher, von einer versteckten, hohen Rinne durchrissen, welche den Einstieg vermittelt. Einbuchtungen, Schroffe Mauergürtel fasst regelmäßig, von schmäleren Bändern unterbrochen , bilden die weitere Signatur zum Ziel umworbenen Bergeshaupt. Vom sftarten »Heiß“ unterstützt, fand ich den auch einen Pfad zurecht, dessen mögliche Begehung keinen Zweifel litt.

Befriedigt stecke ich also meine Skizze und talabwärts gleite ich in flotter Fahrt. Die bisher fälschlich als „Ostrwand vom vom Gletscher aus“ bezeichnete Route, führt über den aufs Massiv der Mittelspitze mit Watzmannkindern verbindenden Grat in die Südabstürze des Berges und über diese zum Gipfel. Route vom Jahre 1868 durch den Ramsauer Führer Josef Berger mit A. Kaindl-Linz und I. Pöschl-Wien.

Drei Monate später 29. Mai 1920. Vier Uhr früh die Schapbachalm. 1040 m mit Hermann Lapuch-Salzburg verlassen standen wir trotz ermüdender, säumender Schneewaterei, 3 Stunden später etwas

überhalb der Gletschermitte,  gerade gegenüber der gelbbrüchigen, niederdräuenden Einstiegsrinne in „unsere“ Ostwand. Die vielerorts lagernden Schneemassen ließen keinen Zweifel über den Ernst unseres verfrühten Unternehmens. Gleich einem umgestürzten Schiffskiel ragte am  B. hoch im Gipfelmassiv am obersten Schneeband eine riesige Wächte in die Luft und bedrohte somit unsere Anstiegslinie zu zwei Dritteilen aufs schwerste. Hier nun zwischen Angriff oder Rückzug zu entscheiden, oder, drastischer ausgedrückt, zu verhindern, daß die Vernunft mit der Leidenschaft durchbrenne, fiel mir übel auf Herz und Hirn.

Wir wagten indes den großen Wurf, das Glück ward uns hold und es gelang. Nach etwas mehr denn fünfstündigem, schweren gefährlichem Ringen mit wassertriefenden Fels, Eis und Schnee, arg bedroht von fallenden Steinen und abgebrochenen Teilen der Gipfelwächten, standen wir am Ziele. Erfreut und ergriffen ob all des Gewaltigen Ernsten, das uns zu durchleben soeben beschieden gewesen, genossen wir – ausnahmsweise ungestört – aus ragender Rinne den Lohn unserer Mühen.

Daß die soeben angedeuteten Verhältnisse nach der in der Hauptsache beendigten Schneeschmelze wesentlich günstiger sein mussten, ward mir klar, und dünkt es mir zweckdienlicher, eine Fahrt unter solchen Umständen ausführlicher zu schildern.

17 Juli 1921. Mit den Herren Hauptlehrer I. Gmelch, Justizrat G. v. d. Pforndten-Traunstein und Fr. Weiser, Salzburg wandere ich von »Dorf“ Königssee zur Kührointalm 1458 Meter. Eine unangenehme Ueberraschung auf diesem Wege verursachte die doch kaum so vordringliche, wohl zwecks Umgehung des Jagdhauses Herrnroint durchgeführte Weg bezw. Markierungsänderung. Ziemlich steil, fast schnurgerade, führt dieser „Schinderweg“ in schweißtreibendster Art zur Höhe.

Bei den Hütten von Kühroint lange vergebliches Bitten um Nachtquartier. Freilich, nachdem wir erfahren, wie alpine Wildlinge hier zur Winterszeit gehaust, begriffen wir deren Abneigung, jemand zu beherbergen, voll und ganz. Bergsteiger, Alpinisten, im guten alten Sinne, sind derartige Gelichter nicht. Hoffentlich überlebt sich diese tief bedauerliche Periode der Verrohung und Verwilderung.

Vielversprechend ward der junge Tag geworden als wir 5.20 Uhr morgens auf dem die Kührointalm mit dem Mitterkaser verbindendem markierten  Wege bergwärts schritten. Wir folgen selben etwa 15 Minuten, biegen bei der ersten deutlichen Weggabelung links ab, um später dann, stets auf mehr oder minder deutlichen Steigspuren ins Blockgewirr des eigentlichen Watzmannskares selbst zu gelangen. Wir schwenken mählich recht ab, ersteigen den in der Karmitte aufragenden, begrünten Felskopf und streben nun geradeaus dem Gletscher zu.

3 Stunden vor der Alm unfern eines den Gletscher durchbrechenden Felshanges kurze Rast. Erwartungsvoll blicken wir zu unserer, in erhabener Ruhe und Größe ragender, von einem Meer aus Licht und Sonne umflossenen Ostwand empor.

Wir brechen auf. Der im spitzen Winkel zur Einstiegsrinne emporziehenden Gletscherecke steuern wir zu, knapp links der im Firn untertauchenden, hangenden Platten. 8 Uhr früh. Eine Randkluft ist nicht vorhanden, leicht wird die Rinne erreicht und klettern, nach abermaliger kurzer Rast, zu einer plattigem Verschneidung empor. Die Kletterei ist kaum sonderlich schwierig, doch erheischt das noch nicht beseitigte, teilweise etwas lockere Gestein erhöhte Vorsicht. In enge verschneidende Plattenwinkel nun an kleinen, doch festen Griffen hinauf und weiter in gerölliger Rinne zum Ende derselben bei einem vorragenden, von einem mächtigen Blocke gekrönten Felskopfe. Knapp unter denselben zerschellte ein aus großer Höhe kommender Stein, das einzige, welches wir zu beobachten tagsüber Gelegenheit hatten. Eine Steintaube am Beginn der Einstiegsrinne, sowie ein solider Steinmann am bereits erwähnten, das Rinnenende bezeichneten Felsblocke. bilden die ersten Merkmale der richtigen Fährte. Das größte Fragezeichen der Tur. die untersten allerorts senkrechten, teilweise überhängenden Mauern, ward also ohne besondere Schwierigkeit gelöst. Von schulterähnlichem Vorsprung an die 20 m aufwärts schreitend, gehts dann auf schönem Bande rechts, so ungefähr wagrecht an stets wasserdurchströmten Rinnsal vorüber und hinaus zur schneefreien Terrasse am Beginnen des linksaufstrebenden Riesenbandes. Hier traten nun Kletterschuhe in Dienst. Füllte den mittleren Teil des Bandes auch ein mächtiger Schneewall, verbürgte der größtenteils schneefreie Außenrand hierfür ein rasches, hindernisloses Höherkommen. Zum 2. Male betraten Menschen dies gigantische, iahrtausendalte Wunderwerk schaffen der Kräfte im Weltall. Voll freudiger Zuversicht betreten wir die glattgescheuerten, von zahlreichen, vielfach geknickten Komelüren durchfurchten Platten. In verblüffender Länge durchzieht es, anfangs von ungewöhnlicher Breite, später etwas schmaler werdend, ohne die geringste Neigung nach außen fast die ganze Länge der Ostwand. Sicher haftet der Kletterschuh an den Rillen und Runsen des Gesteines, nirgends fand ich Großartigeres als an diesen ungeheuren Plattenschüssen. Dabei mangelt es keinesfalls an geeigneter verläßlicher Sicherungsmöglichkeit. Allmählich verbreitert sich der Schneewall, knapp am Rande des gewaltigen Abgrundes mit ergreifendem Tiefblick zum Gletscher, geht’s weiterhin völlig unschwierig zur Höhe.

Nun hat auch dies ein Ende. Ein großer Schneeschild ragt über, den Rand ins Leere und verrammelt brutal den sicheren Weiterweg. Darüber hin in geschlagenen Stufen zu wollen, verbot die einfachste Vorsicht. Gelegentlich der ersten Ersteigung wagten wir überhaupt nicht den schneefreien Außenrand in der unteren Bandhälfte zu betreten, hackten und kletterten vielmehr in geradezu abenteuerlicher Weise an die 200 Meter in der tiefen, von phantastisch geformten Eis und Schneedraperien gefährlich verzierten Randkluft empor.

Wieder angetan mit den schwerschrötigen Nagelschuhen, schlage ich eine Reihe solider Stufen in steilendem Schneehang zur Rechten, komme hierdurch ewige Spalten in die Quere, nach deren etwas heikler Ueberwindung uns eine wasserdurchträubte Schneemulde kurzen, ungemütlichen Aufenthalt gewährte.

Etliche Stufen an fast senkrechter Schneewand brachten uns dem Bereiche dieses völlig regelrechten Gletscherbruches. Im Winkel der Wand, entlang eines niederen Schneewalls, eine Seillänge in eine Plattenmulde empor, welche den wieder vorteilhaft empfundenen Schuhwechsel gestattete.

Die Glätte der Platten erfährt hier eine erhebliche Steigerung, eigentümlicherweise aber nicht deren Schwierigkeit. Wir queren abermals zum Rande hinaus, geniessen einen unvermittelten Tiefblick zum Gletscher und streben dann über aufgelöste Felsen dem Bandende zu. Zwischen dem vor uns stehenden Turm – Bandwächter – links und der Hauptwand rechts, durchsteigend jenseits einige Schritte abwärts und die Querung ist beendigt. Knapp links von einer niederen Stufe durch eine lichte Rinne gerade unter einem großen, schützenden Ueberhang empor. Vereinsamt steht hier seit mehr denn Jahresfrist unser Steinmann, seine Karten hatten sich nicht vermehrt — wir sind heute die zweiten Ersteiger.

Kurze Rast ist allseits willkommen. Prachtvoll der Blick in die hehre Landschaft. Es ist 11 Uhr mittags. Etwas mehr denn bis Hälfte der Wand wurde in drei Stunden erklommen. Die bisher in langen Quergängen gewonnene Höhe wird, nun von einer mehr geraden Linie abgelöst. Den mächtigen Ueberhang zur Linken klettern wir durch eine leichte Rinne an einem markanten Felsbach vorüber, steigen wenige Schritte ab und befinden uns, schwach rechts haltend, alsbald in einer breiten Einbuchtung unmittelbar in der Fallinie der Mittelspitze.

Ueber sehr steile, jedoch vorzüglich fest- und gutgriffige Felsen, klimmen wir inmitten wildgroßartigen Felsengrundes empor bis nahe an die vom Schmelzwasser des obersten Schneebandes durchströmte tiefe Schlucht.

Einen Versuch, auf diesem verhältnismäßig kurzem Wege zum Gipfel zu gelangen, gab ich, in Kürze gänzlich durchnäßt infolge Uebermacht des Wassers, auf. Diese Wegänderung, welche rechts (nördl.) des Gipfels enden würde und, wie ich feststellen konnte, ohne weiteres Durchführbar wäre, verliert eben infolge dieses Uebelstandes jede praktische Bedeutung. Wir wandten uns daher links (südl.) kletterten auf dem aus drei übereinander gelagerten Schichtbänken bestehenden, fast schneefreien Bande der Südkante zu; bei einem niederen, spitzen Felszahn wird diese betreten. Ein Prachtblick bietet sich hier dem Stürmer der Ostwand: Unbehindert ist die Schau in die 1800 Meter hohe Riesenwand von St. Bartholomä, auf 1300 Meter hoher Südwand thronend, ragen gotischen. Türmen gleich, die Säulen der Watzmannkinder ins strahlende Licht.

Ueber einer Reihe hoher Felsgalerien erblicken wir im Norden die Plattenburg des Hochecks. Weit im Osten die gletscherstolzen Felsriesen des Dachsteins, desgleichen in ihrer stillen und doch so erhabenen Schönheit die seenreichen, gipfelgewaltigen Höhen der Niederen Tauern und weiter gen West die Riesen des ewigen Eises. Im Lande der Dolomiten sah ich nichts Schöneres.

Prüfend und wägend betrachteten wir vor Jahresfrist den schroffen Gipfelbau; als sturmfestes Bollwerk von grauen, senkrechten Platten schwingt sich derselbs zum nahen Ziele auf. Auf schönem Bande kamen wir damals um die Kante in eine seichte Buchtung, durch diese an sehr schwierigen, ausgesetzten und kleingriffigen Platten gerade aufwärts haltend, zu blockbesezter Kante und über diese zum Gipfel. Heute obwaltet diesfalls keine Sorge und diesen Umstand« möchte die verminderte Aufmerksamkeit zuzuschreiben sein, welche mich auf ein wohl tiefer liegendes, jedoch bequem gangbares Band geraten ließ.

Da nun meine Gefährten keinerlei Wert auf Fallinienpraxis legten, suchten und fanden wir für die letzten paar Seillängen auf bedeutend leichterem, gleich herrlichen, luftigen Kletterfels den Weg zum Ziele. Auf dem Bande mit wundervollem Blick zum dunklen Grunde der Eiskapelle und des Königssees hinschreitend, verlassen wir dasselbe knapp vor seinem Endes und klettern über völlig senkrechten, plattigen Fels gerade empor. Jenseits einer tiefen Schlucht erblicken wir die ersten Werke schaffensfroher, bergfreudiger Menschen: Die Drahtfeile des Gipfels. Sonderbar! Welch mächtige Freude lösen doch diese in uns. Gipfelsüchtiges Sehnen trieb uns jedoch weiter. Abermals auf plattigen, ausgesetzten Felsen empor; schwach rechts haltend, wird die blockige Kante und auf ihr leicht und rasch Berchtesgadens höchste Zinne 2714 Meter erklommen.

Ein Uhr Mittag ist’s. Fünf Stunden hatten wir vom Einstiege bis hierher benötigt, eine Zeit, welche ohne weiteres bedeutend gekürzt werden kann. Wir hatten und machten es nicht eilig. Es wurden auch gelegentlich der 3. und 4. Ersteigung durch die Berchtesgadener Aschauer, Schelle und Schuster, sowie den Salzburgern Reumanr, Dr. Nopper, Frl. Doppler und Schifferer wesentlich kürzere Zeiten erzielt. Doch hat dies nichts zur Sache.

Ein ungefähres Urteil über diese Tur soll m folgende Worte gefaßt fein: Steingefahr ist, wie bei allen derart ausgedehnten mächtigen Wandfluchten vorhanden. Doch ist diese im Allgemeinen kaum besonders bedenklich. Steine, welche infolge menschlicher Gedankenlosigkeit ihren Weg zur Tiefe nehmen, bilden ja eine Gefahr für sich.

Dagegen kämpfen bekanntlich auch Götter vergebens. Gerölle liegt nur im oberen Teil der Einstiegsrinne. Bänder und Platten bestehen aus gutgriffigem, kahlen, harten Fels. Die bis zum späten Frühsommer auf den Bändern lagernden, langsam abschmelzenden Schneemassen, lassen eine genußvolle Durchkletterung nicht vor Ende Juni empfehlenswert erscheinen. Als günstigster Stützpunkt kommt wohl die Hütte des Mitterkasers und, falls auf Nachtlager gerechnet werden kann, die Hütten von Kühroint in Betracht. Am bequemsten allerdings ist die Uebernachtung im Watzmannhause. falls man sich mit dem 400 Meter betragenden Höhenverluste, welchen der Abstieg ins Watzmannkar erfordert, abzufinden vermag. Dasselbe gilt sowohl für Turen auf den kleinen Watzmann, (Westwand, Südwestgrat), als auch für die Ersteigung oder Überschreitung der Watzmannkinder.

An Großzügigkeit, landschaftlicher und tektonischer Schönheit mit der Bartholomäwand wetteifernd, an technischer Schwierigkeit ihr ebenbürtig, zählt diese Bergfahrt als leuchtender Edelstein im Kranze lebensfroher Bergerinnerungen

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