Mit Josef Aschauer und Elisabeth Dabelstein auf der Wiederroute

Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins, 1924

Die Wieder-Route

Von Elisabeth Dabelstein

 

Mit edeln Purpurröten

Und hellem Amselschlag,

Mit Rosen und mit Flöten

Stolziert der junge Tag!

F. Mener.

 

Ich stand am Herd und schaute der Mutter des Freundes zu, wie sie den Tee für unsere Feldflaschen mit Zucker und Rum würzte. Er selbst lehnte in der offenen Hoftür und prüfte beim letzten Licht des versinkenden Sommertages langsam und sorgfältig das Seil, das in diesem Jahr zum ersten Mal wieder benutzt werden sollte und das mir bekannt und gewohnt genug geworden war.

„Mei,“ seufzte die Mutter auf, „i weiß halt nimmer, was i dazu sagen soll — immer und immer gehts Ihr auf die Berg und allweil die wildesten müssens sein!“

Ich selbst wußte auch nicht, was ich dazu sagen sollte. Es war so behaglich gewesen, all diese letzte Zeit, wo ich allein im Hagengebirge herumgestrolcht und dann in die Hochkaltergruppe hinübergewechselt war. Aber mit dieser Behaglichkeit würde es nun vorbei sein, und nebenbei gesagt, es war gar nicht auszudenken, wie der Tag morgen verlaufen sollte, denn der Freund schwieg sich über Genaueres von unserem Ziel hartnäckig aus und sagte mir: „Ich führ Dich schon an ein schönes Platzerl!“ Irgendwo zwischen Himmel und Erde.

Schön, ja, das mußte ich selbst an diesem verzagten Abend zugeben, schön waren seine Patzerl allerdings.

„Weißt Beppi, i glaub fast, die Lili hat so recht keinen Schwung.“ fuhr die Mutter fort.

Joseph hob seinen Krauskopf und sah kritisch hinüber. „Dös war a Schlager, kein Schwung nicht!“ spottete er.

„Bleibts daheim und rastets aus!“ sagte sie, aber ihr Junge erklärte unumstößlich:

„Na, Muader, dös geht nicht. Aufi müssen mir, da kannst nix machen.“

Aufseufzend schraubte sie die Flaschen zu und schickte uns hinüber ins kleine Landhaus, wo mein Stübchen gegenüber dem der Söhne des Hauses lag. Wir packten das letzte in die Rucksäcke, und als wir uns schon niedergelegt hatten, kam die liebe Frau noch und stellte uns einen Rudel zum Frühstück bereit.

Es war vor drei Uhr und noch tiefdunkle Nacht, als wir dann vor eben diesem Rudel saßen. Entsetzlich schnarrend hatte der Wecker geraffelt, hohläugig hatte mich die ungelöste Frage dieses Tages angestarrt, als ich den Freund mit sanftem Puff geweckt hatte. Nun brodelte der Tee auf dem Spirituskocher und der Junge aß in Gemütsruhe eine Scheibe Rudel mit Marmelade nach der andern — nachts um 3 Uhr, wenn man noch halb schläft, wie kann man es nur? —

Wir waren fertig. Ueber den kleinen Hof und durch den Gang, den ein fast venezianisch anmutender Bogen überwölbt, an der Schnitzwerkstätte vorbei, traten wir auf die stillen Straßen Berchtesgadens hinaus. Jetzt waren sie einmal frei von all dem vielen fremden Volk, das sich hier sonst bewegt und mit seiner Buntheit nicht in das Bild solches Alpenstädtchens paßt, so frei wie sonst nur im späten Herbst und ersten Frühling, den wir darum liebten.

Letzte Sterne über einem Sommermorgen und Wandertag scheinen uns immer selten klar und leuchtend zu sein, und an diesem Tag waren sie es noch ganz besonders. Sie blinzelten freundlich zu diesen zwei Menschen hinab, deren rascher Schritt in so gutem Takt zueinander klang, die sich so gut kannten, daß jenes Schweigen zwischen ihnen war, das aus selbstverständlicher Kameradschaft entspringt. Und als die Sternlein sahen, daß es stetig vorwärts ging und es nichts weiter zu beobachten gab, da erloschen sie und überließen die Herrschaft dem sich mählich nähernden Tagesgestirn.

Die Nebel über der Königseer Ache hingen noch dicht, und ihr Wasser sah an diesem frühen Morgen so kalt aus, daß wir unwillkürlich zusammenschauerten und schneller gingen. Aber es wandert sich köstlich, wenn so ein sprudelnder Bach an unserer Seite sein Lied plätschert von der Höhe dort oben, aus der er kam, von der Ebene in der Ferne, zu der er will und von deren Trostlosigkeit der muntere Gesell so wenig weiß wie wir von den Jahren, die vor uns liegen — nun, froh wollen wir sein, daß wenigstens heute unser Weg die umgekehrte Richtung hat!

Ein fleißiges Bäuerlein steht in seiner nassen Wiese und beginnt zu mähen. Ich will daraufhin etwas Landwirtschaftliches zu meinem Freunde sagen, aber ich kann mich nicht aufraffen, und die Dinge ringsum reden auch so eindringlich mit mir, daß ich sie nicht unterbrechen kann. Da ist eine Bank, auf der einst zwei Leutchen zu sitzen pflegten, die jetzt nicht mehr beieinander sind. Und da ist inmitten blumenreichster Matten ein trauliches, weißes Haus, in dem nicht das Glück, bewahre, in dem eine ältere Schulvorsteherin wohnt, die Schuld daran hat, daß diese Bank jetzt leer bleibt. Ich kann ein Lachen nicht unterdrücken — was zwitschert doch die Meise auf jenem Buchenast dort? Wahrhaftig: „’s kommt wieder, ’s kommt wieder, bald, bald, bald.“ Nun, das muß ich Joseph denn doch erzählen, zumal er am Ende an der Sache beteiligt sein könnte!

Die Schönau liegt hinter uns, und gleich darauf nimmt unser Wog einen so mutigen Anlauf hinauf gen Herrenroint, daß uns die ersten Schweißtropfen auf die Stirn treten. Man kann es wohl kaum schildern, dies fröhliche Steigen dem jungen Tag entgegen — wie da die Kraft im wohlgeübten Körper erwacht und im mühelosem Spiel Höhe gewonnen wird. Nur in ein paar Liedern klingts an und da

jauchze ich hinaus, wie es mir gerade kommt:

Wir wollen zu zweit ausfahren

Ueber die Berge weit,

Jenseits zu den klaren

Gipfeln der Seligkeit! —

Hier auf diesem Wege zum Watzmann gibt es ein kleines Fleckchen, das wiederzusehen mich jedesmal unendlich erfreut, und das zu dem Lieblichsten gehört, was ich in den Alpen überhaupt getroffen habe. Eine Bergwiese ists, schon ziemlich weit oben, von machtvollen, dunklen Fichten umstanden, sanft geneigt und von verlorener Einsamkeit, da die gewöhnlichen Anstiegswege sie nicht berühren. Die langen, üppigen Halme dieses Grasteppichs kennen scheinbar keine Sensen und wiegen ihre schlanken Aehren sorglos im Morgenwind. Hier scheinen die Blumen niemals aufzuhören zu blühen und immer, wenn Ich drüberhin ging, in der Morgenstunde beim Ausstieg und abends zur Heimkehr, lag Tau auf ihr, so rein und frisch, daß ich auch jetzt wieder die Hände nah davon werden lasse und sie so gekühlt gegen mein heißes Gesicht drücke. Ich möchte einmal einen langen, törichten Tag über auf ihrem Grunde liegen und zusehen, wie die steigende Sonne die Tautröpfchen wegküsst, wie die Falter über ihre Blüten taumeln und die Schlange, schillernd und sündhaft schön, lautlos übers Moos gleitet. Ich werde den Duft der Tannen atmen und den Ruf des Kuckucks zählen. Und wenn ich satt wäre von all der kleinen Lieblichkeit, dann würde ich hinübersehen zu all den gewaltigen Bergen, die der Blick von hier schon frei erreicht. Der Untersberg, der alte Märchenerzähler, blaut inmitten des weiten Tales, und Göll und Brett winken zu ihm herüber, daß das Zauberreich ihrer Felsen dem Bergsteiger noch wunderbarere Tore öffnet, als fein Schoß einst dem sterbenden Kaiser Karl.

Nach Süden zu schließt sich das Hagengebirge an, in lauter, grauen, ebenmäßig gestalteten Formen, die ihre ganze Schönheit für den Schiläufer aufbewahren. Ich würde müde werden von all dem Schauen, und eh ichs denke, liegt Mondnacht über meiner Wiese, ein Reh zieht äsend herüber, und wieder, fällt der Tau. Wenn ich einst älter bin, will ich mich an dieses, Fleckchen erinnern und zu ihm hinaufsteigen und in all der stillen Feierlichkeit an die Zeit denken, wo ich flüchtig an ihr vorüberzog, so wie heute.

Kurz vor Herrenroint grüßt einmal ganz kurz zwischen den Stämmen des Hochwalds die Schönfeld spitze herüber, und ich gehe nie vorbei, ohne auf sie zu achten, war sie doch mit ihrer, schlanken, formenschönen Pyramide der Lieblingsberg meiner, ersten Wanderjahre hier. Bei der Jagdhütte dann kommen wir zuerst in den vollen Sonnenschein des strahlend schönen Morgens. Die Felsen des Großen und Kleinen Watzmann rücken uns näher und wirken in dieser starken Verkürzung fast ein wenig plump und tölpelhaft. Aber gleich darauf nimmt uns der Wald wieder auf, der sich erst bei den Almen von Kühroint lichtet. Glockengeläut, träge sich erhebende Kühe und über den Hütten aufsteigender blauer Rauch kann uns, nicht verlocken, den raschen Schritt zu hemmen. Wir sind vernarrt alle beide, in die bleichgrauen Felsen des Watzmann, der hier schon bedeutend mehr von seinen Riesenwänden enthüllt als in Herrenroint.

Immerhin ists noch ein gutes Stück, bis wir vom Verbindungsweg nach Mitterkaser scharf links abbiegend und dann lange — zuerst noch durch schütteren Wald — steil ansteigend, den unteren Blockwall des Kars erreichen, wo wir uns nach drei Stunden scharfen Marsches zu einer Rast, die nur kurz war — denn hierher dringt noch kein wärmender Sonnenstrahl und wir zittern bald vor Kälte — mitten in Felder blühender Alpenrosen ausstrecken. Der Freund hebt lächelnd hervor, wie gut es ihm taugt, daß nun wieder jemand bei ihm ist, der die Butterbröte für ihn zurecht macht! Ueber diese realistische Erwägung schleicht sich unversehens eine kleine Traurigkeit ein und setzt sich da nieder, wo die beiden andern sonst zu sitzen pflegten, wenn wir hier rasteten. Denn vier Kameraden sind wir gewesen — der eine schnürte sein Ränzlein und grüßt nun nach altem deutschen Brauch in einer Hansestadt das Handwerk: die andere, deren goldbraune Augen immer solch merkwürdige Verwirrung im alpinen Tatendrang meines Freundes, solch Verlangen nach vielen und langen Rasten auszulösen pflegten, ist unausdenkbar fern, mehr als der halbe Kontinent liegt zwischen uns und ihr. Nun, komm, wir, zwei, die wir zurückgeblieben sind, wir wollen dennoch den sonnigen Tag genießen wie einst!

Wir rücken nun mehr und mehr zwischen jene unsagbar gewaltigen Mauern, die aus stolzer Höhe jählings zum schutterfüllten Boden des Watzmannkars abstürzen. Zu unserer Linken baut sich die Westwand des Kleinen Watzmann fast in einer einzigen Plattenflucht völlig senkrecht empor. Sie liegt im Schatten und scheint eisigen Hauch auszuatmen, der das Düstern, das ihr eignet, doch hervorhebt. Er ist ein wilder, und eigensinniger Bursche, dieser „Kleine“, und wer ihn nur über seinen gutmütigen Nordgrat bestieg, auf den Latschengassen und Moospolster sonst hinaufleiten, der ahnt nicht, wie kalt und böse er ins Kar hineindroht und welch dämonisch lockende Aufgabe er dem Kletterer stellt, der es nicht lassen kann, die naßglatten Gesimse, die bauchigen Ueberhänge und die in die dicken Kalkbankungen sich einstemmenden, dunkel trotzigen Kamine mit den Augen zu suchen, aneinander reihen, bis er es eines Tages nicht mehr erträgt und hinauf und hindurch muss wie einst mein Freund, der sie als erster in der Fallinie des Gipfels durchstieg und mit dem ich noch nie hier vorbeiging, ohne daß wir stehenblieben und hinauf starrten und zu tiefst empfanden: welch ein Weg!

Zur rechten erstrecken sich in der reichen Fülle ihrer majestätischen Bergschönheit die Ostwände des Großen Watzmann, in edler Linienführung gewinnt der Berg vom Watzmann Haus seine Höhe am Hocheck und führt seinen wuchtigen und zerklüfteten Grat über 1000 Meter weit bis zur Südspitze, um erst hier in der Schönfeldschneid sich wieder zu senken. Zwei Drittel der so begrenzten enormen Flanken fallen ins Kar ab, das südliche Drittel dagegen wirft sich ohne Unterbrechung und Absatz 2000 Meter tief zur Eiskapelle hinab und bildet die Östwand im engeren Sinn die durch den Anstieg von Bartholomä ihre wilde Berühmtheit erworben hat. Dieser Teil ist vom Kar selbst aus nicht übersehbar, dagegen zeigen sich die Abstürze vom Watzmannhaus an bis südlich über die Mittelspitz hinaus so ausbauend und so gewaltig, daß man an ihrem Bau herumrätselt, ohne doch einen Ueberblick zu gewinnen.

Zwischen Haus und Hocheck werden sie durch ungeheure Plattenlaqer charakterisiert, deren bleiches Grau von einem dünnen Geäder schmaler, schwarzer Erosionsrinnen überwogen wird Zwei kleine Dauben überragen sie, nur einem scharfen Auge von hier aus erkennbar — ein schlichtes und dochberedtes Denkmal, für die, die bis in den Tod getreu waren.

Unbegreiflich an diesem Sonnentag ist meinem Freund die Erinnerung an Schneesturm und Kälte, die sie hervorrufen und deren Widerschein augenblickslang seine Züge verdunkelt.

Unter dem Hocheck durchsetzt eine Reihe tiefer Kamine die Wand, die sich teilweise schluchtartig nach unten erweitern und in ihrer hochtypischen Art in dieser an Mannigfaltigkeit der Formation doch überreichen Wand einzig sind. Wendet sich der Blick südwärts, so ist es ein Riesen-Band, nach dem Erstbegeher Wieder-Band genannt, das ihn sofort gefangennimmt und bezaubert. Von Norden nach Süden ansteigend, zieht es breit und mächtig durch die unermeßliche Mauer, und Schneeauflagerungen, die in den meisten Sommern nicht abtauen, betonen durch ihr schimmerndes Weiß noch seine ununterbrochene Länge. Wem bei seinem Anblick nicht das Herz schneller schlägt in dem jähen Verlangen, darüberhin zu steigen, der trank noch nie den Atem des Felsens.

Zwischen diesen beiden Wällen nun hocken im Firn des Gletschers vor uns jene fünf prächtigen Felsklötze, die „Watzmannskinder“. Bei dem Gerippe einer Wettertanne, das da, wo die scharfkantigen Felsenblöcke längst alles Pflanzenleben zurückgedrängt haben, noch vereinsamt emporragt, gewinnt man den ersten Blick auf sie. Dominierend zeigt sich dem überraschten Steiger hier plötzlich das schmale und schöne Felisenriff der  Watzmannjungfrau (4. Kind), dem Ankommenden seinen messerscharfen Bug, den Nordgrat, zukehrend. Wie sie uns eine alte Liebe aus vergangenen glücklichen Wandertagen ist, so ihre beiden kleineren Nebengipfel (3. und 5. Kind), die sich auch zu dieser Jahreszeit tief unter den Firn ducken, aus schneefroher Schizeit. Nach links hin (Osten) stellen die zerrissenen Zacken des 2. und 1. Kindes die Verbindung mit dem Kleinen Watzmann her, während sich nach rechts (Westen) Mischen 3. Kind und Ostwand in sanftem Bogen eine Scharte spannt, deren Schnee geradezu blendend vor dem tiefen Blau des Himmels steht.

Und über der Wildheit all dieser Gipfel, Grate und Wände, über den Geröllhalden und den weiten Schneefeldern liegt, beruhigend wie eine weiche, zärtliche Hand, die Stille des einsamsten Hochgebirges.

Wir standen am Saum des Firns, als mein Freund sich zu mir wandte und lachte:

„So, Du. Ostwand, Kleine Watzmann-Westwand oder Überschreitung der Kinder, jetzt such Dir aus.“

Die Zaghaftigkeit von gestern Abend überfiel mich hinterrücks.

„Weißt Du,“ schlug ich vor, „ich bleib halt hier und schau Dir zu, wie Du kletterst und geh ein bißchen zur Scharte hinauf“.

„Ja. gibt’s denn dös al“ höhnte er. „Moanst, das tat mi freuen? I alloan? Ja was tut er denn!“

„Ich zwing’s am Ende nicht. Beppi,“ sagte ich kleinlaut.

„A, Schmarrn, da fehlt nix, das sag Dir i. Also?“ war die ganze Antwort.

Was halfs, ich mußte Umschau halten wie weiland der alte Hesekiel unter den Töchtern Israels. War es ein Wunder, daß sie in ihrem Mantel von Sonnenglanz, durch jene Schneestreifen so zierlich verbrämt, mit ihrer stolzen und erdabgewandten Gebärde, sie, die Watzmann-Ostwadb, mir als das Köstlichste ringsum erschien? Und dann jenes herrliche Band, wie konnte ichs nur vergessen! „Die Wieder-Route!“ bat ich den Jungen, der alte Bergherrlichkeit zu verschenken hatte. Mit einem Schlage versank das letzte Bedenken, und jene starke Freude, die allen Sieg in sich trägt, verband uns wieder, wie sie es noch auf allen Türen getan hatte.

Wir hielten uns nun mehr nach rechts. Die Steilheit der langen Schneehänge nahm rasch zu.

„Kannst Di hier noch derfangen, wenn’s abi geht?“ Ich meinte es wohl und gab auch keine Veranlassung zu derartigen Reflexionen. Dennoch seilten wir an, als wir uns über einer Randkluft bewegten, und ich erkannte darin meines Freundes alte Gewissenhaftigkeit wieder, die jedoch niemals irgendwie die Ueberlegenheit andeutet, aus der sie erwächst.

Ich wußte nun wieder, daß niemand meine besten Kräfte so wachrufen imstande ist wie dieser junge Mensch, und unbegreiflich war mir die leise Angst, die mich noch gestern vor der Kühnheit seiner Wege erfüllte. Wir sprachen noch niemals von diesen Dingen miteinander, aber ich denke, sie sind ihm bewußt wie mir, denn man lernt sich kennen am Berg, bis ins letzte. Und der frohe Blick zum andern hinüber und der feste Händedruck, die haben ihre tiefen und guten Gründe.

Der Einstieg zu unserer Route, die vom Ansatz der Wand im Kar direkt zur Mittelspitze hinaufführt und somit einen Höhenunterschied von 800 Meter in strenger Felsarbeit überwindet, befindet sich ziemlich verdeckt in einer Schlucht, die man vielleicht am ehesten an ihrem rötlichen Gestein und ihrer süd-nördlichen Richtung — man hat die Wand also zur linken — erkennt. Das Gestein ist gut gestuft, aber von Geröllauflagerungen nicht ganz frei. Man gewinnt rasch an Höhe, von der man jedoch ein wenig aufgeben muß, um über plattigen Fels, der heute naß war, den Beginn des Bandes zu erreichen, das über uns in umgekehrter Richtung emporführt. Hier kam ein breiter Strahl Schmelzwasser aus großer Höhe mit solcher Gewalt herabgedonnert, daß wir nur mit Müh? in ihm unsere Flaschen auffüllen konnten, und ich mir einige Schelte wegen naßgewordener Kletterschuhe holte.

Mir schlug das Herz laut vor Freude und Erwartung, als wir jetzt, nach der Wendung südwärts und Ueberwindung einiger luftiger Steilstufen, das Band betraten. Und wirklich, ich weiß nichts, was ich der Eigenart und der Macht dieser Szenerie vergleichend an die Seite stellen kann. Bis zu 40 Meter breit, von einigen tiefgekerbten, seltsam verästelten Kannelüren überspannen, völlig glatt, ohne jede Steigung nach außen, steigt dieses Band ohne Unterbrechung durch die Wand empor. So wie ein edles Thema durch alle Sätze einer Symphonie geht, so wie ein starker Wille schlicht durch die Wirrsal des Lebens führt, so leitet dieses Band hinauf. Es haftet der Landschaft etwas Heroisches an. und wollte man es versuchen, ihr Bild in Worte zu spannen, so würde man unwillkürlich ein schweres und feierliches Versmaß, eine alte und klassische Sprache wählen. Uns segnete die Sonne den Weg. Sie ließ die mächtigen Schneewälle, die noch im Winkel der Wand lagen und uns stellenweise bis scharf an die Kante drängten, in weißer Pracht aufleuchten. Sie machte das Gestein so bleich und eintönig, daß es sich kaum abhob vom Schnee. Zuerst tastete der weichbesohlte Fuß zögernd auf den Platten, bald aber gewöhnte er sich an diese scheinbare Haltlosigkeit und vertraute den kleinen Rauhheiten, die das Auge nicht mehr wahrnimmt. Hand in Hand gehen wir mühelos nebeneinander empor, ohne Worte und hingegeben an die Erhabenheit unseres Weges.

Er findet sein Ende an einem Turm („Bandwächter“), der — zierlich und fast wie künstlich aufgerichtet — einer Hermessäule an griechischer Straße gleicht. Nun links von ihm über die senkrechte Wand in köstlichster Kletterarbeit empor und man stößt bald auf einen Steinmann, der in einer alten Blechdose die Karten der Ersteiger enthält. Sie waren völlig durchnäßt und von braunem Rost überzogen. Da wir hier rasteten, hatten wir Muße genug, sie sorgfältig zu trocknen und ihr Datum abzulesen. K. Wieder (Salzburg) führte den Anstieg am 29. Mai 1923 unter erschwerenden Umständen mit H. Lapuch zum ersten Mal durch und wiederholte ihn dann am 17. Juli 1921 mit drei anderen Begleitern. Die nächste Durchsteigung erfolgte am 31. Juli 1921 durch Aschauer, eben meinem Gefährten, mit dem Berchtesgadener Schelle. Wir konnten nicht alles entziffern, obwohl wir uns viel Mühe gaben, um festzustellen, wie oft die Wand in den drei Jahren ihrer Erschließung begangen worden ist. Nach dem, was wir herauslesen konnten, handelte es sich heute um das 7., höchstens 10. Mal, was in Anbetracht der überragenden Schonheit dieser Wand, ihrer bequemen Lage und ihrer klettertechnisch äußerst günstigen Struktur erstaunlich gering ist.

Vielleicht liegt es daran, daß die benachbarte Bartholomäwand sie in den Schatten stellt, aber doch wohl zu unrecht, denn wenn auch die Länge derselben dieser ohne Weiteres den Vorrang als alpine Leistung sichert, so trägt doch die Kletterei, von einigen wenigen schwierigeren Stellen in der Bartholomä-Wand abgesehen, naturgemäß denselben Charakter. Und was, die landschaftliche Schönheit betrifft, so waren der Freund und ich uns darin einig, daß es uns ganz unmöglich sei, der einen oder der andern den Preis zu erteilen. Gewiß ist der Tiefblick beim Bartholomäweg ein größerer, dafür hat man aber hier zu seinen Füßen den schimmernden Gletscher, mit dessen Weihe und prachtvoller Ausdehnung der schmutzige Firn der Eiskapelle am Rande der Wälder von Bartholomä nicht wetteifern kann. Ja. hier hat man noch den gewaltigen Blick in die ungeheure Wandflucht der Südspitze, der, wenn man sich in ihr selbst befindet, in den nächsten Wellen von Fels hängen bleibt, durch die man sich emporringt.

Ein leichter tänzelnder Wind gesellte sich zu uns, als wir nun weiterstiegen und milderte die Glut der Mittagsstunden, in der es mehr und mehr schwül lauerte. Es war so froh, so leichtgemut, dieses Klimmen im Fels, und obwohl ich es lange kenne, entzückte mich die Sicherheit, mit der mein Kamerad kletterte, doch wieder aufs neue. In seinen Bewegungen war jene Mühelosigkeit und Feinheit, die nur organisch werden und wachsen kann. Mit langausgreifenden ruhigen Bewegungen wurde er der schwersten Stellen Herr und die unbegreifliche Grazie, mit der er sie überwand, hätte mich wohl manches Mal über die Natur dieser Stellen getäuscht, wäre er dann nicht stehen geblieben, um sichernd das Seil einzuziehen. Er hatte eine eigene Art, die Hände behutsam auf das Gestein zu legen, um sich kaum merkbar in seichten Rillen zu verklammern, fast wie Streicheln war es. Niemals entstand die bange Frage, ob das Ziel unser würde — das stand ‚ganz außer Zweifel. Nirgends ward unser Weg zu jenem verbissenen und trotzigen Ringen, das den Berg wie einen Feind bezwingt. Wohl war es immer noch redlicher Kampf, wohl leuchte die Luft oft schwer in meinen ausgepumpten Lungen, aber es blieb genug Freiheit, sich der kleinen vereinzelten Blüte zu erfreuen, die ihr zartes Köpfchen in einer Ritze wiegt; genug, um dem huschenden Flug der Gipfeldohlen nachzusehen, genug auch, um den dürstenden Blick in die Weite der Berge hinauszusenden. Die Zeit steht uns still, und jede Unrast verklingt: alles was uns groß und begehrenswert dünkt, ist unser.

Den langen Quergängen, aus denen sich die untere Anstiegshälfte bewegt, folgt in der oberen eine mehr direkte Richtung. Man hält sich vorwiegend in einer seichten Schlucht in der Fallinie des Gipfels. Da er ein „Vielbesuchter“ ist, so ergibt sich für den „Ostwandler“ das zweifelhafte Vergnügen, üppig wuchernder Steinschlaggefahr. Aber auch durch die menschenfernen Teile der Wand hörten wir mehrfach lange und schwere Schläge gehen.

Nicht ganz unerwartet — denn sie hatte schon ins Kar zu uns herabgefunkelt — sahen wir uns dann plötzlich einer Schneewand von solcher Steilheit und so grauenvoller Ausgesetztheit gegenüber, daß wir augenblicks lang zögerten — wir waren ohne Pickel. Dann wechselten wir das Fußzeug, klemmten uns vorsichtig auf die kaum handbreite, nasse Felskante, die zwischen Schneerand und senkrechter Tiefe das einzige war, was an festem Boden blieb und sahen empor. Der Freund griff noch einmal prüfend an den Seilknoten auf seiner Brust und begann, ganz gerade aufzusteigen. Er hieb in kraftvollen Stößen die Füße fest ein, aber der Schnee war naß und breiig. Große Stücke flogen zischend in den freien Raum hinaus. Da war es ein Gedanke, der mich brennend schmerzhaft durchzog: nicht, daß, wenn der Schnee unter dem Freund vollends ausbrach, ich, da ich ihn nicht würde halten können, an sein Schicksal gebunden war, o nein, aber daß alle, die ihn verloren, ohne Weiteres glauben würden, ich habe es durch mein geringeres Können verursacht, das bereitete mir eine so bittere Qual, wie sie unsere Phantasie nur in Augenblicken höchster Nervenanspannung entstehen läßt. Viel Zeit hatte ich jedoch nicht. In den guten Spuren des Freundes, den leichten Seildruck wie tröstend Empfindend, folgte ich ihm nach. Fast berührte das Gesicht den Schnee, so groß war die Steigung des Hanges, und der gesenkte Blick fiel an den Füßen vorbei, ohne Hemmung Hunderte von Metern hinab ins Kar und hinüber in den selig blauen Himmel. Es waren nur zwei Seillängen.

Dieser blaue Himmel aber hatte uns noch ein seltenes und fesselndes Abenteuer zugedacht, das unseren schönheitstrunkenen Weg mit knisterndem Flammenspiel krönen sollte.

Keine Wolke war zu sehen, kein jäher Wind nahm sich auf, nur um die höchsten Zinnen unseres Berges lag ein bläulicher Dunst, der sich mehr und mehr zu verdichten schien und wie Mittagsglut über dem Grat flirrte. Wir hatten einen steileren Wandabsatz überwunden und befanden uns auf schönen, aber trittarmen Platten etwa 30 Meter unter dem Gipfel, als, mein Gefährte plötzlich ruckartig aufschnellte und im gleichen Augenblick erregt ausrief: «Elmsfeuer!“ An die Lebhaftigkeit seiner Aeußerungen gewöhnt, hob ich geruhsam die Augen von meinem Griff — noch heute sehe ich diese Rille im Plattengrund vor mir! —, um nach dem Gipfelkreuz auszuspähen, da ich annahm, sein Ausruf bezöge sich auf dieses. Aber es, war noch nicht in Sicht und erst als ich in das erschrockene, Gesicht des Freundes sah, begriff ich, daß über dem Bergfirst eine Hochspannung lag, die durch ausströmende Elektrizität verursacht war und in deren Region wir nun gerieten. Joseph hatte beide Hände auf die nackten Schultern gepreßt, wie um einen unangenehmen Schmerz zu mildern und zum ersten Mal sah ich ihn überrascht und ratlos. „Die Jacke über!“ schrie ich ihm zu, und in Windeseile riß er sie aus dem abgeworfenen Rucksack. Ich hatte ihn inzwischen eingeholt und in dem Augenblick, als ich die Hände hob, um ihm behilflich zu sein, fuhr es wie mit taufend Nadeln stechend durch sie hin durch und wie gelähmt ließ ich sie sinken — nun war auch ich im Bereich der elektrisch geladenen Atmosphäre, deren Abgrenzung gegen die von der Spannung freien Zone sich hätte haarscharf feststellen lassen können. Knisternd sträubten sich unsere Haare auseinander und bei mir so toll, daß ich sie kaum unter die seidene Zipfelmütze bändigen konnte, die ich nun hervorzog. Alles, was wir zunächst instinktiv empfanden, war: Eile! Und so stürmten wir über die letzten Platten ohne weitere Achtsamkeit und Seilbedienung. Mit jedem Schritt aber, den wir höher hinauf kamen, nahm die Stärke der elektrischen Ausströmungen zu.

Manchmal fuhr sie so stark und jäh durch uns hin, daß wir die Handflächen gegen die Kopfhaut drückten, um die unerträgliche, reißende Spannung in derselben herabzudämpfen. Oft, wenn man die Hand ausstreckte, um Halt im Gestein zu finden, fuhr es schlagend in sie und ich mußte dann alle Energie aufwenden, um dennoch zuzupacken. Nebenbei suchte ich in meinem Gedächtnis nach Resten alter Physikkenntnisse aus der Schulzeit — leider waren sie äußerst dürftig — um zu ermitteln, was zu tun wohl jetzt das Beste war. Ich erinnerte mich etwas unbestimmt über tückische und durchaus nicht harmlose Rückschläge gelesen zu haben, gleichzeitig dämmerte mir die keineswegs tröstliche Behauptung aus irgend einem Bergbuch, daß die Blitzgefahr auf Graten und Gipfeln in allgemeinen nicht unterschätzt werden dürfe. Aber vorwärts!

Keuchend kamen wir auf der Mittelspitze an. Einen Augenblick mußten wir verweilen, um den Puls ein wenig ausschlagen zu lassen. Das eiserne Gipfelkreuz brauste ein ein Gießbach, alle Besucher schienen längst umgekehrt zu sein. Diese völlige Einsamkeit hier oben, das dröhnende Eisen neben uns und der weite lachende Himmel ringsum, der von nichts zu wissen schien und sich sorglos über all die unendlichen Bergzüge spannte, die das Auge von hier erreicht, hatte etwas Grandioses, und wir empfanden und genossen es. Doch liessen wir uns nicht die Zeit, uns in’s Buch einzutragen, sondern hasteten weiter.

Mit jeder Minute wurde unsere Lage verschärfter und unheimlicher. Alle Sicherungen surrten und wir hielten uns nach Möglichkeit von ihnen fern. In den Gratscharten war es stets erträglicher, stiegen wir aber wieder empor, so schien sich die fremde Gewalt, der wir wehrlos preisgegeben waren verdoppelt zu haben. Manchmal rissen diese Eindrücke so alt den erregten Nerven, daß deren Widerstandskraft vielleicht in Frage gestellt worden wäre, wenn nicht die Aufmerksamkeit durch die Eile, mit der wir uns über den Grat kämpften, abgelenkt worden wäre. Mir schien es selbst kaum glaublich, daß wir knapp 12 Minuten, nachdem wir die  Mittelspitze verlassen hatten, ins Unterstandshüttchen auf dem Hocheck schlüpften.

Auch hier war es leer. Hochatmend sahen wir uns an — so waren wir doch noch nie gelaufen! Das Tempo in der Wand selbst, für die wir 235 Kletterstunden brauchten, kam mir jetzt kaum noch rasch vor! Waren mir in der Hütte sicher? Wir wußten es nicht, aber es ist merkwürdig, daß vier dünne Bretterwände genügen, um dem Menschen die Illusion zu geben, er sei allen feindlichen Mächten der Natur entronnen.

Während wir das Seil einpackten und die Nagelstiefel anzogen, polterten die ersten schweren Gewitterschläge um uns. Das Feuer der Blitze blendete in solcher Nähe, daß uns jedes Mal eine körperliche Erschütterung spürbar ward. Dabei fiel kein erlösender Regen, und die Ferne blieb klar und sonnenlichterfüllt. Wir hatten beide etwas Aehnliches noch nicht erlebt und standen noch lange unter dem Eindruck dieses dämonischen Ausklanges unseres Weges.

Eine Stunde später stießen wir im Watzmannhaus wieder auf Menschen, die ersten heute. „Gnädigste“, sagte ein älterer Herr zu mir, neben dem ich meine Suppe löffelte, „gehen Sie nicht auf die Mittelspitze, höchstens aufs Hocheck, es ist kein Weg für Damen.“ Ich bewahrte mein kleines Geheimnis, aber mein Gefährte lachte belustigt auf.

Von der Falzalm führte uns ein Jagdpfad schnell nach Kühroint hinüber. Dann aber wurde mir ein Umweg nach Norden nicht geschenkt, mußte ich doch notwendig die Schütte sehen, die die jungen Schiläufer Berchtesgadens mit köstlichem Eifer sich hier erbauten und die mein Freund mir schon in den glühendsten Farben geschildert hatte. Vielleicht, wenn ich noch besser Schi laufen lernen würde, dürfte ich auch einmal darin übernachten — ja, und nebenbei, das Schiklubmitglied durfte ich es natürlich so wie so! Nun, ich war dann doch sehr neugierig, aber keine Mauer, kein Dach schimmerte uns durch die Stämme entgegen — vorerst war von der Hütte nur ein kleiner viereckiger Fleck Waldboden vorhanden, den man von Moos und Gestrüpp befreit hatte und in dessen Mitte ein großer zentnerschwerer Stein sich wichtig und hinderlich machte. Die wackeren Erbauer der zukünftigen Hütte, mir wohlbekannte junge Berchtesgadener, streckten sich behaglich im Grase daneben, neckten ein „Deandl“, das sie sich mit heraufgenommen hatten — natürlich! — und rauchten Zigaretten.

„Der Stoan!“ seufzten sie, „der Stoan, so a Mistviech von Stoanl“ Ich bewunderte alles und lobte sie mit viel Begeisterung, und ein kleines Narrenglöckchsn bimmelte freundlich und vergnügt dazu.

Der Heimweg durch die stillen Wälder und den Frieden des Tales war dann der letzte Ton in der Melodie dieses Tages. Am Westhimmel brannte flammend und groß der Abend.

 

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