Georg von Kaufmann und Beda Hafen – Über die Rampe unter der gelben Wand zum Gipfel

WATZMANN-OSTWAND

Ein schöner Durchstieg südlich der Gipfelschlucht

Von Georg von Kaufmann

Es gibt viele Bergsteiger, die mit Klettergelüsten einer vergangenen Entwicklungsperiode der Klettertechnik anhängen, einer Zeit, die den Felshaken als selten gebrauchtes Sicherungs- und Rückzugsmittel betrachtete und die noch keine akrobatischen Fähigkeiten zur Bezwingung von Felswänden verlangte. Diese Kletterfreunde müssen mit Bedauern feststellen, daß alle Fahrtenberichte über Neutouren in Stellen des fünften und sechsten Schwierigkeitsgrads schwelgen, und daß die Kletterfahrten alten Stils, die sich mit den Schwierigkeitsgraden III und IV bescheiden, fast keinen Zuwachs erfahren. Zumindest werden solche Fahrten nicht mehr der Veröffentlichung für wert befunden; denn Pioniere in scheinbar unbekannten Wandteilen finden sich immer wieder, und es gibt kaum eine Felsritze, die nicht schon auf Brauchbarkeit zum Klettern untersucht worden wäre. Das gilt auch von den Wänden und Türmen der Watzmann-Ostwand. Besonders ihr südlicher Teil hat es mir seit Jahren angetan mit dem gewaltigen Südostgrat, der sich links der Gipfelschlucht zur Höhe türmt. Das viele Herumsteigen und Suchen in dieser Wandgegend, das, Berichten im „Bergsteiger“ (September und November 1951) nach, noch mehrere Leute beschäftigt hat, ließ sich schließlich zu einem Durchstieg großzügiger Art und direkter Linienführung verbinden. Aus dem Bild auf Seite343 läßt sich die Route unschwer erkennen. Die Führe wird alle Liebhaber großzügiger Kletterfahrten voll befriedigen, denn sie verbindet wahren Klettergenuß in großartiger, ernster Felslandschaft (Schwierigkeit nicht über IV) mit einzig schönen Ausblicken. Allerdings hat die Fahrt drei Nachteile, die nicht verschwiegen werden sollen: Das Gestein ist, namentlich an den leichteren Stellen, brüchig und oft schuttbedeckt, die Kletterei ist sehr lang — zehn bis zwölf Stunden von der Eiskapelle — und der Ausstieg ist nicht am Gipfel der Südspitze, sondern etwa 30 Minuten unterhalb am Schönfeldgrat. Andererseits ist der Weg leicht zu finden, und man hat immer wieder Gelegenheit, auf leichtere Wege hinüberzuqueren.

Die herrlichen Herbsttage des Septembers 1951, die manche Entschädigung für den verregneten Sommer brachten, gaben Freund Beda Hafen und mir Gelegenheit, den Durchstieg erstmalig zusammenhängend auszuführen. Wir sind erst mit dem Vormittagsschiff nach Bartholomä gefahren und haben somit von vorneherein bei dem sicheren, warmen Herbstwetter ein Biwak im mittleren Teil der Wand ins Auge gefaßt. Die Kletterausrüstung bestand nach alter Väter Sitte in 30 Meter Seil und einigen wenigen Haken, von denen wir nur zweimal zu Sicherungszwecken Gebrauch machten. Der Weg zur Eiskapelle, von dem noch Noe in seinen Alpenbeschreibungen schwärmt, sieht aus wie ein Volksfestplatz nach dem Schlußtag. Die Massenwanderungen der Autobusbesucher am Königssee haben ihre argen Spuren hinterlassen. Die Butterbrotpapiere und Zigarettenschachteln lassen sich bis hoch auf den Eiskegel hinauf verfolgen. Dann beginnt auf einmal die Einsamkeit und das Wegsuchen. Im neuen Zeller-Führer ist der „Berchtesgadener Weg“, den wir verfolgen wollen, fälschlich in der Falllinie des großen Südostkars eingezeichnet. Man tut besser daran, das Steiglein links des Eises zu verfolgen, das, mehr oder weniger ausgetreten, ohne Steinfallgefahr, in mehreren Schleifen nach Süden ausbuchtend, das Kar erst oberhalb der Abbrüche erreicht. Wir stellen auf Grund der jährlich steigenden Benutzung dieses Steiges fest, daß der Berchtesgadener Weg immer mehr begangen wird. Die Aussprache hierüber bringt uns auf das naheliegende Thema „Biwakschachtel in der Ostwand“: Wir empfinden diese feste Unterkunft als eine Profanierung. Was der Wand in unserer heutigen klettertüchtigen Zeit allein noch den Nimbus wahrt, ist die Weite des Weges, die Verlassenheit am Gipfel. Das Wagnis — ob die Zeit reicht für den Durchstieg, ob die Kräfte langen, ob das Wetter hält — ist an der Wand das Große, Abenteuerliche. Ein Glück, daß das Schachtelungetüm am Südgrat oben aufgestellt und damit die eigentliche Wand vor einem Familienhotel bewahrt wurde.

Unter solcherlei ketzerischen Reden — wir sind beide „Bayerländer“ — haben wir den Fuß der Südostwand erreicht. Bald zweigt der „Münchner Weg“ nach rechts ab, später auch der „Berchtesgadener Weg“, während wir die alte Richtung zum obersten Karwinkel beibehalten. Hier scheint die Kletterwelt zu Ende, und man ist baß erstaunt, daß man im obersten Winkel nach rechts eine verhältnismäßig leichte Möglichkeit des Weiterkommens findet. Der Tourenbericht im „Bergsteiger“, September 1951, Chronik, Seite 103*, enthebt mich einer genauen Wegbeschreibung. Vielleicht darf hinzuge-ügt werden, daß man den obersten Karwinkel auf einem Band von links nach rechts gewinnt, dann aber nicht zur gelben Wand weiter vordringt, sondern über den Vorbau nach rechts in Plattenrinnen und über Steilschrofen an Höhe gewinnt. Die Verschneidung der gelben Wand mit dem Vorbau erreicht man erst bei der untersten auffallenden Höhle, und es empfiehlt sich, sie hier wie weiter oben immer wieder nach rechts zu verlassen. Jedenfalls hat man ein Gefühl der Befreiung, wenn man der gelben Wand und der Verschneidung entronnen ist. Man steht dann auf einmal in friedlichem Schuttgelände am Ende eines riesigen Bandes, das sich leicht begehbar nach Norden zur Gipfelschlucht absenkt. Etwas links über sich erblickt man den Beginn des gewaltigen Felsgrates, über den die Route weitergeht. Wir entdeckten wenige Meter über unserem Ausstieg einen verlockenden, steilen Kamin, der senkrecht zum nächsten Band hinaufleitet, und hielten es für nicht schwierig, über dieses Band den Grat zu erreichen; aber wir hatten berechtigte Bedenken, ob sich da oben im Steilgelände ein würdiger Biwakplatz finden ließ. Das Biwak in der warmen Herbstnacht hatten wir uns schon in den schönsten Farben und Stimmungen ausgemalt, und wir hatten vor, es feierlich zu begehen und auszukosten. Das beglückende Erlebnis der Kriegsnächte unter dem Sternenhimmel des Balkans, Kretas oder Italiens — eine der wenigen schönen Erinnerungen an die heimatfernen Kampfzeiten — sollte wieder Auferstehung feiern. So wählten wir mit Vorbedacht eine geräumige, weit offene Höhlung etwas unter unserem Standplatz mit entzückendem Tiefblick auf den Königssee als Schlafgemach. Es zeigte sich zwar in den folgenden Stunden, daß die überschwengliche Erinnerung an selige Sternennächte die Härte der steinigen Unterlage und einen gewissenTemperaturrückgang gegen die Morgenstunden weitgehend außer acht gelassen hatte, aber wir konnten doch nach dem Aufstehen in der Morgendämmerung, alles zu-sammengenommen, von einem genuß- und eindrucksvollen Erleben sprechen. Der vorerwähnte Kamin, dessen Durchsteigung den neuen Klettertag eröffnete, zeigte sich als nicht ganz einfach. Er dürfte die schwerste Stelle der ganzen Tour bedeuten. Allerdings blieb uns beim Aufseilen der Rucksäcke das Seil stecken, und es ist ja bekannt, daß derlei unangenehme Zwischenfälle nicht nur zu einer falschen Einwertung, sondern sogar zu einer Verbitterung gegen gewisse Kletterstellen führen können. Genau umgekehrt verhielt sich dann der Grat. Er beeindruckte uns mit schauerlichen Abstürzen und Türmen bis zum Verzagen und zeigte dann Immer wieder lächelnd ein Falte in seinem vielgliederigen Aufbau, in dem ein leichtes Fortkommen möglich war. Zum größten Teil liegen diese Möglichkeiten links des Grates (südlich). Nur einmal muß die Gratkante selbst über einen schwierigen Zacken erstiegen werden. Nach längerem Emporturnen voll freudiger Überraschungen und schönster Ausblicke geht der Grat zu Ende, das heißt er geht über in eine sehr steile, abweisende Wand, Als wir vor Jahren zum erstenmal an dieser Stelle standen, hat mich der ganze Ernst der Ostwand erfaßt: Die unterste Wandstufe war durchsetzt von rostigen Haken; gerissene Seilschlingen und ausgewaschene, gefranste Seilenden hingen über den schwarzen Fels. In dem steilen Gratgelände unter der Wand waren mühsam kleine Steinmauern errichtet worden, mehr ein Werk der Verzweiflung als des Schutzes. Ob sich hier eine schwierige Bergung abgespielt hat oder ob die Wegunkundigen, die in der Gipfelschlucht vom Normalweg nach links abgeirrt sind, hier an der schweren Wand die Bitternis der späten Umkehr aufgezwungen erhielten, ich weiß es nicht. Aber es ging mir ein beengender Schauer durchs Herz, den ich in der freien Wand auf eigenen Wegen so gar nicht kenne und der immer verbunden ist mit Menschen und Menschenwerk — und sei es nur ein rostiger Haken — im Fels. Es ist wie ein unterbewußtes Ahnen, daß der Mensch im felsigen Steilgelände in einen ihm nicht zugehörigen Lebensraum vordringt, eine wohlgemeinte natürliche Hemmung, die unsere klassischen Vorfahren als göttliches Verbot auslegten. — Nachdem verbotene Früchte immer die besten sind, läßt sich trotz dieser kletterabträglichen These die Leidenschaft der Klettergilde gut erklären. Diesmal hat das Wandstück für uns leider den abenteuerlichen Reiz der Neuheit verloren. Während wir damals ruhelos in größter Spannung und angesichts der vielen Rückzugsbaken mit wenig Hoffnung ins Unbekannte vorstießen, hatten wir nunmehr Muße, bei einer ausgiebigen Brotzeit die einzigartige Aussicht zu genießen sowie auch weniger wertvollen Empfindungen, wie dem reichlich warmen Sonnenschein oder den durchgekletterten Fingerspitzen, Beachtung zu schenken. Wir wissen ja: Eine halbe Seillänge links abwärts geht es über einen Felsblock und ein kurzes Band unschwierig zum Einstieg in eine Kaminreihe, die ziemlich weit südlich der gratverlängernden Kante senkrecht aufwärts führt. Es macht einem hier nur noch die Länge der Kletterei, weiter oben auch das brüchige Gestein zu schaffen; die technischen Schwierigkeiten sind nicht erheblich. Endlich ist dann der Südgrat erreicht. Wer auf dem Normalweg durch die Ostwand als sportgestählter Schirennläufer der überwundenen Höhe nicht achtet und von einem „Spaziergang“ spricht, der kann sich auf dieser kletterreichen Route wieder einen Eindruck davon holen, was 2000 m Wand bedeuten. Wir jedenfalls beschließen zunächst, uns an der Biwakschachtel hinzusetzen und uns am Regenwasser des dort befindlichen Eimers zu laben, bevor wir den Gipfel ganz ersteigen. Aber die Biwakschachtel ist weg. Sie steht nicht mehr an ihrem letztjährigen Platz unter dem obersten Schönfeldgrat. Frische Schleifspuren weisen nordöstlich hinunter in die Wand—Richtung Massiger Pfeiler*. Ein wenig Bitternis ist noch in mir am Gipfel. Aber der klare Herbsttag ist viel zu schön, als daß die Trauer um die zerbrochene Reinheit und Würde der Wand die Oberhand behalten könnte. Wir preisen den September als Bergsteigermonat im allgemeinen und den September 1951 im besonderen: So weit, so klar haben wir den ganzen Sommer noch von keinem Gipfel geschaut. Auch der Durst wird noch gelöscht, im Abstieg, an der Quelle im „Schönen Feld“. Voll wie selten ergießt sie sich über unsere erhitzten Glieder — ein herrliches Labsal nach Stunden der Entbehrung.