Thiersch und Engelmann – Variante in der Ostwand des Hochecks

Watzmann Hocheck (2669 m).

Einstieg zur direkten Ostwand am 18. Dezember 1932 durch (F. Engelmann) und F. Thiersch.

In der Ostwand des Hocheck bildet eine riesige Schichten-Verwerfungslinie sofort den Anhalt für einen idealen Durchstieg. Die oberen zwei Drittel wurden von J. Aschauer und Bugl erstmals begangen, dieser neue Einstieg führt durch das unterste Drittel und kommt dann über leichtes Gelände zu der bereits bekannten Route von Aschauer. Vom Lawinen-Kegel am untersten Ende der Verwerfungslinie auf- und absteigend nach links, über den Grund der Verwerfung 15 m hinüber. Über die hier ansetzenden steilen Platten 20 m nach rechts hinauf und auf einer Rampe etwas abwärts nach rechts in den Grund der Verwerfung. Über den hier ansetzenden Überhang hinauf und dann über etwas leichteres Gelände und unter Umgehen der schwierigen Stellen im Grund der Verwerfung durch geringes Ausweichen nach links, hinauf auf das leichte Gelände unter den oberen zwei Drittel der Verwerfung. Durch Winkel und Kamine hinauf an den Beginn der Schwierigkeiten und weiter wie in „Zellers Führer durch die Berchtesgadener Alpen“.

Zeitaufwand etwa 1 ½ Stunden.

Nationalsozialisten am Watzmann

Berchtesgaden und der Watzmann, der Watzmann und Berchtesgaden. Diese Verbindung brachte, angesichts der besonderen Rolle Berchtesgadens in der Zeit des „Dritten Reiches“, auch nationalsozialistische Prominenz an den Berg.

Man darf jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass die Ereignisse über eine Bergfahrt Hermann Görings am vierten Watzmannkind nicht unbedingt realitätsnah geschildert worden sind.

Sektion Mark Brandenburg, Oetzthaler Bergbote, Nr. 363, 40. Jahrgang, Oktober 1938

Auszug aus Erich Gritzbach, „Hermann Göring – Mensch und Werk“

„Gerade dem Bergsport, der wie der Skilauf einen ganzen Mann erfordert, gilt seine besondere Liebe. Mitten aus der Arbeit heraus und ohne jedes Training durchkletterte er noch vor zwei Jahren, unbekümmert um Hagel und Gewitter, die Ostkante der Watzmann-Jungfrau. Seine Begleiter wollten umkehren, aber sie bissen auf Granit, er freute sich sogar über die schlechten Wetterverhältnisse, welche die Bergtour zu einer besonderen Leistung stempelten. Jahr für Jahr steigt er einmal hinauf von den grünen Ufern des Obersees durch Hochwald und Latschenfelder, über Almen und Steilhänge zu seiner kleinen Jagdhütte in der Röth. Wenn er hier oben, in diesem 2000 Meter hohen paradiesischen Hochtal, in das die Teufelshörner und die Watzmannriesen hineinschauen, mitten in der wilden Felsromantik in aller Herrgottsfrühe den Sonnenaufgang betrachtet oder starken Gemsböden nachpirscht, ist Hermann Göring in seinem Element.“

Hermann Göring im Nachstieg, oder am Fixseil, an der Jungfrau. Im Hintergund die Westwand und der Südwest-Grat des kleinen Watzmanns.

Wetterumschwung – Tod in der Ostwand

Salzburger Volksblatt, 22.06.1922

Das Drama auf dem Watzmann

Wie gestern gemeldet, hat der Watzmann am Sonntag mehrere Todesopfer gefordert, und zwar wurden zwei getrennte Partien, die über die Watzmann-Ostwand dem Gipfel zustrebten, durch das Unwetter besiegt. Die erste Partie, die trotz des schlechten Wetters schon um 3 Uhr früh von St. Bartholomä am Königssee aufbrach, um den Aufstieg über die  Watzmann-Ostwand, eine der schwierigsten Kletterpartien in den Berchtesgadener Kalkalpen, zu unternehmen, bestand aus dem Kaufmann Josef Aschauer aus Berchtesgaden, dem 21-jährigen Angestellten der Einkaufsgenossenschaft Berchtesgaden Josef Stangassinger, dem gleichaltrigen Bautechniker Karl Diensthuber aus München und dem Bauschüler Wilhelm Pöhlmann von dort. Die vier erreichten trotz des inzwischen eingetretenen Witterungsumschlages unter unsäglichen Anstrengungen, im Schnee und Regen vorwärts tastend, die letzte Steilwand vor dem Watzmanngrat, als Diensthuber nachmittags halb 4 Uhr infolge der Überanstrengung nicht mehr weiterkonnte und erschöpft zusammenbrach. Er war an Herzlähmung gestorben, seine Kameraden konnten sich selbst nur mühsam weiterschleppen und mußten die Leiche liegen lassen. Am Watzmanngrat war der Schneesturm noch fürchterlicher, die Touristen waren nicht mehr in der Lage, ihre Rucksäcke zu öffnen, da ihre Glieder gefroren waren. Durch wiederholte Stürze erlitten sie kleinere Verletzungen, die sie sich nicht mehr verbinden konnten, so daß sie arg zerschunden in eisiger Kälte weiterirren mußten, hinab zum Hocheck und dem Münchner Haus zu. Da stürzte auch nächst dem Hocheck der junge Stangassinger, ums ich, zu Tode erschöpft, nicht wieder zu erheben. Aschauer blieb bei ihm. Pöhlmann suchte abwärts zu steigen. Der weiße Tod forderte sein zweites Opfer: Stangassinger starb gegen Abend an Überanstrengung, auch waren ihm die verletzten Gliedmaßen bereits erfroren. Aschauer, touristisch und gesundheitlich noch in halbwegs guter Verfassung, aber auch stark er schöpft, hatte die Knie und Füße erfroren. Er unternahm, seiner drei Freunde ledig, allein den Abstieg und erreichte auch glücklich das Watzmannhaus.

Kurz nach Aufbruch der vier jungen Leute, gegen 4 Uhr früh, hatte eine weitere Partie von drei Mitgliedern der Akademischen Sektion München, der bekannte Alpinist Otto LeixI, Dipl. -Ing. aus München, Dr. F. Kaußler aus Landau in der Pfalz, 24 Jahre alt, und der 23-jährige Dr. Karl Ehrensperger aus Traunstein, von Bartholomä aus die Watzmann-Ostwand zu ersteigen versucht. Aschauer und Pöhlmann erzählten, daß diesen der Durchweg durch die Ostwand gelungen sein mußte, denn sie wurden von ihnen 200 Meter unterhalb der Mittelspitze beobachtet. Da sie aber am Montag vermißt wurden, begab sich Montag mittags eine aus acht Mann bestehende Rettungsgesellschaft zur Suche über das Wimbachtal und Watzmannhaus nach dem Grat, wo ein Rucksack gefunden wurde, der von dieser Partie stammt. Am Dienstag fand man die Leichen der drei Touristen am „Hohen Einstieg“, kaum eine halbe Stunde oberhalb des Watzmannhauses, erfroren.  Alle drei waren von der Ostwand-Südspitze herübergewandert und brachen kurz vor dem Ziele erschöpft zusammen.

Am Dienstag trugen die Berge bis auf 1700 Meter herab Neuschnee. Schon am Samstag nachmittags ging über den östlichen Teil Berchtesgadens, die Gern, Metzenleiten, Salzberg und Au ein schweres Hagelwetter nieder, so daß am Sonntag noch Hagelkörner auf den Feldern gefunden wurden. Im Treibhaus des Distriktskrankenhauses wurden alle Fensterscheiben eingeschlagen.

Über die Katastrophe, die die Partie Leixl, Ehrensperger, Kaußler betraf, wird noch gemeldet: Sonntag früh gegen 4 Uhr machte sich trotz der ungünstigen Witterung (es herrschte dichter Nebel und der Regen fiel seit Samstagnachmittag ununterbrochen) eine Partie von drei Mitgliedern der Akademischen Sektion München, darunter der bekannte Alpinist Dr. Otto Leixl von München, aus, um von St. Bartholomä aus die Watzmann-Ostwand zu ersteigen. Aus ihrer Partie gelangten sie später in einen fürchterlichen Schneesturm, konnten aber noch unter der wackeren Führung Dr. Leixls die Südspitze erreichen. An der Mittelspitze mußten Dr. Leixl und Karl Ehrensperger den völlig erschöpften und erfrorenen Dr. Kaußler zurücklassen, um sich selbst vor Einbruch der Dunkelheit noch vor dem Tode retten zu können. Aber leider gelang ihnen auch dies nicht mehr. Eine halbe Stunde vor dem sicheren Schutz, dem Münchner Haus, am hohen Einstieg, unterhalb des Hocheck, haben auch sie die Kräfte verlassen; sie sind infolge Erschöpfung und mit erfrorenen Gliedern, ein Opfer ihrer geliebten Berge geworden. Die Leichen der beiden letzteren wurden gefunden, während Dr. Kaußler noch vermißt wird. Er dürfte aber kaum noch unter den Lebenden weilen. Lediglich sein Rucksack wurde gefunden. Die Toten werden am Mittwoch zu Tal nach Berchtesgaden gebracht. Wie Alpinisten berichten, ist es fast unglaublich, daß die Münchner Touristen bei dem furchtbaren Unwetter noch so weit gekommen sind, was nur der guten Führung des Dr. Leixl und der zähen Ausdauer zuzuschreiben ist.

Salzburger Volksblatt, 28.06.1922

Das Unglück auf dem Watzmann

Dr. E. H. berichtet in der „M. A. A.“, daß nach dem Berichte des überlebenden Herrn Aschauer-Berchtesgaden sich das Drama auf dem Watzmann in folgender Weife abgespielt haben dürfte.

Am Samstag, den 7. Juni, abends trafen sich in St. Bartholomä zwei Partien, die eine bestehend aus den Herren Aschauer, Diensthuber, Pöhlmann und Stanggassinger, die andere aus drei Mitgliedern der Akademischen Sektion München, den Herren O. Leixl, Ehrensberger und Kaußler. Beide hatten die Absicht, die Watzmann-Ostwand zu durchklettern. Am Sonntag wurde morgens drei Uhr im Abstande von einer Viertelstunde aufgebrochen. Das Wetter schien günstig zu sein. Durch die über dem Königsee liegenden Nebel blitzten einige Sterne hindurch. Vom alten Biwakplatz an gingen die beiden Partien gemeinsam. Unterhalb der „Schöllhornplatte“ fiel Nebel ein und es begann zu regnen. Trotzdem wurde die Platte ohne Schwierigkeit überwunden und um 7 Uhr das „Zellerloch“ erreicht. In dieser Höhle wurde gerastet, trockene Kleidung angezogen und abgekocht. Die schon ins Auge gefaßte Umkehr wurde aufgegeben, als um 9 Uhr, der Regen aufhörte, die Sonne herauskam und die Wand frei da lag. Um 11 Uhr wurde der „Frühstückstein“ am vierten Band erreicht. Hier fiel wieder Nebel ein, der allmählich in Dauerregen überging. Um 12 ½ Uhr wurde die Gratrippe erreicht, die gerade auf den Südgipfel leitet. Hier vergrößerte sich der Abstand beider Partien, da Dr. Kaußler, der an diesiem Tage in seiner Leistungsfähigkeit anscheinend beeinträchtigt war, von seinen Begleitern gesichert und unterstützt werden mußte. Leixl veranlaßte aber Aschauer, weiter zu gehen und nicht zu warten. Gegen den Gipfel zu ging der Regen in Schnee über, der aber an der warmen, im Windschatten liegenden Wand nicht liegen blieb. Um 3 ½ Uhr erreichte Aschauer, der im letzten Teile Diensthuber hatte ziehen müssen, mit seinen Begleitern den Südgipfel.

Von nun an waren sie der Gewalt des Schneesturms ausgesetzt, die Felsen waren mit Glatteis überzogen, die Tiefe des Schnees wuchs rasch an. Aschauer rieb den erschöpften Diensthuber ab, zog ihm warme Kleider an und gab ihm zu essen, so daß er zunächst wieder ganz gut weiter kam. Während dieser Zeit verständigte sich Aschauer durch Hallohrufe mit Leixl, der schätzungsweise 200 Meter, also etwa eine halbe Stunde, unter ihm war. Beim Aufstieg aus den Mittelgipfel wurde Diensthuber wieder schwach und mußte von Aschauer und Stanggassinger durch den „Kamin“ gezogen und gehoben werden. Auf dem Bande oberhalb des Kamins wurde Diensthuber bewußtlos, wehrte sich aber gegen die Versuche Aschauers und Stanggassingers, ihn zu tragen. Nun wurde Pöhlmann von Aschauer auf das Watzmannhaus vorausgeschickt, um Hilfe auf das Hocheckhüttl zu bringen. (5.45 Uhr.)

Nach vergeblichen Versuchen seiner Gefährten, ihn am Leben zu erhalten, starb Diensthuber um 6 Uhr. Stanggassinger hatte sich bei den Bemühungen um Diensthuber so überanstrengt und wurde durch den Tod seines Freundes so erschüttert, daß ihn Aschauer von nun an ziehen und schieben mußte.

So brachte er ihn etwa bis auf 100 Meter vor dem Hocheckhüttel. (7.15 Uhr.) Hier mußte er ihn liegen lassen und blieb bei ihm. Um 7 ½ Uhr starb Stanggassinger. Aschauer band die Leiche, wie vorher die von Diensthuber, an das Drahtseil an. Aschauer schleppte sich dann auf das Hocheck und stieg zum Watzmannhaus ab.

Kurz vor diesem traf er den Bewirtschafter Gschoßmann und einen Träger, die mit Decken und warmen Getränken zum Hocheckhüttl anstiegen. (8 ½ Uhr.) Da er im Hinblick auf die außerordentlich lange Zeit, die er wegen des Todes seiner beiden Begleiter für den Gratübergang gebraucht hatte,  annehmen mußte, daß die Partie Leixl bei Einschlagen des gleichen Weges ihn hätte überholen müssen, glaubte er, daß diese vom Südgipfel in das Wimbachgries abgestiegen sei und veranlaßte Gschoßmann zur Umkehr.

Am Montag wurden von Berchtesgadener Herren unter Leitung von Herrn Geiger die Leichen von Diensthuber und Stanggassinger bei tiefem Schnee geborgen. Dabei wurde der Rucksack des Dr. Kaußler an der Stelle, wo Diensthuber gestorben war, am Drahtseil angehängt gefunden. Am Dienstag vormittag wurden die Leichen von Ehrensberger und  Leixl eine halbe Stunde oberhalb des Watzmannhaufes, wenige Meter unter dem Grat, auf dessen Ostseite auf einem Bande  nebeneinander liegend gefunden. Sie wiesen keinerlei  Verletzung auf. Kleidung und Ausrüstung waren in gutem, ordentlichen Zustande. Die beiden Freunde scheinen bei einer kurzen Rast eingeschlafen zu sein. Am Mittwoch wurden sie von Mitgliedern der Akademischen Sektion, die zur Bergung zahlreich aus München herbeigeeilt waren, zu Tal gebracht.

Weitere Mitglieder durchforschten mit den Berchtesgadener Herren Aschauer, Geiger und Kurz den Grat nach Dr. Kaußler, jedoch ohne Erfolg.

Hoch anzuerkennen ist die selbstlose und opferwillige Mitarbeit der Berchtesgadener Bergsteiger.

 

Sepp Kurz und Hanna Zernickow auf dem Kederbacherweg durch die Watzmann Ostwand

Der Bergbote (Mitteilungen der DAV Sektion Berlin)

Nr. 8, 3. Jahrgang, August 1951

Aus der Bergwelt

2000 Meter Fels

(Zum Gedenken an Sepp Kurz +)

Von Hanna Zernickow

Freitag, den 28.7.1950. Ein Jahrzehnt ist seitdem vergangen, seit dem Tage, als ich mit Sepp Kurz die Watzmann-Ostwand durchstieg. Genau an dem gleichen Tage und Datum. Eine kurze Spanne Zeit. Doch was ist alles seitdem geschehen! Viele Nöte und Entbehrungen hat wohl ein jeder von uns ertragen müssen. Viele unserer alten Kameraden hat der Tod uns entrissen. Und auch Du, lieber Sepp, weilst nicht mehr unter uns. Du, der Du so manchen aus Bergnot gerettet hast, der Du ein Meister im Klettern und im Skilauf warst, Dich hat der Bergtod geholt! Heuer sollte ich eigentlich wieder mit Dir in den Fels gehen, mit Dir an einem Seil verbunden sein. Nun darf ich nur noch an Deinem Grabe stehen und von dort aus aufschauen zu dem Berge, in dessen herrlicher Ostwand wir Freunde wurden. In meinem Herzen aber bleibst lebendig, Sepp! Du liebtest die Berge so sehr, wie ich sie liebe. Und das verbindet Menschen auch über den Tod hinaus. Noch im vergangenen Jahre fandest Du einen neuen Weg durch die Wand, von der ich jetzt erzählen will, die Verbindung über alle fünf Bänder der höchsten Wand in den Ostalpen. Und nun schalte ich zurück; 10 Jahre früher: Mit dem 4-Uhr-Boot fuhr ich von Königssee nach Bartholomä. Ich hatte bis jetzt zurückgeblickt. Da reißt es mir plötzlich den Kopf herum. Wir sind ganz dicht vor Bartholomä und ich sehe die Ostwand! Das oberste Drittel der Wand ist zwar in Wolken gehüllt, aber mir genügt im Moment auch schon der sichtbare Teil. So gewaltig lebte sie nicht mehr in meiner Erinnerung. Es kommt ja auch immer darauf an, wie man einen Berg betrachtet, ob mit den Augen desjenigen, der nur das schöne Bild in sich aufnimmt oder mit den Augen des Bergsteigers, der dort hinaufsteigen will. Mich hat’s zuerst beinahe erdrückt, aber schon nach ein paar Minuten hatte ich mich an das Bild gewöhnt. Im Wirtsgarten von Bartholomä setzte ich mich an einen Tisch in der Sonne mit Blick auf die Ostwand und fand, daß man in den Alpen lange suchen muß, bis man etwas Ähnliches an Schönheit, Wucht und Größe findet. Gedankenverloren trank ich meinen Kaffee. Da kam mit einem Male ein kleines Finkenhähnchen und lenkte meine Aufmerksamkeit von der Wand auf sich. Der kleine Kerl war so vertraut, er kam auf den Tisch geflogen, setzte sich zierlich auf den Rand meines Kuchentellers und tat sich an dem Kuchen gütlich. Ich ließ ihn ruhig fressen. Dann flog er fort, kam aber gleich wieder, und nun nahm ich ein Stückchen Kuchen in die Hand und fütterte ihn. Ganz ruhig saß er auf dem Tisch und fraß mir den Kuchen aus der Hand, als ob das die selbstverständlichste Sache von der Welt wäre. Lustige kleine Äuglein hatte er, und sein Schwänzchen wippte jedesmal possierlich, wenn er den Kopf beugte, um ein neues Kuchenkrümelchen zu erhaschen. Viel Freude hatte ich an dem kleinen Piepmatz.

Ein letztes Leuchten lag auf dem Rotpalfen, und die Hachelwände waren von einem seltsamen Licht umflutet, das wieder auf Regen schließen ließ. Es war ja auch ein ganz verregneter Sommer, dieser Sommer 1940. Einen Augenblick warten auf der kleinen Landungsbrücke – da kam das Boot auch schon von Salet herüber, und ich fuhr wieder hinaus nach Königssee. In der kommenden Nacht blieb es ausnahmsweise mal trocken. Am anderen Tage war dann das strahlendste Wetter, das man sich denken konnte, und die Sonne schien vom Himmel, als ob niemals dicke Wolken ihn bedeckt hätten. Für den Abend war ich mit Sepp in Bartholomä verabredet. Ich wollte mit dem letzten Boot um ½ 6 Uhr hinüberfahren. Den ganzen Tag war ich daher auf Ausruhen und Kräftesammeln bedacht, denn morgen sollte ja der große Tag sein, an dem ich durch die Ostwand gehen würde. Acht Tage an einem Fleck sitzen und nur kleine Trainingstouren machen, war für mich Vagabund ja auch schon beinahe zuviel. Als ich in Bartholomä ankam, war Sepp noch nicht da. Ich lief ihm ein wenig entgegen, in der Meinung, daß er vom Funtenseehaus kommen würde, daß er seinerzeit bewirtschaftete, und mir dann auf dem Weg begegnen müsse. Sehr erstaunt war ich, als ich mit einem Male vom See herüber aus einem kleinen Boot ein „He, hallo“ hörte. Ein Mann ruderte stehend in dem Boot über den See und winkte mir heftig zu. Ich dachte, gilt das dir?! Dann sprang ich schnell über die Wiese zum See hinunter. Es war tatsächlich der Sepp, der mich erkannt hatte und der mit seinem Boot vom Schrainbachweg nach Bartholomä ruderte. Gemeinsam setzten wir die Fahrt fort. Diese kleine Fahrt war bestimmt die schönste, die ich jemals über den Königssee gemacht habe. Mit einem leisen Glucksen fielen die Tropfen von dem Ruder in das Wasser zurück. Der See war mal tiefschwarz, mal hellgrün, die Ostwand war frei und prangte in ihrer ganzen Schönheit. Die Sonne sandte einen letzten rotgoldenen Schein über den Gipfelgrat des Watzmanns – und tiefe Stille ringsum. Alle Leute, die wir in Bartholomä noch sprachen, waren der Meinung, daß morgen nun bestimmt das schönste. Ostwandwetter werden würde. Das Nachtmahl nahmen wir zusammen in Bartholomä in dem schönen geräumigen Gasthause ein, und dann gingen wir zu der alten Holzstube hinüber, die dem Sepp als Provianthütte für das Funtenseehaus diente. Hier machten wir noch ein Feuer zum Teekochen. Bis das Wasser kochte, ging ich nochmal ganz allein zum See hinunter. Man hat hier das Gefühl, von aller Welt abgeschnitten zu sein. In hellen, kurzen Schlägen rief das Kirchlein die zehnte Stunde, und da ging ich langsam zu unserem Hüttchen zurück, erfüllt von der unaussprechlichen Ruhe und Schönheit der mich umgebenden Landschaft und der Spannung auf die morgige Bergfahrt.

Um ½ 4 Uhr wollten wir aufstehen und um 4 Uhr losgehen. Um ½ 2 Uhr nachts trommelt der Regen aufs Hüttendach! Damit hatten wir nach diesem prachtvollen Abend ja nun am allerwenigsten gerechnet. Weiterschlafen konnte ich jetzt nicht mehr. Ich lag hellwach und dachte immer, wenn es bloß aufhört, wenn es doch bloß aufhört!! Nach einer Stunde hörte das Trommeln dann wirklich auf. Um ½ 4 Uhr rasselte der Wecker. Runter vom Lager und hinaus, das war eins! Es regnete zwar nicht mehr, aber es war unnatürlich warm für eine so frühe Stunde, und dicke, schwere Wolken hingen tief am Himmel. Wir gingen jedoch um 4 Uhr los, um nicht zu früh die Flinte ins Korn zu werfen. Auf dem Firnfeld der Eiskapelle stürzte dann aber wieder das Wasser vom Himmel herunter, so daß wir in einem Affentempo zum Wald rannten und um ¼ vor 6 Uhr in dem Hüttchen landeten. Schnell ein Feuer gemacht, die nassen Sachen zum Trocknen aufgehängt und nochmal auf die Lager hinauf. Dort schliefen wir den Schlaf der Gerechten bis um ½ 8 Uhr. Der Regen hatte aufgehört, und Sepp ruderte mich wieder hinüber zum Schrainbachweg. Ich hatte mich entschlossen, mit ihm hinaufzugehen zur Funtenseehütte, und dort gutes Wetter abzuwarten. So schnell gab ich mich ja nun nicht geschlagen. Das war also am Sonntag früh. Bis zum Donnerstag war das Wetter unsicher. Ich machte allein ein paar Touren im Steinernen Meer, Hundstod, Funtenseetauern usw. Es verging aber kein Tag, an dem nicht zumindest ein Gewitter niederging, wo ich tüchtig gewaschen wurde. Als ich am Donnerstagmittag von einem kleinen Trip aus dem Baumgartl zurückkam, rief mir Sepp zu: „Packens ‚zamm, in oaner Stund steign ma ab nach Barthlmä, i moan, dös Wetter halt.“ Der Walkürenruf konnte nicht schöner klingen, als diese Worte in meinem Ohr. Schnell waren Wetterschutz und Proviant zusammengepackt, und um 4 Uhr stiegen wir ab. Zwischen Unterlahneralm und Schrainbachholzstube ging dann wieder das traditionelle Gewitter los. Aber lange nicht so heftig wie an den Vortagen, und es verzog sich auch sehr schnell, und bald schien wieder die Sonne. Meine Hoffnungen auf Schönwetter waren jedoch merklich gesunken, und als ich nachher mit Sepp im Kahn saß und wir nach Bartholomä hinüberfuhren, jagte der Sturm dicke Wolken über den See. Als wir ausstiegen, war es jedoch schon wieder ruhiger und heller. Weit und breit war kein Mensch auf Bartholomä zu sehen. Die Einheimischen hatten sich längst in ihre Wohnungen zurückgezogen. Ich saß auf einer großen Baumwurzel im See, der jetzt glatt wie ehr Spiegel dalag. Ab und zu sprang ein Fisch hoch, dann spielten eine Zeitlang kleine Kreise über der Stelle im Wasser. Sonst kein Laut. Alle Unruhe, alles Sehnen war für diese halbe Stunde von mir gewichen. Ich war ganz ruhig geworden durch all das Große, das mich umgab. Ich hätte immerzu nur dort sitzen mögen, und mir war es auch beinahe, als säße ich schon tausend Jahre dort. Es ist etwas ganz Eigenes um all die Schönheit in Bartholomä, vorausgesetzt, daß keine lärmenden Ausflügler dort sind. Der kurze, harte Schlag der Turmuhr schreckte mich aus meiner Traumverlorenheit auf. Die Unruhe kehrte zurück und mit der Unruhe das Sehnen und mit der Sehnsucht die Gedanken an die Ostwand, an den morgigen Tag. Ich begann auf das Wetter zu schauen und war wieder von all den kleinen menschlichen Sorgen erfüllt. Der Vorhang, hinter den ich in ein fernes, für uns Menschen nicht erreichbares Land hatte blicken dürfen, war wieder zugezogen. Man hat eben weiter Mensch zu sein und muß das Dasein mit all seinen Freuden und Leiden, mit seinem Hoffen und Warten, seinem Lieben und Sehnen leben und kann nicht von der vorgeschriebenen Bahn abweichen. Aber man wird stark durch dieses Nachinnenschauen. Man ist irgendwie herausgefordert und will sich um jeden Preis das vom Leben abtrotzen, das einem als Ideal vorschwebt und zu dem man sich mit allen Fasern seines Herzens hingezogen fühlt. All das Passive, in das ich vorhin durch die „Schönheit, die man nicht ergreifen kann“, verstrickt war, fiel von mir ab. Ich stand auf, reckte die Arme und war mit einem Male ganz wach. Hell und klingend, wie eine Sturmfanfare fuhr ein Wort durch meine Seele: Watzmann-Ostwand. Ich schlief sofort ein und schlief so lange, bis der Wecker um 4 Uhr sich buchstäblich selbst vom Tisch rasselte und mit einem nicht zu überhörenden Bums zu Boden fiel. Ein Sprung vom Lager, hinein in die Buxen und das Wetter betrachten, war das Werk einer halben Minute. Es war zwar warm, hatte in der Nacht jedoch nicht geregnet, und Mond und Sterne leuchteten durch die Baumwipfel. Wir frühstückten behaglich und in aller Ruhe, packten dann ebenso ruhig Proviant und Wetterschutz zusammen, schulterten die Rucksäcke, verschlossen die Hütte, faßten nochmal auf den Türdrücker, um zu sehen, ob die Tür auch ja richtig verschlossen war, und um punkt 5 Uhr marschierten wir ab. Es kam mir so vor, als ob wir mit all diesem umständlichen Tun das Eigentliche noch ein wenig hinausschieben wollten, um möglichst lange die Situation auskosten zu können, den Aufbruch vor einer großen Bergfahrt. Sepp pfiff leise das Lied vom Westerwald vor sich hin; ich ging schweigend neben ihm solange, bis die Stelle kam „über deine Wipfel pfeift der Wind so kalt, doch der erste Sonnenschein“, diese Stelle pfiff ich dann mit. Mond und Sterne verblassen langsam, die Wand liegt ohne jede Wolke frei vor uns. Wir treten aus dem Wald heraus aufs Geröll, dann auf den Lawinenkegel der Eiskapelle. Um 6 Uhr 15 Minuten haben wir die Randkluft erreicht. Im Osten steigt langsam die Sonne hinter dem Rotpalfen herauf. Gelbgrünrosarot, in allen Farbtönungen leuchtet der Himmel, bis alle Farben in flüssigem Goldglanz ertrinken. Wir haben inzwischen das Seil angelegt und haben nun für nichts anderes mehr Gedanken als für den vor uns liegenden Weg. Die Randkluft war sehr breit. Sepp schlug einige Stufen in den Firn, dann ging es erst an dem Firn hinunter und mit einem weiten Spreizschritt hinüber auf kleingriffigen Fels. Sepp war schon drüben; gerade wollte ich die Reise über die Randkluft antreten, als wir von einem Bergsteiger angerufen wurden, der weiter oben versucht hatte, die Kluft zu überschreiten, was ihm jedoch nicht geglückt war. Es war ein Wiener aus der Bergsteigerriege des OeGV. Er bat uns, ihn mithinüberzusichern. Auch ich überschritt jetzt die Randkluft, und dann holten wir den Wiener. Wir haben ihn auf seine Bitten hin nachsteigen lassen, ohne ihn mit an unser Seil zu nehmen; nur bei den schweren Stellen gab Sepp ihm Seilsicherung. Über leichten, mit Rasen durchsetzten Fels gelangten wir um ½ 8 Uhr etwa zur ersten Terrasse. Hier eine kleine Schnaufpause von 5 Minuten. Da sahen wir auf ungefähr 100 m Entfernung ein Gams äsen. Weiter! Über schmale und breitere Felsbänder, über Blöcke und Geröll gelangten wir zu einem kleinen Wandabbruch, bei dem an ausgesetzter Stelle mit wenig Griffen für die Hand ein sehr weiter Spreizschritt ausgeführt werden mußte, der Leuten mit langen Haxen kein Kopfzerbrechen macht. Aber auch ich kleine Person habe mich ebenso gedehnt – es ist unglaublich, wie lang man sich manchmal machen kann – daß ich die Stelle schnell zu meiner und Sepps Freude überwand. Ein Fußwechsel auf gleichem Standplatz, links etwas hinausfallen lassen, mit der linken Hand etwas weiter oben einen Pfundsgriff erhaschen – und hinüber ist man. Um 8 Uhr standen wir am Beginn des Schöllhornfirnes. Beinhart war der Firn. Es stieg sich gut. Die Neigung fand ich beträchtlich. Ungefähr 45-50 Grad mags sein. Als wir etwa in der Mitte des Firnfeldes angelangt waren, hörten wir mit einem Male ein Dröhnen und Poltern in der Wand, und da kamen auch schon die ersten Brocken und gar keine kleinen. Sie zischten etwa 10 in entfernt von uns den Firn hinunter. Trotzdem man weiß, daß die Wand steinfallgefährlich ist und man mit Steinen zu rechnen hat, bekommt man doch immer wieder einen Schreck.

(Fortsetzung folgt.)

Der Bergbote

Nr. 9, 3. Jahrgang, September 1951

Aus der Bergwelt

2000 Meter Fels (Zum Gedenken an Sepp Kurz +)

Von Hanna Zernickow

(Fortsetzung und Schluß)

Um 8 Uhr 45 Minuten hatten wir die Randkluft an den Schönhornplatten erreicht. Die war lange nicht so schwierig, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Gegenüber der Randkluft an der Eiskapelle war dies direkt ein Kinderspiel. Ein Schritt vom Firn auf den Fels hinüber, und schon lag die Kluft hinter uns. Schuhwechsel ! Was nun kam, war ziemlich haarig. Die Schöllhornplatten sind gar keine Platten im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern mehr Felspfeiler. Durch den vielen Regen der letzten Tage gingen gerade über unseren „Weg“ so bessere Wasserfälle herunter. Ein Ringhaken steckte in der Wand. In diesen klinkte Sepp den Karabiner ein und in diesen wiederum das Seil. Nach ein paar Metern verschwand er um die Kante. Das Seil lief glatt durch den Karabiner, und dann ertönte das Wort „Nachkommen“! Ja, alsdann packen mirs. Im Nu war ich patschnaß. Griffe und Tritte waren durch das Wasser glitschig und schmierig, da hätte man eigentlich so schnell wie möglich drüber hinweg müssen. Das ist leichter gesagt als getan. Denn ich mußte erst noch das Seil des Wieners, das er mir mit hinaufgegeben hatte, bedienen, um ihn zu sichern, und dann erst konnte ich weiter. Da stand ich nun, hielt mich mit der einen Hand an irgendeinem glitschigen Felsvorsprung „fest“ und bediente mit der anderen Hand, über die das Wasser nur so hinwegschoß, den Karabiner. Endlich war das Stück Arbeit geschafft, und ich konnte weiter klettern. Was jetzt kam, war nicht direkt Überhang zu nennen, aber man wurde vom Fels ziemlich hinausgedrängt; dabei schoß mir das Wasser zum Hals und zu den Ärmeln hinein, kurzum, diese drei, vier Meter waren ziemlich ungemütlich. Dann endlich stieg ich um die Kante herum, und nach ein paar Metern etwas. trockener Kletterei, die dadurch viel mehr Freude machte, stand ich beim Sepp. Durch die Schwierigkeit solcher Stellen wird die Sache ja erst interessant, und daß ich da wie ein begossener Pudel ankam konnte meine Freude über diese Kletterstelle nicht im geringsten beeinträchtigen. Ein paar Meter höher kamen wir zum „Zeller Loch“, eine geräumige Höhle, in der das Wandbuch hinterlegt ist. Die Schlüsselstelle hatten wir ja, nun glücklich überwunden. Hier ließen wir uns zur Frühstücksrast nieder. Wir setzten uns gemütlich zurecht, die Beine baumelten ins Leere, und während wir unsere „Brotzeit“ verzehrten, konnten wir unsere Augen auf die Reise schicken. Landschaftlich ist diese Tour wohl kaum zu überbieten. In der Tiefe der See und am Horizont in unvergleichlicher Klarheit die Berge: Wie ein blanker Silberschild die Übergossene Alm, dahinter Hochkönig, dann weiter östlich der Dachstein und südlich die Hohen und Niederen Tauern. Einzelheiten kann man ja gar nicht alle aufzählen. Nachdem wir noch schnell unsere Namen in das Buch eingetragen hatten und uns einen letzten Schluck aus der Feldflasche einverleibten, gings also weiter. Es begann jetzt ein herrliches Klettern, doch nach einer Viertelstunde etwa hörten diese Kletterstellen auf, und die Route ging mehr in ein Steigen über. Wir waren auf dem dritten Band. Das Steigen dauerte glücklicherweise nicht lange, und dann kam der Umstieg auf das vierte Band. Hier war die Welt wieder mit glatten, wasserüberronnenen Platten vernagelt: kein einziger Griff und kein rechter Tritt, nur ein ganz schmaler Riß, in dem ein paar Finger der rechten Hand Platz hatten und weit oben eine kleine Mulde für die linke Hand. Für die Füße war nichts da, und die Hände rutschten durch die Nässe aus dem Riß und aus der Mulde auch wieder heraus. Aber schließlich war ich doch über diese Stelle hinweggekommen. Wie ich es gemacht habe, kann ich gar nicht mehr genau sagen. Ich glaube, ich habe das rechte Bein soweit gestreckt, daß es Widerstand an einem Felsblock fand, und die linke. Hand hat für einen Augenblick doch Halt in der Mulde gefunden, so daß ich den Körper hochschwingen konnte. Im selben Augenblick fand oben die rechte Hand einen vernünftigen Griff, und es war wieder einmal geschafft. Doch jetzt wird es wunderschön: nie so schwer wie die eben beschriebene Stelle und auch wieder nicht so leicht, daß es uninteressant wird. Eine Stelle muß ich noch besonders erwähnen. Sepp machte eine Bemerkung, daß wir uns jetzt eine Weile nicht verständigen könnten, ich solle gut aufpassen und achtgeben aufs Seil. Dann verschwand er um eine Ecke. Hinter dieser Kante schien der Fels überhaupt abzubrechen und ein Weiterkommen unmöglich. Sepp war aber doch vorwärtsgekommen, und da war ich mächtig gespannt, wie es nun wohl hinter dieser Kante aussehen würde. Die Wand weicht hier zurück, so daß sie mit dem bereits vor der Kante durchkletterten Teil einen spitzen Winkel bildet. Dieser nun vor mir liegende Teil war eine aalglatte Platte, die horizontal von einem Leistchen durchzogen war, auf dem die Füße, d. h. die Zehen Platz hatten, und gerade in Schulterhöhe war der Fels an einigen Stellen eingebuchtet, so daß kleine, aber feste Griffe für die Hände vorhanden waren. Nach einigen Metern brach das Leistchen ab, und man mußte sich auf einen Block hinüberschwingen, und damit lag dann die größte Exponiertheit hinter einem. Dies ist eine der schönsten Kletterstellen in der ganzen Wund, das sogenannte Kaserereck. Hier tankten wir nochmal Wasser in unsere Feldflaschen. Da rief es mit einem Male von oben herab „Bergheil!“ Ein Alleingänger aus Schwerin i. Meckl., wie wir unten im Wandbuch festgestellt hatten, turnte über uns auf einem anderen Wege herum und rief uns diesen Gruß zu. Um ½ 2 Uhr erreichten wir nach einer mit Eis- und Firnschnee angefüllten Rinne eine große, etwas geneigte Platte, auf der wir uns zur Mittagsrast niederließen. Es war die Dabelsteinplatte. Der Blick ins Land hinaus war noch viel schöner geworden, als unten beim Zeller Loch, und das Wetter war noch immer prima. Ganz klein lagen Königssee und Bartholomä zu unseren Füßen. Wir waren nun schon in der Gipfelschlucht angelangt. 700 Meter Fels. lagen noch vor uns. Es ist nicht im eigentlichen Sinne eine Schlucht, sondern es sind vielmehr eine ganze Reihe von Rissen, die Ausstiegsrisse, die zur Südspitze des Watzmanns und zum Grat hinaufleiten. Kurz unterhalb des Gipfels kam dann nochmal eine recht schwierige Stelle. Es war eine glatte senkrechte Wandstelle mit sehr kleinen Griffen, über die man sich mit ein wenig Schneid hinwegschwindeln mußte. Um 3 Uhr 55 Minuten betraten wir den Gipfel der Watzmann-Südspitze, genau 9 Stunden und 40 Minuten seit unserem Einstieg bei der unteren Randkluft an der Eiskapelle. Ich konnte es noch gar nicht begreifen, daß wir schon oben sein sollten. Aber wir waren auf dem Grat und nach ein paar Schritten auf dem Gipfel, das ließ sich nicht leugnen. Ich hatte mich so auf die Höhe der Wand eingestellt und hätte niemals geglaubt, daß wir in einer verhältnismäßig so kurzen Zeit durchkommen würden. Wir hatten, die Pausen abgerechnet, an reiner Kletterzeit 8 Stunden und 10 Minuten benötigt. Es war wirklich eine klassische Tour. Eine ganze Stunde saßen wir auf dem Gipfel und genossen die wundervolle Rundschau. Eine einzigartige Stunde war uns geschenkt, und sie wog alle die Touren auf, die ich in diesem verregneten Sommer nicht machen konnte. Bis zum Chiemsee sahen wir hinaus. Den Dachstein sah ich wieder, Ankogel, Hochalmspitze, Niedere Tauern, Glockner, Kaiser, Loferer und Leonganger Steinberge und das ganze herrliche Steinerne Meer. Um 5 Uhr stiegen wir ab. Der Wiener verabschiedete sich von uns. Er ging zum Watzmannhaus, wo seine Frau ihn erwartete, und wir zur Wimbachgrieshütte. Von Westen her wälzten sich mit unheimlicher Geschwindigkeit dicke, schwarze Wolken herüber. Es sah nach Unwetter aus, und das wollten wir auf keinen Fall auf dem Grat erleben. Also schnell abgestiegen. Um ½ 6 Uhr ging der Regen los. Nach ziemlich nassem Abstieg betraten wir um 20 Minuten nach 8 Uhr abends die Wimbachgrieshütte. Das Essen schmeckte jetzt aber – und erst das Bier! Müde waren wir noch gar nicht, denn die Tour hatte uns trotz der glühenden Hitze im Aufstieg kaum angestrengt, und so blieben wir noch ein Weilchen sitzen, erzählten uns noch dies und das von der Wand, und ich ließ das ungeheure Erleben langsam abklingen. Wir wollten uns gerade auf die Lager begeben, da trat der Schweriner in die Hütte. Wir beglückwünschten uns gegenseitig zu der gelungenen Bergfahrt, und nun mußte erst noch gemeinsam die Ostwand „begossen“ werden. Wir saßen noch ein Weilchen gemütlich beisammen, und während des Gesprächs stellte es sich heraus, daß der Schweriner ein Freund vom Dr. Kugy war. Nun fielen mir aber doch so langsam die Augen vor Müdigkeit zu. Vorm Schlafengehen ging ich nach alter Gewohnheit nochmal vor die Hütte und schaute hinauf zu den Sternen und zu „den Bergen, von welchen uns Hilfe kommt“. Ein Wort von Ludwig Purtscheller ging mir dabei durch den Sinn:

„Ja, dort oben weht noch freier Weltenodem,

da grüßt die Ferne und ihre Schwester die

Sehnsucht, da fühlen wir uns als ein Teil

des Unendlichen, weil wir an dem Genusse

des Unendlichen teilnehmen.“

Der fünfte Weg – In der Falllinie der Gipfelschlucht

Nach den Erstbesteigungen im Winter auf dem Berchtedgadener und Münchener Weg eröffnete eine weitere Frankfurter Seilschaft einen fünften Weg in der Ostwand.

Fritz Krämer und Werner Kohn gelang am 02.08.1949 die Erstbegehung einer direkten Linie, des Frankfurter Weges.

Nachrichten-Blatt (der DAV Sektion Frankfurt am Main)

17./18. Jahrgang – Frankfurt. a.M., November 1949 – Nr. 8

Der „Frankfurter Weg“ durch die Watzmann-Ostwand

In der Fallinie zur Giplelschlucht

Auf vier verschiedenen Wegen ist die höchste Felsenmauer der Ostalpen bislang durchstiegen worden. Respektvoll meiden alle Pfade die Fallinie. Auf dem Weg zum Gipfel wird der Körper durch die 2000 m Höhendifferenz auch, ohnehin mehr als genug beansprucht. Ernstere Schwierigkeiten bietet auf allen Wegen nur die Schlüsselstelle. Dies gilt auch für den „Salzburger Weg“ (einige Seillängen überaus).

Als der Gedanke auftauchte, in dieser Wand einen direkten Gipfelweg zu suchen, hatten wir den Fels auf verschiedenen Wegen zu allen Jahreszeiten kennengelernt. Der Winterdurchstieg im März 1949 gab uns das Vertrauen in unsere Ausdauer und Findigkeit. Trotz Föhn, Nebel und Schneefall hatten wir am Gipfel noch genügend Reserven, um den verwächteten Grat und die Schneeschwimmerei bis Wimbachbrücke am gleichen Tage mit ruhigem Gewissen zu riskieren. Die neue Route ist leicht auffindbar. Dort, wo der Münchener Weg das Salzburger Band erreicht, erhebt sich ein Turm. Stufenlos fällt, durch einen schlanken Grat senkrecht gestellt, die Wand zur Eiskapelle, einem aufrechtstehenden Dreieck ähnlich. Ein Rinnen- und Kaminsystem durchzieht den Fels, das Dreieck halbierend. In Höhe des Schöllhornfirns unterbricht ein vielleicht 45 Grad geneigter Gras- und Schroffenhang für zwei Seillängen die Senkrechte, ohne aber einen brauchbaren Rastplatz aufzuweisen.

(Fortsetzung folgt!)

Nachrichten-Blatt (der DAV Sektion Frankfurt am Main)

17./18. Jahrgang – Frankfurt. a.M., Dezember 1949 – Nr. 9

Der „Frankfurter Weg“ durch die Watzmann-Ostwand.

In der Fallinie zur Gipfelschlucht

(Fortsetzung und Schluß.)

Das große Fragezeichen war der kurz-kristallinische Ramsaudolomit. Da in ihm kein Haken sitzt, erschien es sehr fraglich, ob man an den schwersten Stellen durchkommen würde. Mit den Kameraden unserer Bergsteigergruppe machten wir zehn Tage lang schöne Fahrten in den Berchtesgadener Bergen. Dann nützten wir die erste Gelegenheit zur Eingehtur. Die direkte Westwand des Kleinen Watzmanns war der rechte Prüfstein.

Der geplante Weg entsprach in unserer Vorstellung etwa dieser Route. Bis auf die Brüchigkeit hat sich diese Annahme auch später erwiesen. Mit einer Bombenstimmung landeten mein Kamerad Fritz Krämer und ich abends in Bartholomä. Gern ließen wir uns von Frau Aschauer in das Lager für die „Ostwandler“ weisen. Für diese Einrichtung gebührt der Sektion Berchtesgaden noch ein besonderer Dank. Milde stolperten wir in der Nacht hinter dem Schein unserer Laternen zum Einstieg. Um sechs Uhr sprangen Fritz und ich, die Gummipatschen und die Eiskapelle verfluchend, in der Fallinie unseres Weges über die Randkluft. Bewundernd musterten wir die herrlichen gotischen Bogen im Schlund zwischen Eis und Fels, die teilweise bis zu 100 m freitragend In oft großem Abstand vom Fels eisig aus der Unterwelt zum Licht wuchsen. Einen heißen Tag verkündend sandte die Sonne ihre Strahlen. Bald erreichten uns die glühenden Pfeile. Zwei 40 m Seile, 25 Mauerhaken, 16 Karabiner, Hämmer. Repschnüre, Zeltsack, Verpflegung und die anderen unentbehrlichen Dinge machten sich „drückend“ bemerkbar. Direkt über einer Quelle, die in starkem Strahl waagerecht aus der Wand schießt, war der Einstieg. Zum letztenmal konnten wir trinken – wohl wissend, welche Köstlichkeit Wasser ist. Höflich fluchend mußten wir im brüchigen Dolomit aufwärts. Nicht lange, und wir verzichteten auf alle Höflichkeit. In bösem Fels schindeten wir uns durch Rinnen und Kamine. Ohne Hakensicherung ging es über bröckelnde überhänge. Hart drückte die schwere Schlosserei. Doppelt hart, weil sie durch den Dolomit fast überflüssig war. Der größte Gegner aber: die Sonne. Am glühenden Fels wurden wir langsam geröstet. Unlustig rollte die geschwollene Zunge die Pflaumenkerne. Bald war es Mittag, und noch nicht die Hälfte des neuen Weges lag unter uns. An einem leidlich schattigen Plätzchen verschnauften wir für kurze Zeit. Doch der Durst trieb uns weiter. Im stets überaus schweren Fels wurde wegen der Brüchigkeit das letzte von uns gefordert. Immer wieder wunderten wir uns, daß durch ausbrechende Griffe und abrollende Steine noch nichts passiert war. Da erwischt es mich doch. Ich stehe gespreizt in einer seichten Verschneidung, mit der linken Hand gegen den Fels gelehnt, die Rechte im Untergriff hinter einem Stein. Plötzlich löst sich der große Block. Machtlos muß ich zusehen, wie meine Zehe gequetscht wird. Gottseidank flog ich nicht hinaus. Trotzdem wurde mir ganz eklig, zumal unten die Randkluft der Eiskapelle lauerte. Endlich erreichten wir den Grashang mit einer Ausweichmöglichkeit zum Schöllhornkar. (Hier kann man vom Biwakblock auch günstig einqueren.) Aber mit zusammengebissenen Zähnen ging es müde und durstig weiter. In der rechten kaminartigen Rinne verklemmten wir uns zu einer kurzen Rast. Die stechende Sonne hatte uns zermürbt. Wohltuend wirkte der Schatten. Langsam kehrten die Lebensgeister wieder. Essen konnten wir leider nichts, der Durst nahm uns den Appetit. Hier legten wir das Doppelseil an. Aufatmend übergab ich Fritz die Schlosserei. Endlich sah der Rucksack tragbar aus. Wenn nur die geplatzte Zehe und der Durst nicht wären! Aus dem Kamin wechselten wir über die trennende Rippe an die linke Wandseite. Endlich hielten auch die Haken. „überaus oben“, wenn nicht gar „äußerst“ erschien uns diese Seillänge, Durch die Sturzhaken und das Doppelseil war die seelische Beanspruchung hier aber das geringste. Bis hierher hatte Fritz geführt. Jetzt hatte ich das „Vergnügen“. Ein saftiger Quergang, ein Überhang und wieder ein Quergang führten zu einem sehr dürftigen Stand. Langsam verblaßte die Sonne. Nur der unerträgliche Durst trieb uns noch vorwärts. Wir mußten unbedingt Wasser finden. Bis zur Biwakhöhle auf dem ersten Band war aber noch ein weiter Weg. Endlich, gegen neun Uhr, standen wir auf dem Münchener Turm, nachdem uns ein Quergang (von rechts nach links) dicht unter dessen Gipfel noch einmal den Weiterweg sperren wollte. Ehe wir die Unterbrechungsstelle erreichten, dunkelte es bereits. Da fanden wir, nachdem wir fast fünfzehn Stunden überaus harter Kletterei hinter uns hatten und durch den ausgetrockneten Gaumen, die geschwollene Zunge und die geplatzten Lippen am Ende waren, köstliches Wasser. Wie Tiere stürzten wir uns darauf. Mit welcher Gier wir tranken, kann nur der ermessen, der Ähnliches mitgemacht hat. Nach unserem Plan wollten wir in der Höhle auf dem Salzburger Band biwakieren. Da wir jedoch bereits Wasser hatten, waren wir über unser Nachtquartier im Zweifel. Unser Zögern wurde schnell beseitigt: Stimmen erklangen aus der Biwak-höhle. Dicker Nebel weckte uns am anderen Morgen. Eben sahen wir noch die beiden Berchtesgadener im Sturmschritt verschwinden, da waren auch wir munter. Ohne Frühstück, kaum angeseilt, sausten wir

los, An der Unterbrechungsstelle fielen die ersten Tropfen. Schnell wurde das Seil abgelegt, und alles warme Unterzeug im Rucksack verstaut. Lediglich mit dem Anorak bekleidet, stürmten wir weiter. Bald hatte uns der Regen völlig durchnäßt. Mit größtem Tempo schwammen wir aufwärts. Sicher fanden wir durch den dichten Nebel den Weg.

Selbst als wir die Kaminreihe wegen Steinschlagkanonaden nicht passieren konnten, blieb uns Fortuna treu. Das Band am Fuße der Kamine führte uns, nach links sanft ansteigend, in günstiges Gelände. Aus dem Eisregen wurde dicker Hagel. Die aufgeweichten Finger wollten in der Kälte nicht mehr mitmachen. Aus Sorge vor der Unterkühlung verklemmten wir uns in einer Spalte, stülpten den Zeltsack über und legten uns mit der vorher ausgezogenen Unterkleidung trocken. Bald waren wir wieder durchwärmt. Bis auf den Notproviant aßen wir unsere Vorräte zusammen. Erst als mein Gefährte zum zweitenmal auf meine Matschzehe trat, brachte uns die folgende Schimpferei wieder so in Schwung, daß wir weitersausten. Ohne Verzug ging es vom Gipfel auf der anderen Seite abwärts, Richtung Wimbachgries. Meine Zehe hübsch hochhaltend, rutschten wir nach dem Takt ellenlanger Flüche bis zur Wimbachhütte. Vor der Tür stiegen wir noch kurz in die Regentonne, um uns für den Hüttenbesuch schön zu machen. Dann schlidderten wir durch die überfüllten Räume in die Küche, dem wärmenden Herd zu. Leider hatte der Hüttenwirt für unsere Triefspur gar kein Verständnis, so daß wir kälteschlotternd aus Angst vor einer Lungenentzündung im Dauerlauf bis zum Wimbachschloß rannten. Hier wurden wir langsam wieder zu Menschen.

Den Rest der fehlenden Kalorien holten wir uns „dank unserem kreditwürdigen Auftreten“, bei Mutter Jochner in den Palvenhörnern. Sie drohte zwar wieder einmal mit mächtigen Schlägen, konnte aber nicht verhindern, daß wir noch am selben Abend mit unseren Gummischlappen zu den Kameraden auf Kühroint pilgerten, und die Hütte nicht einmal auf dem Zahnfleisch erreichten. Bis ½ 2 Uhr wurde noch tüchtig gegessen und vor allem getrunken, dann fielen uns die Augen zu, denn in den letzten vier Tagen hatten wir, alles in allem, kaum 12 Stunden geschlafen.

Werner Kohn.

 

Zwei Frankfurter Seilschaften greifen zur Winterkrone

Nachrichten-Blatt (der DAV Sektion Frankfurt am Main)

17./18. Jahrgang – Frankfurt. a.M., Mai 1949 – Nr. 5

Frankfurter Bergsteiger bezwingen die Watzmann-Ostwand !

Winterbegehung des Berchtesgadener und des Münchener Wegs

Vier Mitglieder unserer Bergsteigergruppe, nämlich Reinhard Sander, Werner Kohn, Fritz Krämer (Sohn) und Karl Krämer (Vater), von denen die ersteren drei an einem von der Beratungsstelle einberufenen Lehrgang auf der Kührointalpe bei Berchtesgaden teilgenommen hatten, benutzten die anschließend kurze Zeit, die beiden legten der vier bekannten Durchstiege durch die Wattmann-Ostwand zu bezwingen. Werner Kohn und Reinhard Sander hatten schon im Sommer die Wand ausgekundschaftet und sich für den Berchtesgadener Weg entschieden. Karl Krämer in Seil-gemeinschaft mit seinem Sohn Fritz und dem Regensburger Oskar Dorfmann, wandten sich dem Münchener Weg zu. Beide Unternehmen nahmen einen erfolgreichen, glücklichen Verlauf. Diese gewaltige Leistung, die in der gesamten alpinen Welt berechtigtes Aufsehen erregt, erfüllt uns schon aus dem Grund mit ganz besonderer Freude und Genugtuung, weil sie eine Krönung der Arbeit unserer Bergsteigergruppe darstellt und zugleich beweist, daß die den hessischen Alpinisten zur Verfügung stehenden Uebungsfelsen einem zielstrebigen Bergsteiger die Möglichkeit geben, sich für Höchstleistungen vorzubereiten. Wir beglückwünschen beide Seilschaften zu ihrem Erfolg. Werner Kohn hat als Mitarbeiter der dreisprachigen Jugendzeitschrift „Der Weltläufer“, in der er zusammen mit Reinhard Sander die Artikelreihe „Die Berge und wir“ bearbeitet, über die erste Winterbegehung des Berchtesgadener Wegs eine Schilderung geschrieben, die wir in der nächsten Nummer veröffentlichen. Sie gibt uns einen Begriff von dem mit Können und – viel Glück gepaarten Draufgängertum unserer Bergsteiger. (Fortsetzung folgt)

 

Nachrichten-Blatt (der DAV Sektion Frankfurt am Main)

17./18. Jahrgang – Frankfurt. a.M., Juli 1949 – Nr. 6

Frankfurter Bergsteiger bezwingen die Watzmann-Ostwand !

Wintererstbegehung des Berchtesgadener und des Münchener Wegs (Fortsetzung)

Die Wiederroute als Erkundungstur.

Von den vier durch die Watzmann-Ost-wand führenden Wegen sind bereits zwei im Winter begangen worden. Die Kederbacher Route hat bereits vier Winterbegehungen. Der Salzburger Weg wurde am 8., 9. und 10. Januar 1949 von den Bergkameraden Bernulf Freiherr von Hollerieth und Thomas Freiberger bezwungen. Unser Plan, einen der beiden letzten Wege im Winter zu versuchen, war lang vorbereitet. Schon im Sommer studierten wir sorgfältigst alle Möglichkeiten. Es erschien uns zweckmäßig, im Spätwinter einzusteigen und lieber die Lawinen in Kauf zu nehmen, als im Pulverschnee stecken zu bleiben.

Durch die Teilnahme an einem vom Alpenverein durchgeführten Lehrwartkurs (auf der Kührointalpe) kamen wir zur günstigsten Zeit nach Berchtesgaden. Leider ließ uns der Wettergott im Stich; acht Tage vor dem Einstieg schneite es ganz toll. Die dann folgenden schönen Tage lösten, wie die Beobachtung vorn dritten Watzmannkind ergab, zahllose Lawinen während der stärksten Bestrahlungszeit. Gern hätten wir vom Hocheck zum Südgipfel gespurtet; einmal um festzustellen, wie das Gipfelstück beschaffen ist, und zweitens, um nach dem Durchstieg – wenn die Kräfte noch ausreichten – nicht den sichersten Abstieg ins Wimbachtal, sondern den Weg über den Grat (Süd-Mittelgipfel-Hocheck) zum Watzmannhaus zu gehen. Leider konnte dies die Kursleitung nicht gestatten. Von unserem Ostwand-Plan durften wir schon gar nichts verlauten lassen. Als wir nur erwähnten, die Wiederroute (kleine Ostwand Kar-Mittelgipfel) machen zu wollen, wurden wir schon mitleidig als größenwahnsinnig belächelt. Natürlich ließen wir uns nicht beirren, sondern holten nach Kursende den zweiten Rucksack mit der nötigen Eisausrüstung, der bereits fertig, gepackt in der Schönau lag, herauf. Nachdem wir am 24. März mit dem Kurs bei günstigen Bedingungen über den Grat auf dem Mittelgipfel waren, versuchten wir auf alle Fälle erst noch einmal die Wiederroute, um auch die Verhältnisse in der Wand vor unserem Unternehmen genauestens kennenzulernen. Nach diesem Ergebnis wollten wir erst bestimmen, wie, wann und ob überhaupt die Ostwand gewagt werden durfte.

Um 2 Uhr weckte uns der Hüttenwirt Bauer (der uns mit seiner Frau rührend umsorgte). Teilweise bis zum Bauch einbrechend, standen wir nach einer zweistündigen Hatscherei im Kar vor dem Einstieg, nachdem wir das letzte Stück fast kriechend zurückgelegt hatten, um in dem grundlosen Schnee überhaupt noch vorwärts zukommen. Wir, das waren die Zweierseilschaft Jürgen-Fritz Krämer und durch die Nabelschnur zu Drillingen vereint Bernulf Freiherr von Crailsheim-Reinhard Sander-Werner Kohn. Der Einstieg zeigte sich von seiner angenehmsten Seite. In einer zwar sehr steilen, aber sonst idealen Eisrinne, gewannen wir schnell an Höhe. Um 3 Uhr lag bereits das Wiederband vor uns. Obwohl es mit Schnee völlig zugeschüttet war, und eine Neigung von etwa 45 Grad hatte, kamen wir gut vorwärts. Wirklich schwierig waren die letzten vier bis 5 Seillängen. Beim Wettlauf mit der Zeit hatte uns nämlich die Sonne eingeholt. Damit wurde die Tur gerade an den auch im Sommer schwierigen steilen Platten im letzten Drittel sehr ernst. Diese glatten aufrecht stehenden Felsen boten dem Firn eine recht unsichere Auflage. Durch den optimistischen Lack (von Crailsheim) aber ebenfalls verwegen geworden, schlichen wir uns glücklich mit angehaltenem Atem über den trügerischen Firn. Um 11 Uhr – also gerade noch vor dem Abgang der Lawinen -standen wir auf dem Gipfel. Nach einer gemütlichen Rast in strahlender Sonne bei der tüchtig auf die bergsteigerunfreundlichen Zustände in manchen Sektionen geschimpft wurde, ging es über das Hocheck, z. T. auf dem Hosenboden abfahrend, (unsere Kursleitung hätte sich die Haare ausgerauft) wieder zum Kührointhaus, vom beglückwünschenden Hüttenehepaar mit einem mächtigen Schiwasser empfangen. Die Wege zum Mittelgipfel hatten es erwiesen, daß es möglich ist, bei den derzeitigen Verhältnissen durch die Ostwand zu kommen. Wir beschlossen darum, schnellstens einzusteigen. Als Termin wählten wir die Nacht vorn, Montag zum Dienstag. Wir wollten versuchen, in einem Tag ohne Biwak durchzukommen. Unsere zweite Seilschaft (Karl Krämer, sein Sohn Fritz und Oskar Dorfmann, Regensburg) entschieden sich für den Münchener Weg. Wir entschlossen uns, den 1947 von Helmut Schuster und Josef Aschauer entdeckten Berchtesgadener Weg zu versuchen. Dieser Weg war auch darum angenehm, weil im mittelsten Drittel, kaum Lawinengefahr besteht. ‚Wir gedachten, dieses Stück zwischen 10 und 15 Uhr hinter uns zu bringen, Denn wären das erste äußerst lawinengefährliche untere Drittel und die üble Gipfelschlucht in der theoretisch günstigsten Zeit zu begehen. Nach einer traumlosen Nacht am Montag gegen 10.30 Uhr Abstieg vorn Kührointhaus zum Königssee mit je zwei Rucksäcken und zwei Paar Schi – eine enorme körperliche Anstrengung in dem tiefen Schnee. Leider verpaßten wir in Königssee unsere Freunde (die zweite Seil-Schaft). Wir konnten sie nur noch auf dem bereits schwimmenden Boot sehen. Schnell verstauten wir alle unsere Ueberflüssigkeiten und gondelten mit dem nächsten Schiff hinterher. Ehrfurchtsvoll begrüßten wir „unsere“ Ostwand. Die starken Schneefälle hatten alle Feinheiten verdeckt. Hoheitsvoll in ihrer weißen Pracht blickte sie auf uns Menschlein hernieder. Kurz vor der Eiskapelle holten wir die Kameraden ein. Herzlich begrüßten wir unseren väterlichen Freund und alpinen Lehrmeister Karl Krämer. Dann verabschiedeten sich die Kameraden und stapften, in Richtung „Münchener Weg“ davon. Wir legten noch einmal die Route in allen Einzelheiten fest. Lediglich das Barometer machte uns noch Sorgen. Da wir aber bei jeder Watzmannbesteigung ein erstklassiges Wetter hatten, vertrauten wir auch diesmal unserem guten Stern (das Radio versprach uns günstige Witterung). Um 3.30 Uhr näherten wir uns am Morgen des 29, März der Eiskapelle: Mißtrauisch betrachteten wir den viel zu klar funkelnden Sternenhimmel Eine schlechte Nacht lag hinter uns. Gewaltiger Lawinendonner riß uns immer wieder aus dem Schlaf. Mächtige Lawinen hatten alle Spuren verdeckt. Hilflos tastete sich unser Lichtlein durch die haushohen Lawinentrümmer. Unschlüssig standen wir am Einstieg, Friedliche Stille und ein herrlich funkelnder Himmel wollten unser Mißtrauen beseitigen. Zum Glück behielt die Vernunft die Oberhand. Schweren Herzens zogen wir uns zurück. Eine innere Stimme ließ uns keine Ruhe. Skeptisch betrachteten wir ,,unsere“ Wand. Plötzlich hoch oben ein Rauschen. Polternd und brüllend donnert eine gewaltige Lawine in riesigen Kaskaden auf uns zu. Den Blick auf das grandiose Schauspiel gerichtet, ziehen wir uns weiter zurück. Mit Sorge gedenken wir unserer Kameraden, die seit gestern Nachmittag in der Wand sind. Auf einmal blinkt, noch während die Lawine donnert, ein Licht am Anfang der Münchener Rampe, Beruhigt stellen wir fest, daß unsere Kameraden einen sicheren Biwakplatz gewählt hatten. Wir beschlossen, am Nachmittag. wiederzukommen. In der einsetzenden Dämmerung ließ sich noch erkennen, daß über Nacht die gesamte Eiskapelle ein riesiges Lawinenblockfeld geworden ist.

Berchtesgadener Weg.

Nachmittag um 14 Uhr standen wir wieder vor dem Einstieg. Wir zweifelten jetzt keine Sekunde mehr am Gelingen. Obwohl man stellenweise recht tief einbrach, ging es zügig vorwärts. Wegen des immer stärker werdenden Steinschlags wendeten wir uns um 17 Uhr vom Berchtesgadener Band nach rechts in die Felsen. Im durchaus nicht leichten Gelände kamen wir nur mühsam höher. Ein brüchiges und griffarmes Gestein machte uns überaus schwer zu schaffen, Das Klettern mit dem Tricounibeschlag war – besonders für mich – sehr unangenehm. Gern vertrauten wir uns wieder einer firnigen Eisrinne an. Trotz der enormen Steilheit gewannen wir leichter an Höhe als im Fels. Dann war es aus mit der Eisarbeit. Durch einen Wasserfall kletternd, gelangten wir über wasserüberronnene und verglaste Platten sehr schwer zu einem leidlichen Stand. Da wir bereits vor dem Einstieg von der Schneehascherei so durchnäßt waren, daß das Wasser bei jedem Schritt aus den Schnürsenkellöchern herausquatschte, konnte uns die Nässe nicht erschüttern. (Fortsetzung folgt)

Nachrichten-Blatt (der DAV Sektion Frankfurt am Main)

17./18. Jahrgang – Frankfurt. a.M., September 1949 – Nr. 7

Frankfurter Bergsteiger bezwingen die Watzmann-Ostwand !

Wintererstbegehung des Berchtesgadener und des Münchener Wegs

(Zweite Fortsetzung und Schluß)

Jetzt erst legten wir das Seil an. Schon lang schauten wir nach einem Biwakplatz aus. Obwohl uns die Zunge am Gaumen klebte, ließen wir uns keine Zeit zum Trinken. Wir wollten unbedingt erst einen Biwakplatz entdecken. Langsam holte uns aus dem Tal die Finsternis ein. Immer noch hingen wir in ungewöhnlich kleingriffigen Platten. Reinhard, mittlerweile in Kletterschuhen, ließ mich hinterherschnaufen. Da ich in den Nagelschuhen nur schlecht vorwärts kam, wurde mir „manch liebes Wort“ gewidmet. Mit einer Mordswut im Bauch, meist in den glatten Platten nur an den Fingerspitzen hängend, stellte ich fest, daß ich ja kein Nachtschwärmer sei, und daß es höchste Zeit wäre, ins Bett zu gehen. Tatsächlich konnte ich mit meinen Nagelschuhen in den kleingriffigen Platten auch nicht einen Schritt mehr weiter. Selbst ein Rückweg zum Stand neben dem Wasserfall war wegen der Finsternis unmöglich. Obwohl Reinhard heftig protestierte, nagelte ich mich kurzerhand fest und hängte mich mit allen Habseligkeiten an die Haken. Da der Zdarski-Zeltsack bei mir im Rucksack war, mußte sich auch Reinhard neben mich hängen. Leider entfiel ihm durch eine. Unvorsichtigkeit der Rucksack. Obwohl wir von vornherein alles auf beide Rucksäcke verteilt hatten, war der Verlust recht schmerzlich, weil der Primuskocher, unser Wärmespender, auf Nimmerwiedersehen mit abstürzte. Den Verlust der dicken Tafel Schokolade und des Schnaps-fläschchens verschmerzten wir tränenden Auges. Uebel war der Durst, ausgerechnet hier war alles trocken. Während die Zunge am Gaumen klebte, rauschte der Wasserfall seine teuflische Melodie. Vorsichtig packten wir bei Beginn der Dämmerung den in der Nacht von einem Stein durchschlagenen Zeltsack zusammen.

Nach einem üblen Quergang, der uns fast zwei Stunden aufhielt, kam etwas leichteres Gelände. Dennoch war es eine elende Viecherei, zumal ich im Fels als der zweite, jezt auch noch neben den schweren Bergschuhen von Reinhard beide Eispickel im Rucksack hatte. In dem jetzt abwechselnden Kamin- und Rinnensystem blieb ich mit dem Rucksack ständig hängen. Vor allem im Kamin wurde das Stemmen durch den Rucksack mit den sperrigen Pickeln zum „unvergeßlichen Erlebnis“. Das Aufseilen konnten wir uns aus Zeitersparnis nicht leisten. Unser Tempo war enorm. Der uns seit gestern Abend pausenlos begleitende Steinschlag ließ uns nicht zur Ruhe kommen. Reinhard hatte bereits eine blutende Kopfwunde, und noch immer verfolgte uns die senkrecht über uns stehende Wand mit ihren Geschossen. Gegen Mittag hielten wir es aber vor Durst nicht mehr aus. An einem leidlich geschützten Schneefleck hockten wir uns nieder. Alles, was wir zu uns nahmen, wurde mit Schnee gemischt. Obwohl am Himmel segelnde Föhnwolken in drei bis fünf Stunden schlechtes Wetter ankündigten waren wir von unserer Eisschleckerei nicht abzubringen. Die Gier war zu groß. Erst eine kleine Stein- und Eislawine, die in der Rinne zwischen unseren beiden Plätzen niederging, trieb uns weiter. Das Gelände wurde wieder überaus schwer, dennoch ging es gut vorwärts. Als auch ich durch Steinschlag eine blutende Wunde an der Schläfe davontrug, steigerten wir noch das Tempo. Hinter der Rinne folgten wieder sehr böse verglaste Platten. Nach einem riskanten Quergang in etwa siebzig Grad steilen Firn betraten wir gegen 17 Uhr die von tiefen Lawinenrinnen durchzogene Gipfelschlucht. Vergeblich suchten wir nach den Spuren unserer Kameraden. Da der Münchener Weg hier die Gipfelschlucht erreicht, hätten wir unbedingt etwas sehen müssen. In dem Glauben, die Spuren seien von den Lawinen verwischt worden, stapften wir aufwärts. Unser Bestreben ging dahin, die steile Schlucht an der gratartigen rechten Begrenzung zu nehmen, um den Lawinen ausweichen zu können. Leider war dort der Firn so weich, daß nur kriechend vorwärts zu kommen war. Wir riskierten darum zum Aufstieg die äußerste Lawinenrunse, deren Boden teilweise vereist war. Einer von links oben kommenden Lawine konnten wir noch sicher ausweichen. Lediglich ein vorweg hüpfender Schneebrocken streifte den Rucksack. Mittlerweile hatte sich der Himmel völlig bezogen. Beim Abwärtsschauen entdeckten wir jetzt auch endlich unterhalb der Gipfelschlucht, auf der Verlängerung des ersten Bandes, die Spuren unserer Kameraden. Da wir nicht ahnen konnten, daß die Seilschaft dort bereits Biwak bezogen hatte und gemütlich pennte, machten wir uns ernsthafte Sorgen. Wir wollten jedenfalls in Sichtweite des Gipfels kommen, denn es schneite bereits. Je mehr wir uns dem Ende der Unterbrechungsstelle näherten, desto steiler und schwieriger wurde es. Sogar zum Teil überhängende Firnabbrüche mußten überwunden werden. Für die letzte Seillänge der Gipfelschlucht benötigten wir fast zwei Stunden. Auf abrutschbereitem Firn gewährte nur der bis über die Haue eingerammte Pickel leidlich verläßlichen Halt. Oft mußten wir den Schnee mit dem Kopf und Oberkörper zurückdrücken, um nicht nach außen gedrängt zu werden. An einer unmöglichen Stelle überfiel uns die Finsternis. Der tastende Picket verkündete, daß die Unterbrechungsstelle nur einen tollen Umgehungsweg offen ließ: ein schmales Schneeband hart am abdrängenden Fels. Aufatmend wühlte ich mich in die folgende stelle Pulverschneerinne. Ganz von fern hörte ich meinen Namen. Bei der hastigen Arbeit hatte ich meinen Freund völlig vergessen. Zwei Stunden harrte er aus, in angespanntester Aufmerksamkeit mich sichernd. Endlich konnte er nachkommen. Gott sei Dank hielt auch bei ihm der schmale Schneereif. Völlig erstarrt langte er oben an. Wegen der Nässe konnten wir keine Handschuhe tragen. Tapfer versahen die Finger ihren harten Dienst. Bei jedem Schritt durchstießen sie die dünne Harschtschicht, uni sich im grundlosen Firn zu verkrallen. Unseren Plan, in der Rinne zu biwakieren, gaben wir bald auf. Mittlerweile war es stockfinster. Müde wühlten wir uns noch bis zu einer Rippe durch. Während Reinhard mit dem Pickel den kleinen Kolk erweiterte, sicherte ich uns in dem luftigen Schwalbennest durch einige Haken Nachdem die Selbstsicherung eingeschnappt war, verstauten wir mühsam das zu einer Stange gefrorene Seil, setzten uns auf die eingerammten Pickel und stülpten den Zeltsack über. Ein Glück, daß der nicht ebenfalls abgestürzt war. Wir hätten dieses Biwak, durchnäßt, wie wir waren, sonst kaum gut überstanden. Trotz dem quälenden Durst schmeckte uns der Schnee nicht mehr. Unser Appetit war aber dennoch gut. Bald war der Zeltsack vom Schnee durchnäßt. Bis auf die erstarrten Füße fühlten wir uns soweit ganz wohl. Die Schuhe durften wir aber auf keinen Fall ausziehen. Wir hätten sie am anderen Morgen nicht mehr anbekommen. Nicht einmal die Zwölfzacker konnte ich abnehmen, weil die Verschnürung zu einem Eisklumpen gefroren war. Endlich begann es zu dämmern. Bis auf den Notproviant legten wir alles Eßbare in unseren Magen, schüttelten den Schnee vom Zeltsack (es hatte nachts geschneit), und weiter ging es. Nachdem wir trotz eifrigstem Suchen in der undurchdringlichen Waschküche keinen gangbaren Weg fanden, entschlossen wir uns, direkt vom Biwak einen Schneekamin mit einem darauffolgenden Quergang an einer unmöglichen Eis- und Schneewand zu versuchen. Wie die dahinterliegende Rinne zu erreichen war, lag völlig in den Sternen. Vorsichtig probierte ich alle Möglichkeiten. Bald war mein Latein am Ende. Einen Sprung auf die vielleicht sechzig Grad geneigte Rinne wagte ich nicht. Zu leicht hätten die gewaltigen Schneemassen abrutschen können. Resigniert kletterte ich zurück. Obwohl wir fluchten und suchten, ließ sich kein besserer Weg finden, zumal uns Nebel und Schneetreiben die Sicht nahmen. Wieder stand ich an dem lächerlichen zwei bis drei Meter hohen Abbruch. Alles auf eine Karte setzend kam ich glücklich hinunter. Auch Reinhard folgte bald und brachte meinen Pickel mit, den ich in der Schneewand nach dem Quergang über dem Abbruch stecken lassen mußte. Zügig ging es dann weiter. Nach den zwei haarigen Seillängen vor und nach dem Schneebiwak konnte uns nun nichts mehr erschüttern. Um 9 Uhr hatten wir die Gratwächte hinter uns (etwa 150 m nördlich vom Südgipfel). Einige Rinnen machten uns noch durch den Pulverschnee Unannehmlichkeiten, bis wir uns endlich überglücklich auf dem Südgipfel die Hände drücken konnten. Zeitweise riß sogar der Nebel auf und gewährte uns einen Blick auf das herrliche Panorama.

Gratüberschreitung

Wir befanden uns kräftemäßig noch in ganz hervorragender Verfassung und konnten die Gratüberschreitung (Südgipfel, Mittelgipfel, Hocheck. Watzmannhaus) mit gutem Gewissen riskieren, Gemütlich zukkelten wir, während Schnee und Nebel um den Grat strichen, Richtung Hocheck. Als aber die Sonne durchbrach, lehnten wir uns gegen die Felsen und ließen uns langsam trocknen, Da wir den Weg gut kannten, hatten wir keine nennenswerten Schwierigkeiten mehr zu überwinden. Mit Sorge erfüllten uns nur die Gedanken um unsere Kameraden. Obwohl wir noch ein Stück den Pfad zum Wimbachtal abgesucht hatten, konnten wir keine Fußspuren entdecken. Da wir in der Verlängerung des ersten Bandes ganz deutlich und vor allem auch frisch die Trittsiegel unserer Freunde sahen, mußten wir annehmen, die Seilschaft sei beim Betreten der Gipfelschlucht von einer Lawine erfaßt worden. Gegen 15 Uhr trudelten wir im Watzmannhaus ein. Nachdem wir ungefähr sechs Liter Tee voller Gier getrunken und in dem warmen Zimmer des Wetterfrosches Bitterling auch den Magen sehr ausgiebig angefüllt hatten, merkten wir doch die hinter uns liegenden großen Anstrengungen. Meine Augen fielen fast zu. Ein Wunder war es ja nicht, denn drei Tage hatten wir nicht mehr richtig geschlafen. Jetzt, da die Spannung gewichen war, meldeten sich auch die mißhandelten Glieder. Völlig klar wurde« wir aber, als wir unsere Zeche bezahlen mußten. 1,50 Mark für einen Liter deutschen Tee machten uns blitzschnell klar, daß wir uns wieder zivilisierten Gegenden näherten. Bitter schwer fiel uns das Gehen mit den erfrorenen Füßen. Die aufgerissenen blutenden Hände konnten den Pickel kaum noch halten, Dennoch stiegen wir bis Wimbachbrücke ab. Oft bis zum Bauch im Schnee steckend kamen wir nur mühselig abwärts. Wie zwei Strauchdiebe, zerlumpt, verdreckt, mit zerschundenen Gliedern überfielen wir Frau Jochner in den Palvenhörnern. Schweigend aßen und tranken wir gewaltige Mengen. Widerspruchslos ließen wir alle Vorwürfe über uns ergehen. Nicht einmal die Bemerkung, sie hätte uns die Hosen stramm gezogen, wenn sie das früher gewußt hätte, konnte uns erschüttern. Wir sahen nur noch ein herrliches weißes Bett!

Erwähnen möchte ich noch, daß wir bis auf wenige Seillängen selbst im steilsten Firn gleichzeitig gingen. Im schweren Fels wurde selbstverständlich sorgfältigst gesichert. Das Seil legten wir erst zwischen Wasserfall und Biwak an. Als sehr Zeit sparend hat sich unsere verschiedene Fußbekleidung erwiesen. Im Fels trug Reinhard Kletterpatschen mit Mancholefilz, ich Trieouni, Im Eis hatte ich Zwölfzacker, während Reinhard Tricouni-Schuhe benutzte. Die Führung hatte immer der zweckmäßigste Schuh. Erst zwei Tage später erfuhren wir, daß unsere Kameraden am 1. April den Gipfel erreicht hatten und 97 Stunden nach Abmarsch von Bartholomä in der Wirnbach-Griesalm eintrafen.

Zeitangaben:

Wiederroute

Kührointhaus 2.45 Uhr — Kar 5.30 Uhr — Wiederband 8.00 Uhr — Mittelgipfel 11.00 Uhr — Hocheck 1100 Uhr — Kührointhaus 16_00 Uhr.

 Ostwand :

Bartholomä 12.40 Uhr —Einstieg Eiskapelle 14.00 Uhr — Wasserfall 20.00 Uhr — Hakenbiwak 21,00 Uhr — Großer Quergang 8.00 Uhr — einzige Ras` 10.30 bis 11.30 Uhr — Gipfelschlucht 17.00 Uhr — Unterbrechungsstelle 20.00 Uhr –Schneebiwak 22.00 Uhr— Biwakausstieg zur Steilrinne 7.00 Uhr — Grat 9.00 Uhr — Südgipfel 9.30 Uhr — Mittelgipfel 12.30 Uhr — Hocheck 14.00 Uhr — Watzmannhaus 15 00 Uhr.

Gesamte Tur :

Bartholomä—Watzmannhaus 50 ½ Stunden, Berchtesgadener Weg : Eiskapelle—Südgipfel 43 ½  Stunden, reine Kletterzeit 21 ½  Stunden.

Werner Kohn.

Mit den beiden Erstersteigungen des Berchtesgadener Weges und des Münchener Weges im Winter durch Frankfurter Alpinisten war die Watzmann Ostwand völlig bezwungen. Aber doch noch ein neuer Durchstieg wurde jetzt, vor wenigen Wochen. von unseren Mitgliedern Werner Kohn und Fritz Krämer erzwungen: von der Eiskapelle aus in Falllinie zur Gipfelschlucht! Einen Bericht hierüber bringen wir im nächsten Blatt.

Ostwandchronik

Die einzelnen Erstbegehungen der Watzmann Ostwand auf den wesentlichen 5 Wegen.

Kederbacher Weg

Sommer Seilschaft

06.06.1881, Grill, Schück

Winter Seilschaft

06.12-08.12.1930, Beringer, Mitterer, Flatscher, Zankl

Sommer Alleingang

1905, ein Münchener

Winter Alleingang

25.12-26.12.1963, Rasp

Salzburger Weg

Sommer Seilschaft

08.09.1923, Feichtner, Feichtner, Reitmayr, Schifferer

Winter Seilschaft

08.01-10.01.1949, von Crailsheim, Freiberger, Hollerieth

Sommer Alleingang

Winter Alleingang

28.02-01.03.1953, Buhl

Münchener Weg

Sommer Seilschaft

Winter Seilschaft

28.03.-01.04.1949, Krämer, Krämer, Dorfmann

Sommer Alleingang

15.07.1929, Thiersch

Winter Alleingang

30.12.1965, Rasp

Berchtesgadener Weg

Sommer Seilschaft

28.09.1947, Aschauer, Schuster

Winter Seilschaft

29.03-31.03.1949, Kohn, Krämer, Dorfmann

Sommer Alleingang

Winter Alleingang

12.12-13.12.1952, von Kaufmann

Streckenrekord Sommer

11.10.2018, Reiter (112 Minuten)

Frankfurter Weg

Sommer Seilschaft

02.08.1949, Krämer, Kohn

Winter Seilschaft

Sommer Alleingang

Winter Alleingang

14.03.1969, Rasp

Walter Mittelholzer – Der Watzmann aus der Luft

Die von Mittelholzer fotografierten Einstellungen datieren aus dem Jahr 1933.

Watzmann Ostwand

Watzmann Ostwand

Der Hocheck (2651 m) ist der nördlichste Berggipfel des Grossen Watzmann

Kleiner Watzmann, Watzmannkar und grosser Watzmann

Kleiner Watzmann, Watzmann Ostwand, Hachelköpfe

Hachelköpfe, Ostwand, kleiner Watzmann

Quelle : ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Stiftung Luftbild Schweiz / Fotograf: Mittelholzer, Walter